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FRAGEN/177: Urlaub haben ist schön! Urlaub machen ist unmöglich? (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2012

Urlaub haben - schön!
Urlaub machen - unmöglich?

BAG SELBSTHILFE im Gespräch mit Klaus Brähmig MdB,
Vorsitzender des Tourismusausschusses im Bundestag



Urlaub machen alle Menschen gern. Chronisch kranke und behinderte Menschen können allerdings nicht so einfach mal verreisen. Denn es fehlt z.B. ein geprüfter Datenbestand von barrierefreien Unterkünften in Deutschland und die Angebote für Menschen mit Einschränkungen sind generell sehr begrenzt. Woran liegt es, dass das Tourismusgewerbe behinderte und chronisch kranke Menschen noch immer nur schleppend als Zielgruppe sieht? Und welche konkreten Projekte und Maßnahmen zur Umsetzung des Inklusionsgedankens in Bezug auf barrierefreies Reisen sind zukünftig seitens der Bundesregierung zu erwarten? Wir haben Herrn Klaus Brähmig, MdB, Vorsitzender des Tourismusausschusses im Bundestag, diese und weitere Fragen gestellt.

BAG SELBSTHILFE: Der Bereich Tourismus sichert hierzulande 2,8 Millionen Arbeitsplätze und fällt eindeutig in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsministeriums. Für das Thema Tourismus und Behinderung ist aber das BMG zuständig: Ist dieses Thema ein Sonderthema? Und wie ist diese Zuteilung zu erklären?

KLAUS BRÄHMIG: Welches Ministerium was bearbeitet liegt in der Organisationshoheit der Bundesregierung. Wir als Parlamentarier haben darauf keinen direkten Einfluss. Der Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages fühlt sich jedoch für das Thema Barrierefreiheit auf Reisen eindeutig zuständig und befasst sich seit vielen Jahren mit der Problematik. Unser Ausschuss ist ein Querschnittsausschuss, der sich auch mit touristischen Themen befasst, die den Zuständigkeitsbereich anderer Ausschüsse tangieren. So beschäftigt sich beispielsweise der Verkehrsausschuss auch mit Aspekten des Wassertourismus, aber unter dem Blickwinkel der Verkehrsinfrastruktur, die wiederum in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung fällt.

BAG SELBSTHILFE: Viele Behinderte bemängeln das Fehlen von geprüften und verlässlichen Daten zur Bestandserhebung von barrierefreien Unterkünften in Deutschland. Diese wären aber ausgesprochen wichtig, um gezielte Maßnahmen zu einer ggf. notwendigen Situation zu erreichen. Ist die Politik an solchen Daten interessiert? Wenn ja, ist sie auch bereit, etwaige Kosten für eine Bestandsaufnahme zu übernehmen?

KLAUS BRÄHMIG: Ich kann Ihr Anliegen in Bezug auf eine verbesserte Datenerhebung bei barrierefreien Unterkünften nachvollziehen. Bislang erfasst das Statistische Bundesamt zwar die Zahl der Übernachtungen, aber keine spezifischen Ausstattungsmerkmale.

Gleichwohl ist die Politik interessiert zu erfahren, wie es um die Qualität und den Umfang von barrierefreien Tourismuseinrichtungen in Deutschland bestellt ist. Dies bezieht sich nicht nur auf die Hotellerie, sondern schließt die Gastronomie sowie andere Einrichtungen der touristischen Infrastruktur, wie beispielsweise Museen und Theater ein.

Die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten haben beschlossen, dass alle drei Jahre die Zahl der Betriebe mit einem oder mehreren Zimmern für Personen mit eingeschränkter Mobilität erfasst werden. Das erste Bezugsjahr soll 2015 sein. Bis dahin werden einheitliche Kriterien erarbeitet, die dann im dem gesamten Gebiet der EU gelten sollen.

BAG SELBSTHILFE: Die UN-Behindertenrechtskonvention legt in Artikel 20 fest, dass behinderte Menschen uneingeschränkt reisen können sollen. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen, spricht davon, dass "die Bundesregierung die Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote (...) durch geeignete Projekte" fördern wird. Welche sind das? Sind Sie der Meinung, dass diese ausreichend sind, um das Ziel der Inklusion zu erreichen?

KLAUS BRÄHMIG: Am 1. November 2011 startete z.B. das mit 500.000 Euro vom Wirtschaftsministerium geförderte Projekt "Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland". Das Deutsche Seminar für Tourismus (DSFT) Berlin e. V. führt das Projekt in Kooperation mit der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle (NatKo) durch.

Im Rahmen des Projektes wird eine einheitliche Kennzeichnung für barrierefreie Produkte entlang der gesamten touristischen Servicekette erarbeitet. Ziel ist es, mehr Transparenz bei den Angeboten und Dienstleistungen im Tourismus zu erreichen. Darüber hinaus werden Schulungen z. B. für Reiseveranstalter, Gastronomen und Hoteliers, aber auch für Mitarbeiter von Kultur- und Freizeiteinrichtungen durchgeführt. Nach Abschluss des Projektes sind diese Leistungen im Internet abrufbar.

Ich glaube nicht, dass allein damit das Ziel der Inklusion zu erreichen ist, aber es ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Leben und somit auch am Tourismus setzt ebenfalls voraus, Barrieren im Kopf zu überwinden und Berührungsängste abzubauen. Hier gibt es noch viel zu tun.

Wir müssen in Zukunft ein gemeinsames Bewusstsein über bzw. für die Vielschichtigkeit von Barrierefreiheit im Tourismus finden. So glauben beispielsweise zu viele Architekten und Planer leider immer noch, dass das, was DIN und Bauvorschriften hergeben, tatsächlich der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen umfassend gerecht wird. Das ist allzu oft ein Trugschluss und führt bei allen Akteuren, ob Tourist oder Touristiker, häufig zu Frustration und Fehlinvestitionen.

BAG SELBSTHILFE: Wie stellen Sie sich konkret Projekte und Maßnahmen zur Umsetzung des Inklusionsgedankens in Bezug auf barrierefreies Reisen vor? Wo setzen Sie zukünftig Ihre Schwerpunkte?

KLAUS BRÄHMIG: Für mich liegt der Schlüssel zum Erfolg eines barrierefreien Tourismus im miteinander Reden und aufeinander Zugehen, um zu verstehen, welche Probleme es zu lösen gilt. Auch deshalb achte ich in meiner Funktion als Vorsitzender des Tourismusausschusses stets sehr darauf, dass wir bei Expertenanhörungen auch Vertreter der Behindertenverbände anhören, um uns ein umfassendes Bild machen zu können.

Im Herbst des vergangenen Jahres hatten wir beispielsweise das Thema Freizeitparks auf der Agenda, bei dem wir neben Branchenvertretern auch die NatKo mit ins Boot geholt haben. Außerdem spielt das Thema Barrierefreiheit für den Ausschuss natürlich immer eine wichtige Rolle, wenn es um die Deutsche Bahn geht, wie z.B. im Gespräch mit Bahnchef Rüdiger Grube im Frühsommer 2011. Da ist auch von Vorteil, wenn meine Kollegen ihre konkreten Erfahrungen aus dem Wahlkreis oder auch als selbst Betroffene mit in die Diskussion einbringen können. Beim Thema barrierefreier Tourismus werden wir nur Fortschritte erreichen, wenn wir sensibilisieren und Konflikte beseitigen bzw. vermeiden. Toleranz, Offenheit, Pragmatismus und Kreativität sind dabei von allen Seiten gefordert. Wir müssen erreichen, dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr am Rand der Gesellschaft stehen und falsches Mitleid ernten. Inklusion und Integration im Tourismus setzen für mich dort an, wo wir Mittel und Wege finden, um Menschen gleicher Interessenlage zusammenbringen zu können. Das heißt bspw. Familien mit anderen Familien, Naturfreunde mit anderen Naturfreunden und Feinschmecker mit anderen Feinschmeckern etc. - ungeachtet dessen, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie groß Solidarität und Zusammenhalt zwischen Menschen mit gleichen Interessen werden, die ihre Erfahrungen austauschen können. Meines Erachtens hat ein gutes barrierefreies Tourismusangebot vor allem auch ein hohes sozial-psychologisches Moment, wenn behinderte Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit erfahren und nicht behinderte Menschen das Gleiche spüren. Jeder ist verschieden und trotzdem gehören alle auf gewisse Art zusammen und können im Prinzip die gleichen Freuden und Träume teilen, ob groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt, super clever oder etwas langsamer, ob gehörlos, blind, im Rollstuhl oder was auch immer.

BAG SELBSTHILFE: Tourismus für alle! - Ist diese Botschaft Ihrer Meinung nach bei den Unternehmen angekommen?

KLAUS BRÄHMIG: Nein, leider nicht. Urlaub und Reisen sind für Menschen mit Behinderungen wichtige Faktoren für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daher verfolgen alle Fraktionen des Ausschusses für Tourismus das Ziel, die Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Deutschland-Tourismus zu machen. In diesem Sinne engagieren sie sich seit vielen Jahren durch Anträge, öffentliche Anhörungen, Anfragen an die Bundesregierung, im Gespräch mit den Akteuren und Verbänden der Tourismuswirtschaft und der Betroffenen in diesem Bereich.

Wir werden auch in Zukunft nicht aufhören, in der Branche für Barrierefreiheit zu werben. Die besten Argumente für Unentschlossene sind meiner Meinung nach gelungene Beispiele. So engagiert sich die Arbeitsgemeinschaft "Barrierefreie Reiseziele in Deutschland" in der Entwicklung des barrierefreien Tourismus. In ihr haben sich sieben Städte und Tourismusregionen zusammengefunden und der Erfolg gibt ihnen Recht. Meine Heimatregion, die Sächsische Schweiz, ist als Modellregion mit dabei.

BAG SELBSTHILFE: Ist beabsichtigt, zukünftig Anreize für Tourismusunternehmen zu schaffen, um diese zu motivieren, sich auf dem Gebiet des barrierefreien Reisens zu engagieren?

KLAUS BRÄHMIG: Ich bin kein Freund von staatlichen Anreizsystemen. Es kann nicht dauerhaft Aufgabe der Politik sein, privatwirtschaftliches Handeln durch Steuergelder zu subventionieren. Ich halte mehr von Information und Aufklärung. Ich bin mir sicher, dass die Tourismuswirtschaft in gar nicht all zu ferner Zukunft verstärkt entsprechende Angebote entwickeln wird, einfach auch deshalb, weil Menschen mit Behinderungen eine wachsende Zielgruppe sind.

Wer sich im Deutschland-Tourismus dauerhaft positionieren will, kommt nicht am demographischen Wandel und der verstärkten Internationalisierung der Märkte vorbei. Der Anbieter muss sich den physischen und psychischen Fähigkeiten seiner Kundschaft in Qualität und Leistung anpassen und geeignete Partner beispielsweise im Gesundheitssektor suchen. Auf diesem Kooperationsgebiet ist die Bundesregierung zur Zeit sehr aktiv, ebenso wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Privatleute und Unternehmer bei der barrierefreien Gebäudesanierung mit zinsgünstigen Krediten unterstützt.

Für mich besteht die Hauptaufgabe der Politik darin, Mittel und Wege aufzuzeigen, damit gelungene Konzepte eines "Tourismus für Alle" in der Praxis Umsetzung und zahlreiche Nachahmer finden. Hierzu zählt insbesondere auch, auf Hemmnisse durch konkurrierende Interessenlagen wie dem Denkmalschutz einzuwirken oder auch den Tourismusunternehmen durch die jeweiligen Ministerien geeignete Handreichungen, Leitfäden und Planungshilfen mit Best-Practice-Beispielen bereitstellen zu können. Daneben gilt es, verschiedene Kooperationsfelder zwischen unterschiedlichen Akteuren aufzuzeigen und zu forcieren. Hierzu zählen etwa Busreiseunternehmen, Tourismusregionen und Leistungsträger auf der einen Seite sowie Kirchen und Vereine auf der anderen Seite, um beispielsweise den Gruppenreisegedanken als Inklusionsträger im Deutschlandtourismus weiter vorantreiben zu können.

Herr Brähmig,
vielen Dank für das Gespräch.


TEXT | BURGA TORGES

*

Quelle:
Selbsthilfe 1/2012, S. 23-25
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2012