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KULTUR/130: Buchkritik - Schöngeist hadert mit seinem Schicksal (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4 - Dezember 2009

Schöngeist hadert mit seinem Schicksal

Von Peer Brocke


"Wenn man über behinderte Kinder spricht, macht man meist ein betretenes Gesicht. Wenigstens dieses eine Mal möchte ich versuchen, mit einem Lächeln über euch zu reden. Ihr habt mich oft zum Lachen gebracht - nicht immer unabsichtlich." So steht es auf dem Titel des Buches "Wo fahren wir hin, Papa?" Das klingt vielversprechend. In Frankreich wurde das Buch des Humoristen Jean-Louis Fournier zum Bestseller und mit dem Prix Femina ausgezeichnet. Auch das klingt verlockend. Doch bei der Lektüre der jetzt im dtv-Verlag erschienenen Übersetzung bleibt mir die Spucke weg. Das Buch trieft vor Selbstmitleid, Selbstverliebtheit und Spott. Entweder haben die Franzosen einen seltsamen Humor, oder ich bin einfach zu engstirnig, um diese Art Wortwitz lustig zu finden.

Jean-Louis Fournier (Jahrgang 1938) ist ein Schöngeist, ein Intellektueller. Ausgerechnet er bekommt zwei geistig und mehrfach behinderte Söhne - nacheinander: Mathieu und Thomas. Der Traum vom Stammhalter, mit dem der stolze Vater "Tim und Struppi" liest, Bach hört, auf Berge steigt und Volleyball spielt, ist gleich doppelt geplatzt. Das ist - wenn man es gut meint mit dem Autor - zu viel für einen Träumer. Jean-Louis Fournier flüchtet sich in Sarkasmus und hadert auf 156 Seiten mit seinem Schicksal. Denn Kinder sind für ihn wie ein schickes Auto, für das der Besitzer von allen bewundert werden möchte.

Fournier will mit seiner schonungslosen Ehrlichkeit schockieren, vor allem die Gutmenschen. Soll man ihn dafür schätzen? Eine Kostprobe: "Zu seiner Geburt hat Thomas ein hübsches Geschenk bekommen, einen Becher, einen Teller und ein silbernes Löffelchen für den Brei ... Es war das Geschenk seines Patenonkels, der Generaldirektor einer Bank und einer unser engsten Freunde war. Als Thomas älter wurde und seine Behinderung zutage trat, bekam er nie wieder ein Geschenk von seinem Patenonkel ... Den Teller habe ich aufbewahrt, ich benutze ihn als Aschenbecher. Thomas und Mathieu rauchen nicht, wie auch, sie stehen mehr auf Drogen. Wir geben ihnen jeden Tag Beruhigungsmittel, damit sie Ruhe geben."

Da atmet man schon tief durch. Aber geradezu unerträglich sind die zahlreichen Todesphantasien des Autors: "Einen Moment lang habe ich sie mir mit Bart vorgestellt. Schließlich habe ich mir gesagt, wenn sie groß sind, schenke ich jedem von ihnen ein großes Rasiermesser. Dann sperren wir sie ins Badezimmer und lassen sie mit dem Rasiermesser allein zurechtkommen. Und wenn wir nichts mehr hören, gehen wir hinein und wischen das Bad. Das habe ich meiner Frau erzählt, um sie zum Lachen zu bringen." Die Mutter von Mathieu und Thomas hat sich von Jean-Louis Fournier scheiden lassen.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4/2009, 30. Jg., Dezember 2009, S. 13
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2009