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KULTUR/150: Blaumeiers Süße Frauen (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2013

Blaumeiers Süße Frauen
Mit Parkuhr und Pralinen

Von Kerstin Hellwig



"Schokolade, Pralinen, was Süßes - Wer will?" Das ist der einladende Auftakt für Blaumeiers Süße Frauen. Mit Tabletts voller Pralinen steuern die äußerst kommunikativen ServiererInnen auf die ZuschauerInnen zu, die unversehens selbst zu AkteurInnen werden. Da wird so mancher Tagungsbesucher charmant aber bestimmt aufgefordert, erst einmal Ballettübungen zu absolvieren, da sagen Manager ein Gedicht auf und Politiker geben ein Lied zum Besten. Die süße Belohnung soll schließlich gewichtsneutral genossen werden. Da lassen die Damen auch keinem, der Rang und Namen hat, etwas durchgehen. Auf Empfängen begrüßen sie die ankommenden Gäste und entfernen auch schon mal die letzten Fusseln auf der festlichen Garderobe. Denn sie legen penibel Wert auf ein gepflegtes Äußeres: stets ganz in pink und äußerst blond unter dem gestärkten Spitzenhäubchen und der adretten Servierschürze sind sie selbst immer korrekt gekleidet.


Kesse Politessen

Das ist für die Süßen Frauen auch dann oberstes Gebot, wenn sie sich mit Besen und Staubwedel in patente Zimmermädchen verwandeln. Sie sind nicht gerade zimperlich, wenn sie das Publikum um tatkräftige Unterstützung beim Wäscheleine-Halten oder beim Falten von Betttüchern bitten. Die Hilfsbereitschaft wird schließlich auch belohnt: mit einer entspannenden Schultermassage oder mit vielen guten aber etwas schrägen Ratschlägen und nützlichen Lebensweisheiten. Seit Neuestem haben die Süßen Frauen einen weiteren Walk-Act im Programm: die kessen Politessen. Auf ihren City-Rollern nehmen sie blitzschnell die Verfolgung ominöser Subjekte auf und da reicht auch schon ein amüsierter Blick, um den Verdacht auf sich zu lenken und sich Ermahnungen hinsichtlich Lebensführung und Straßenverkehrsverhalten einzuhandeln. Aber keine Sorge: die Politessen drücken schon mal versöhnlich ein Auge zu und lassen fünfe gerade sein.


Hier gibt es "verrückt-normale" und "normal-verrückte" Menschen

Ob auf Festivals, Tagungen oder Empfängen - Blaumeiers Süße Frauen mit ihren Walk-Acts sind die mobilste Truppe des Bremer Blaumeier Ateliers aber nicht die einzige, die in vielen bundesdeutschen Städten unterwegs ist: Im Blaumeier-Atelier gibt es verschiedenste Gruppen, die mit ihren Projekten an die Öffentlichkeit gehen. Hier entstehen große Kunstausstellungen, eindrucksvolle Theater- und Maskenspektakel, gewitzte Chorkonzerte und Walkacts der Masken und der besagten Süßen Frauen. Auch Literatur und Fotografie stehen auf der Besetzungsliste. Das besondere dabei ist, dass Blaumeier inklusiv künstlerisch arbeitet. Menschen mit und ohne Behinderung sowie "verrückt-normale und "normal-verrückte Menschen - wie es im Sprachgebrauch des Ateliers heißt - treffen sich allwöchentlich in ihrer Freizeit zu den künstlerischen Angeboten.

Sie alle schätzen das gleichberechtigte Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, das von gegenseitiger Wertschätzung und Inspiration getragen ist. Im Theaterbereich, zu dem auch die 14 Süßen Frauen zählen, sowie im Maskenbereich wird mit Improvisationen zu jeweiligen Themen gearbeitet. So entstehen Spielsequenzen und Figuren, deren einprägsamste Elemente aufgegriffen und ausgearbeitet werden. Nach und nach entwickeln sich Bühnencharaktere und Szenen. Bei Blaumeier richtet sich in allen Bereichen das Augenmerk immer auf die individuellen Stärken. Es geht darum, die vielfältigen persönlichen Fähigkeiten zu erkennen und zur Geltung zu bringen. Aus dieser künstlerischen Vielfalt entsteht eine schier grenzenlose Kreativität, die den Projekten des Blaumeier-Ateliers ihren einzigartigen Charme verleiht.


Spontaneität und Qualität sind gefragt

Die Anforderungen an den Einzelnen sind dabei hoch, denn die Ergebnisse, die der Öffentlichkeit präsentiert werden, müssen einem qualitativ hohen Anspruch genügen. Die Süßen Frauen reagieren mit ihren Walk-Acts spontan auf das Publikum und dürfen dabei nicht aus der Rolle fallen. Nicht nur das Timing und der Spannungsbogen bei den Bühnenproduktionen müssen stimmen, sondern auch Bühnenbild, Beleuchtung, Kostüme und Musik. Und das Bild in einer Ausstellung muss unter künstlerischen Gesichtspunkten von Interesse sein. Blaumeier zeigt seine Werke in "normalen" Galerien sowie auf "normalen" Bühnen und wird darüber öffentlich wahrgenommen und in hohem Maße anerkannt - die Veranstaltungen sind stark nachgefragt, denn Blaumeier ist nicht nur künstlerisch hochwertig, sondern auch unterhaltsam und politisch: durch seine Existenz und seine hohe Öffentlichkeit.

JedeR Einzelne erlebt in den wöchentlichen Angeboten, worauf es ankommt und steht in der Verantwortung für das Gelingen des gemeinsamen Projektes. Zuverlässigkeit und Konstanz sind dabei Voraussetzung und die Lust an der Sache, denn wer kommt, kommt freiwillig. Und es kommen viele. Wöchentlich malen und proben rund 250 Menschen im Atelier und täglich gibt es neue Anfragen. Aber auch von Seiten der Öffentlichkeit sind die Auftritte und Ausstellungen des Ateliers sehr begehrt. Durchschnittlich präsentiert sich Blaumeier mit über 50 Veranstaltungen pro Jahr.


Vom umgebauten Pferdestall zum Blaumeier-Atelier

Angefangen hat alles im Zuge der Auflösung der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg in den 80er Jahren - mit 30 TeilnehmerInnen wöchentlich. In einem selbst umgebauten Pferdestall in einem Hinterhof entstanden die ersten Projekte, mit denen Blaumeier an allen nur erdenklichen Orten - in Kirchen, auf Bahnhöfen, in Lagerhallen, Parks und auf Plätzen - an die Öffentlichkeit ging. Über die Jahre hat sich das Kunst- und Kulturprojekt zu einer erstaunlichen Größe entwickelt. Nachdem das Atelier längst vor künstlerischer Schaffenslust und großem Andrang aus allen Nähten zu plätzen drohte, konnten die Räumlichkeiten vor sechs Jahren erweitert werden. Das Atelier verfügt seither über einen Proben- und Theatersaal, über ein vergrößertes Malatelier mit einer Dunkelkammer, Lagerräumen für Requisiten und Kostüme sowie ein helles Café für die Mitwirkenden. Nun können auch Aufführungen für bis zu 100 ZuschauerInnen im eigenen Haus stattfinden. Der Ansatz, aus dem Atelier heraus zu treten und allerorten die Öffentlichkeit zu erreichen, besteht jedoch nach wie vor.


Köln - Südafrika und zurück

Von New York über Brüssel nach Moskau, von Köln bis Berlin - die Liste der Blaumeier-Reisestationen wird immer länger - nicht zuletzt dank der Süßen Frauen. Sie haben Blaumeiers Radius 2011 bis nach Südafrika erweitert und in Kooperation mit einer inklusiven Gruppe in Durban einen Walk-Act erarbeitet. Mit Hochzeitskleid und Brautschmuck, Frack und Zylinder sind die Brautleute beim Stadtfest aufgetreten. Da griff eine weißgekleidete Braut schon mal zu Schrubber und Eimer, um den Weg zum Bräutigam sauber nehmen zu können oder wagte kurz vor dem JA-Wort noch einen kleinen Flirt mit den Herren im Publikum. In diesem Frühjahr erwartet Blaumeier den Gegenbesuch der Delegation aus Durban. Blaumeier sei ein "Botschafter Bremens im In- und Ausland" äußerte die Europaabgeordnete Helga Trüpel nur zu Recht. Das Kunstprojekt ist aus Bremen nicht mehr wegzudenken und ist auch weit über die Stadtgrenzen hinaus anerkannt und gefragt. Bei den Einheitsfeierlichkeiten am 3. Oktober 2010 in Bremen war Blaumeier Teil des zentralen Festaktes, eine hohe Wertschätzung der künstlerisch-inklusiven Arbeit.


TEXT:
Kerstin Hellwig, Blaumeier-Atelier

KONTAKT:
Blaumeier-Atelier - Tel. 0421-395340
info@blaumeier.de - www.blaumeier.de

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Quelle:
Selbsthilfe 2/2013, S. 14-15
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2013