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MELDUNG/507: Nur ein Dutzend Bücher für blinde Kinder - zum Welttag des Buchs (Anderes Sehen e.V.)


Anderes Sehen e.V. - Pressemitteilung zum Welttag des Buchs am 23.4.2016

Für blinde Kinder gibt es nur ein Dutzend Bücher

Europa bremst Bildungszugang aus


8.000 neue Kinderbücher erscheinen in Deutschland im Jahr, jedes vierte ist ein Bilderbuch. Diese Welt bleibt blinden und stark sehbehinderten Kindern weitgehend verschlossen: "Kaum eine Hand voll fühlbar illustrierter Kinderbücher erscheint jährlich", stellt Ellen Schweizer vom gemeinnützigen Verein "Anderes Sehen" fest. Der Wunsch eines Kindes nach einem bestimmten Buch oder Thema ist damit unerfüllbar. Zusammen mit einem französischen Verlag hat die Organisation eine taktil illustrierte Buchreihe für junge Leser begonnen, die inzwischen neun Bände umfasst. "Eine Geschichte mit den Fingern erfühlen zu können, ist für alle Kinder schön und entwicklungsfördernd", erläutert Diplomdesignerin Schweizer den Ansatz inklusiver Bücher. Gleichzeitig behindert die rechtliche Lage den Fortschritt: In Brüssel kommt die Freigabe der Nutzungsrechte für blinde Kinder seit Jahren nicht voran.

Geschichten zum Anfassen

Taktil illustrierte Bücher werden bis heute meist in Bastelarbeit von Eltern oder Blindeneinrichtungen hergestellt. Eine Ausnahme ist der gemeinnützige französische Verlag "Les Doigts Qui Rêvent", der inzwischen 150 Titel produziert hat. In Zusammenarbeit mit "Anderes Sehen" entstanden auch die neun deutschsprachigen Ausgaben. Jede Buchseite enthält fühlbare Illustrationen. Schrift und Punktschrift (Braille) stehen direkt beieinander. Das macht die Bücher für das Vorlesen ebenso geeignet wie zum Erlernen der Punktschrift für blinde Kinder und ihre sehenden Eltern. "Geschichten zum Anfassen werden zu Erlebnissen, die für alle Kinder attraktiver sind - unterschiedliche Materialien laden zum Erkunden ein", beschreibt Ellen Schweizer von "Anderes Sehen" das Prinzip der Buchreihe. Knirschender Schnee oder eine Sumpfdurchquerung wird mit den Fingern durch spezielle Oberflächen und Füllungen erlebbar, auch akustisch. Durch den hohen manuellen Fertigungsaufwand entstehen Kosten von 100 bis 200 Euro pro Buch. "Niedrigere Verkaufspreise schaffen wir nur durch Förderungen etwa von Stiftungen, die aber rar sind", erklärt die Berlinerin die Mühen der Finanzierung. Bücher der Edition sind in pädagogischen Fachblättern gelobt und mehrfach ausgezeichnet worden, mit Preisen wie "Inclusive Design 2015" oder dem "Bologna Ragazzi" Buchpreis 2016. Auch Kinderbuchklassiker wie die "Raupe Nimmersatt" in taktiler Fassung sind im Programm. Doch nicht immer sind Autoren und Verlage kooperativ, schildert Ellen Schweizer einen Grund für die geringe Anzahl inklusiver Bücher auf dem Markt. Sie hofft auf die Politik.

Europas Uneinigkeit bremst Zugang zu Bildung und Kultur aus

Die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) verabschiedete im Juni 2013 den Marrakesch-Vertrag. Der Vertrag sieht vor, Werke auch ohne gesonderte Anfrage für Blinde in Brailleschrift oder Sehbehinderte in Großdruck übertragen zu können. Erst 16 der 83 Vertragsstaaten haben ratifiziert, 20 sind nötig für das Inkrafttreten. Wegen eines Streits um Zuständigkeiten zwischen EU-Kommission und sieben Mitgliedsstaaten, unter ihnen auch Deutschland, geht es in Europa und damit weltweit nicht mehr voran. Über 25 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen allein in Europa warten auf mehr zugängliche Publikationen.

Digitale Technologien und moderne Polymere

Neuerungen in der Drucktechnik können ebenfalls zu mehr und preisgünstigeren zugänglichen Publikationen beitragen. Mussten die Braille-Punkte bisher in extra starkes Papier geprägt werden, können sie heute als Lack oder Polymer in einem Druckgang aufgebracht werden. Veredelungstechniken wie Lacke und Kaschieren kombiniert mit Flockdruck und Prägung erweitern das Spektrum fühlbarer Elemente in Büchern - auch ohne manuelle Zusatzarbeit. "Bei inklusiven Büchern ist in jeder Hinsicht noch viel mehr möglich", betont die Spezialistin Ellen Schweizer von "Anderes Sehen" und wünscht sich "mehr Fingerspitzengefühl" bei allen Entscheidungsträgern in Politik und der Verlagsbranche.

Weitere Informationen:
http://www.anderes-sehen.de

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Quelle:
Anderes Sehen e.V.
Zionskirchstraße 73, 10119 Berlin
E-Mail: kontakt [at] anderes-sehen.de
Internet: http://www.anderes-sehen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2016

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