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MEDIEN/213: 50 Jahre DER RING - 1976, Aufbruch ins Computer-Zeitalter und "Abkürzeritis" (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - April 2011

50 Jahre DER RING 1961-2011

Aufbruch ins Computer-Zeitalter und "Abkürzeritis"

Von Gunnar Kreutner


Ob Wilfried Flachmann auf seinen nächtlichen Streifzügen durch die Ortschaft etwas gemerkt hat? Ist dem Betheler Nachtwächter oder seiner Schäferhündin "Bella von Onkelsee" bei ihren täglichen Kontrollgängen etwas von der schleichenden Bedrohung aufgefallen? Eine Seuche wütet im Jahr 1976 in Bethel - die "Abkürzeritis".


Anstaltsleiter Pastor Alex Funke warnt die RING-Leser in der Februar-Ausgabe 1976 vor der Gefahr - der Flut der Abkürzungen durch Viren wie das "vBA" oder das "BÄZ". "GTAL - wissen Sie, was das ist? Oder: FiBu, BTV?", fragt er in dem Mitteilungsblatt. Dem Virus auf die Spur kommt Alex Funke, wie er sagt, durch einen Rundbrief an alle Mitarbeiter. Dabei bemerkt er noch eine andere Gefahr, das "Martyrium" des Fachchinesisch. "In dem Rundbrief meldet sich eine Fachgruppe zu Wort und äußert Wünsche an Sterbliche, die nicht das gleiche Fachstudium hinter sich gebracht haben", bemerkt er spöttisch. Von "Klienten" sei dort die Rede und von "klientenorientiert". "Ich habe mich gefragt: Wo bei uns gibt es diese Sorte Zeitgenossen?"

Nachtwächter Wilfried Flachmann schlägt sich derweil mit anderen Problemen herum. Rücksichtslose Rowdies sind mit frisierten Mopeds in den Straßen unterwegs. Die Gegend um den Bethelplatz gehört meistens zu seinem Rundgang. Hier spielt sich ein großer Teil des Betheler "Nachtlebens" ab. Die Tiefgarage ist ein beliebter Aufenthaltsort für "Nichtsesshafte". Mutwillige Zerstörungen schreibt er allerdings eher den Jugendlichen zu, die sich spät abends mit ihren Mopeds auf dem Bethelplatz einfinden "und durch voll aufgedrehte Motoren ihre Jugendkraft beweisen wollen".

Lärmende Mopeds und junge Randalierer erhitzen immer wieder die Gemüter der Ortschaftsbewohner und Mitarbeitenden, und sie motivieren regelmäßig zu Leserbriefen im RING. Das dominierende Thema in der Berichterstattung von 1976 bis 1980 ist aber ungleich bedeutender und bringt nachhaltige Veränderungen für die v. Bodelschwinghschen Anstalten mit sich: die Übernahme der psychiatrischen Pflichtversorgung für Bielefeld. Viele Mitarbeitende befürchten, dass Bethel sich mit der geplanten Vollversorgung übernimmt. "Wir werden verpflichtet sein, jeden aufzunehmen, der kommt, ohne die Möglichkeit abzuweisen, und am Ende Zustände haben, die wir nicht mehr verantworten können", wird ein Beschäftigter im RING zitiert. "Wir haben keinen Platz und kein Personal mehr für unsere eigentliche Aufgabe: die Versorgung der Anfallskranken", meint ein anderer.

Im Januar 1978 sind die Vertragsverhandlungen weit fortgeschritten. Für Bethels Anstaltsleiter Pastor Alex Funke ist der richtige Zeitpunkt gekommen, seinen Standpunkt im RING darzulegen. Der Sozialstaat habe ein Recht darauf, Bethel zu bitten, "Aufgaben im Rahmen einer flächendeckenden Versorgung hilfebedürftiger Menschen" zu übernehmen. Das eigentliche Argument laute aber "gemeindenahe Psychiatrie". Mittlerweile habe sich die Einsicht durchgesetzt und bewährt, dass die Behandlung psychisch erkrankter Menschen möglichst dicht an ihrer persönlichen und vertrauten Umwelt geschehen sollte. "Nicht noch zusätzlich eine räumlich und zeitlich weitläufige Trennung von Familie, Arbeitsplatz und gewohnter Lebenswelt! Möglichst die bisherigen sozialen Kontakte nicht zerreißen", findet Alex Funke; ein heute vertraut klingender Ansatz mit Blick auf die zunehmende Ambulantisierung und Regionalisierung der Arbeit.

Nach der Übernahme der psychiatrischen Pflichtversorgung, zunächst für einen begrenzten Sektor im April 1979, kündigen die Vereinten Vorstände im Dezember 1980 die Vollversorgung des Stadtbezirks Bielefeld an - sobald die räumlichen Voraussetzungen dafür geschaffen sind. "In Bethel wird aber auf absehbare Zeit keine neue Psychiatrieklinik gebaut, sondern die notwendigen Klinikplätze werden durch ein Sanierungsprogramm geschaffen", schreibt Manfred Hellmann, damals Leiter der Pressestelle und verantwortlicher RING-Redakteur.

Die Zukunft wird Mitte und Ende der Siebzigerjahre auch an anderen Stellen in Bethel sichtbar gestaltet und eingeläutet. Dort, wo letzten Endes mit allen Mitarbeitenden "abgerechnet" wird, hat Heinrich Wilmking das Sagen. Der langjährige Leiter der Gehalts- und Lohnstelle im Bereich der v. Bodelschwinghschen Anstalten informiert nicht ohne Stolz über die Methoden der modernen Verdienstbescheinigung und Datenverarbeitung. Vorbei seien die altertümlichen Abrechnungsmethoden mit handschriftlichen Lohnstreifen. Stammblätter für die elektronische Datenverarbeitung sind das Non plus ultra und "kennzeichnen die Entwicklung vom Stehpult ins Computer-Zeitalter", wie DER RING anlässlich der 40-jährigen Bethel-Dienstzeit von Heinrich Wilmking schreibt.

Die Entwicklungen innerhalb der v. Bodelschwinghschen Anstalten werden auch in der DDR mit großem Interesse verfolgt. In Lobetal hat DER RING zwar keine Verbreitung, aber es wird eine beständige und enge Verbundenheit mit den "Bethelanern" in Westdeutschland gepflegt. Die Arzte auf beiden Seiten tauschen ihre medizinischen Erfahrungen aus. Umgekehrt wird im RING grundsätzlich und ausführlich das Jahresfest der Hoffnungstaler Anstalten dokumentiert, und Mitarbeitende berichten beeindruckt von ihren Besuchen im Osten. Es gibt reichlich symbolische Gesten sowohl in Bethel als auch in Lobetal. So wird im März 1977 berichtet, dass die "Planstraße 2003" zwischen dem Königsweg und dem Quellenhofweg "Hoffnungstaler Weg" genannt wird. Ein halbes Jahr später wird in Lobetal das Haus "Eben-Ezer" für anfallskranke Menschen eingeweiht - in Anlehnung an das gleichnamige und geschichtsträchtige Haus in der Ortschaft Bethel.

Anstaltsleiter Pastor Johannes Busch berichtet im September 1980 von den Feierlichkeiten zum 75-jährigen Jubiläum der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal. Er schreibt, "dass es zwischen den Menschen drüben und uns hüben eine Geschichte der Beziehungen gibt, und diese Geschichte fordert von uns wie auch von denen, die wir unsere Brüder und Schwestern nennen, einen Lernprozess". Wer nach Lobetal fahre, gerate in Gefahr, "Muttergefühle" zu entwickeln, "so als müsste man der 'Tochter' alles Mögliche zustecken, was ihr vermeintlich fehlt". Solche Gefühle verhinderten eine echte Partnerschaft, warnt der Nachfolger von Pastor Alex Funke.

Viele große Jubiläen fallen in die Jahre von 1976 bis 1980: 100 Jahre Posaunenmission, 150 Jahre Vereinigte Evangelische Mission, 100 Jahre Haus Siloah und 100 Jahre Diakonenanstalt Nazareth. Seinen Geburtstag feiert im Februar 1979 auch "Opa Broda". Nachdem feststeht, dass der Beckhof-Bewohner Stanislaw Broda mit 103 Jahren Bielefelds ältester Bürger ist, ist sein Geburtstag dem RING eine ganze Seite wert. Bielefelds Oberbürgermeister Klaus Schwickert nimmt an der Feier des gebürtigen Polen teil, der kein Wort Deutsch spricht oder versteht.

Im März 1980-Opa Broda ist wenige Wochen nach seinem 104. Geburtstag verstorben - besucht Bundespräsident Karl Carstens Bethel. Seine Visite stößt nicht nur auf Sympathien und sorgt nachhaltig für reichlich Diskussionsstoff. Carstens NSDAP-Mitgliedschaft erregt viele Gemüter. DER RING sieht sich veranlasst, zwei Monate später auf sechs Sonderseiten noch einmal gesammelte Leserbriefe, das Gesprächs-Protokoll einer "Mitarbeiter-Talkrunde" und einen Beitrag von Manfred Hellmann über den eigenen Bruder, der 1933 in die SA gezwungen wurde, zu veröffentlichen.

Zu den Höhepunkten der "Gastspiele" von Prominenten bis 1980 gehört allen voran der Besuch von Bundespräsident Walter Scheel, dazu kommen die Aufenthalte hochrangiger Würdenträger wie Südkoreas Gesundheitsminister Sung-Chul Hong oder der Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche, Ignatius Yacoub III. von Antiochien.

Bethels vielleicht bekanntester Ex-Zivildienstleistender ist im Januar 1977 zu Besuch. Es ist der heutige Trainer von Arminia Bielefeld, Ewald Lienen. Er leitet als Schiedsrichter ein Weihnachts-Hallenfußballturnier des SuS Bethel in Bielefeld-Gadderbaum. Ewald Lienen ist beeindruckt von der Leistung der Spieler: "Diese Jungen zeigen einen Mannschaftsgeist, den man in vielen anderen Teams suchen muss."


"Sein Blau ist mir über die Jahre zum Erkennungszeichen geworden. Lugt er im Nachrichtenstapel von Zeitungen und Zeitschriften auf meinem Schreibtisch hervor, ist er durch Farbe und Format unverwechselbar. Seit bald zwanzig Jahren begleitet mich der RING bei meiner journalistischen Arbeit in der evangelischen Publizistik. Ein vertrauter Weggefährte, auf den ich auch heute in Berlin beim bundesweit erscheinenden Monatsmagazin zeitzeichen nicht verzichten möchte.

Der RING ist ein Botschafter der größten diakonischen Einrichtung Europas. Drei Eigenschaften schätze ich an ihm besonders. Immer wieder gelingt es seinen Autorinnen und Autoren, die medizinische Forschung auf höchstem Niveau für alle Leser verständlich zu beschreiben. Zudem berichtet die Redaktion über das, was auf der sozialpolitischen Tagesordnung der Diakonie und ihrer Einrichtungen steht - eine wichtige Bereicherung für meinen redaktionellen Horizont. Und bemerkenswert sind auch die Berichte aus Arbeitsbereichen, die der Öffentlichkeit sonst verborgen bleiben - sie geben Anregungen für eigene Reportagen.

Kurz: Mein RING ist eine liebgewordene Pflichtlektüre. Gratulation den Blattmachern zur neuen frischen Farbigkeit und zum 50. Geburtstag."

- Kathrin Jütte -
(Redakteurin der zeitzeichen - Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft)


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Quelle:
DER RING, April 2011, S. 18-20
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Redaktion: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld
Telefon: 0521/144-35 12, Fax: 0521/144-22 74
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Internet: www.bethel.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2011