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MEDIZIN/168: Ganzheitliche Behandlung statt Schubladen-Medizin (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Dezember 2009

Ganzheitliche Behandlung statt Schubladen-Medizin
Medizinische Versorgung für behinderte Menschen

Von Robert Burg


Unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Bedürfnisse: Normalisierung und Inklusion sind Leitbilder, die auch die diakonische Arbeit der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel prägen. Dennoch werden weiterhin spezielle Angebote benötigt, um eine umfassende medizinische Versorgung für Menschen mit Behinderung garantieren zu können.


"Wir kümmern uns um Menschen, auf die die üblichen Ordnungsprinzipien nicht zutreffen", sagt Dr. Jörg Stockmann. Der Internist und sein Kollege Dr. Ulrich Pfaff sind die leitenden Oberärzte im Krankenhaus Mara, dem Zentrum für Behindertenmedizin in Bielefeld-Bethel. Hierher kommen vorwiegend Menschen, die aufgrund ihrer abweichenden Verhaltensweisen - nicht aufgrund ihrer Krankheit - in einer anderen Klinik nicht behandelt werden können. "Wir haben die Erfahrung und die Toleranz, um damit umzugehen", so Dr. Jörg Stockmann. "Aber wir haben auch speziell ausgebildete Mitarbeitende, die besondere Fragestellungen beantworten können."

In ihrer Größe ist die Klinik Mara mit ihren 80 Betten und 1.500 stationären Fällen pro Jahr in Deutschland einzigartig. Die Patienten kommen vor allem aus Bielefeld und Eckardtsheim, aber die überregionale Nachfrage nimmt zu. In Zusammenarbeit mit den Kliniken des Ev. Krankenhauses Bielefeld kann Mara nahezu sämtliche diagnostischen Verfahren anbieten; Kooperationen mit niedergelassenen Fachärzten, beispielsweise einem Zahnarzt, einem Orthopäden oder einer Hautärztin, vervollständigen das Behandlungsangebot der Bethel-Klinik. "Obwohl sie in der gleichen Zeit in ihren Praxen mehr verdienen könnten, kommen sie zu uns", sagt Dr. Ulrich Pfaff mit Anerkennung.


Besonderer Blick nötig

"Die Behindertenmedizin passt nicht zu typischen Denkschemata in der Medizin. Hier wird spezialisiert und kategorisiert, doch Menschen mit Behinderung müssen ganzheitlich behandelt werden", unterstreicht Dr. Ulrich Pfaff. So sei es Aufgabe der Ärzte in Mara, unentdeckte Probleme aufzuspüren. "Menschen mit Behinderung dulden viel. Deshalb müssen wir ganz genau hinschauen." Viele sind stark verunsichert, wenn sie in ein Krankenhaus kommen. "Deshalb spielt das psychosoziale Setting bei uns eine große Rolle", betont Dr. Stockmann. "Die Menschen haben hier weniger Angst, fühlen sich eher zu Hause als in einer anderen Klinik." Trotzdem seien oft mehrere Anläufe nötig, um eine Untersuchung erfolgreich abzuschließen.

Einer US-Studie zufolge sind zwei Drittel aller Menschen mit Behinderung auch von psychischen Problemen betroffen. Für Patienten mit einer solchen Doppeldiagnose wurde vor fast zehn Jahren ein Behandlungszentrum im Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin eingerichtet. "Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen bei geistig Behinderten sind zeitaufwändig", sagt Dr. Tatjana Voß, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. "Wenn geistig Behinderte keine oder keine verwertbaren Auskünfte über sich geben können, sind wir zunächst auf Fremdbeobachtungen angewiesen. Doch die können widersprüchliche oder emotional überlagerte sein." Auch sprechende Patienten seien meist nicht in der Lage, ihr "inneres Erleben" in Worte zu fassen.

Deshalb bietet die Einrichtung mit Musik-, Garten-, Aroma- und Kunsttherapie ein weites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten für Menschen, die in ihrer Kommunikation stark eingeschränkt sind. "In den Sitzungen verständigen wir uns über Bilder, Symbole oder Piktogramme", berichtet Dr. Voß. Das funktioniere gut. "Menschen mit Behinderung sind in der Regel ausgesprochen heilungswillig und dankbar, wenn sich jemand ihrer Probleme annimmt."

"Wir haben bereits einiges erreicht, um die derzeit mangelhafte gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung in Deutschland zu verbessern", sagt Prof. Dr. Michael Seidel, Geschäftsführer und leitender Arzt des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe. "Der dringende Handlungsbedarf ist mittlerweile wohl bei Ärzteschaft und Gesundheitspolitik angekommen. Aber letzt sind konkrete Regelungen erforderlich - geredet wurde mehr als genug." Die Regelversorgung müsse in der Lage sein, behinderte Menschen weitestgehend bedarfsgerecht zu versorgen. Hierbei komme den niedergelassenen Ärzten eine tragende Rolle zu. "Aber man kann nicht erwarten, dass jeder Mediziner alles kann." Daher sei zielgruppenspezifisches Fachwissen von Nöten, so der Betheler Arzt. Er setzt vor allem auf Fortbildungen, in denen konkrete Berufssituationen aufgegriffen werden. "In der akademischen Ausbildung sollen angehende Ärzte vor allem eine bestimmte Haltung entwickeln. In der berufsbegleitenden Fortbildung wird dann handlungsbezogenes Wissen vermittelt."


Ausgegrenzt

Ein gravierendes Problem sei es, dass behinderungsbedingter Mehraufwand nicht vergütet werde, kritisiert Prof. Dr. Michael Seidel. Daher sei es für einen niedergelassenen Arzt wirtschaftlich sinnvoll, eher Patienten zu behandeln, die besonders wenige Ressourcen binden. "Für Menschen mit Behinderung ist das ein Ausgrenzungsmechanismus", sagt Prof. Seidel. "Dieses Problem ist nicht mit moralischen Appellen zu lösen, schon gar nicht in der voranschreitenden Strukturkrise des ambulanten Gesundheitssystems." Hinzu kommen die für niedergelassene Arzte oft bedrohlichen Wirtschaftlichkeitsprüfungen. "Ein durchschnittlicher Patient braucht beim Zahnarzt zumeist keine Narkose, ein Patient mit schwerer geistiger Behinderung schon." Wenn nicht aufwandsgerecht vergütet werden kann, unterbleiben sowohl die Narkose als auch die Zahnbehandlung.

Aktuelle Tendenzen in der Gesundheitspolitik bewertet der Betheler Arzt mit Skepsis: "Eine Entwicklung hin zu noch mehr finanzieller Eigenleistung in der Gesundheitsversorgung wäre Gift für die Menschen mit Behinderung, die einerseits erhöhten Bedarf, andererseits besonders geringe wirtschaftliche Möglichkeiten haben." Gerade deshalb sei es notwendig, dass sich Bethel weiterhin gesundheitspolitisch engagiert: "Wir müssen viele, viele Klaviere spielen", betont Prof. Seidel auch mit Blick auf den 3. Dezember, den Internationalen Welttag der Behinderten, den die UNO 1992 ausgerufen hat.


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Quelle:
DER RING, Dezember 2009, S. 8-9
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2009