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MEDIZIN/174: Kritik am Patientenverfügungsgesetz - Unsicherheiten in der Umsetzung (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - April 2010

Bethel kritisiert das Patientenverfügungsgesetz
Weiterhin Unsicherheiten in der Umsetzung

Von Silja Harrsen


"Endlich gibt es mehr Rechtsklarheit im Umgang mit Patientenverfügungen", jubelte das Bundesjustizministerium im vergangenen Jahr. Nach jahrelangem Ringen um Positionen war es endlich gelungen, einen Konsens zu finden. Ein gutes halbes Jahr nach Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes gibt es im Klinikalltag aber immer noch Unklarheiten. Deshalb lud das klinische Ethikkomitee des Ev. Krankenhauses Bielefeld (EvKB) die Mitarbeiterschaft Anfang März zu Informationsveranstaltungen an den beiden Standorten Bethel und Johannesstift ein.


Wenn der Patient seinen Willen zu Fragen der medizinischen Behandlung schriftlich festlegt, müssen sich die Arzte und Pflegenden daran halten. Der Patientenwille gilt unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung - so steht es im Gesetz. "Damit habe ich ein Problem", bemerkte Prof. Dr. Michael Seidel, leitender Arzt im Stiftungsbereich Behindertenhilfe. In den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel sei man nicht der Auffassung, dass eine Patientenverfügung in jeder Lebensphase gelten solle, sondern ausschließlich bei einem irreversiblen tödlichen Grundleiden und wenn der Tod in naher Zeit bevorstehe. "Sonst rücken wir gefährlich nah an die Befürworter des assistierten Suizids", warnt der Mediziner.

Weder für die Patienten noch für die Behandelnden sei durch das neue Patientenverfügungsgesetz mehr Klarheit erreicht worden, kritisierte auch Dr. Michael Rauch, Oberarzt der Klinik für Neurologie in Bethel "Wir machen die Erfahrung, dass viele Patienten mit dem Ausfüllen der Formulare überfordert sind. Sie verstehen die medizinischen Zusammenhänge nicht oder können die Reichweite ihrer Verfügung nicht absehen." Beispielsweise habe ein langjähriger Dialysepatient angekreuzt, dass er auf gar keinen Fall an die künstliche Niere angeschlossen werden wolle. Und in einer anderen Patientenverfügung fanden die Ärzte Aussagen, die sich widersprachen. "Der Betroffene wollte im Akutfall reanimiert werden, lehnte aber eine künstliche Beatmung ab. Was er nicht weiß: Bei einer Wiederbelebung muss immer künstlich beatmet werden", sagte Dr. Rauch. Solche Verfügungen seien für die Arzte ganz schwer zu interpretieren.


Ausnahme-Zustand

Gibt es Zweifel am Willen des Patienten und ist er nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sprechen, wird der Betreuer oder die Betreuerin zu Rate gezogen. Diese Aufgabe übernimmt in der Regel ein Familienmitglied, das eine Vorsorgevollmacht hat. Es soll die Rolle des Sachverständigen übernehmen, der im Sinne des Patienten spricht. "Wenn jemand in der Familie lebensbedrohlich erkrankt ist, befinden sich die Angehörigen im Ausnahmezustand. Trotzdem sollen sie die Patientenverfügung interpretieren und unter Umständen etwas entscheiden, hinter dem sie aus religiösen oder anderen Gründen gar nicht stehen", so Dr. Michael Rauch.

Dass die Angehörigen mit der Rolle als Betreuer überfordert sind, erleben die Ärztinnen, Ärzte und Pflegenden im EvKB immer wieder. Um sie zu entlasten, wird ihnen ein Ethikgespräch angeboten. "Im Gespräch mit Ärzten, Seelsorgern und Ethikern sind sie lediglich das Sprachrohr des erkrankten Familienmitglieds. So brauchen sie nichts zu entscheiden, denn das hat der Patient mit seiner Patientenverfügung bereits getan", erläuterte Dr. Klaus Kobert, klinischer Ethiker im EvKB.

Liegt keine schriftliche Patientenverfügung vor, gilt der mutmaßliche Wille. Der basiert auf Hinweisen und Meinungen, die der Betroffene gegenüber anderen Menschen für den Fall geäußert hat, dass er einmal schwer erkrankt und nicht mehr für sich sprechen kann. Laut Gesetz sind es wieder die Betreuer, die den mutmaßlichen Willen der Patienten festzustellen haben. "Dem Missbrauch wird Tür und Tor geöffnet. Wenn die Behandlung richtig teuer wird und das Eigenheim auf dem Spiel steht, könnten die Entscheidungen durchaus eigennützig sein", beanstandete Prof. Seidel die Lücken im Gesetz. Nach seiner Auffassung sollte ein unabhängiges Konsilium zusammen mit den Angehörigen über die Durchführung oder Unterlassung von lebenserhaltenden Maßnahmen entscheiden.

In der Onkologie und Palliativmedizin im EvKB machen auffallend wenig Patienten Gebrauch von der Möglichkeit einer Patientenverfügung. "Krebspatienten werden aber für längere Zeit von denselben Menschen intensiv betreut. Die Nähe und die häufigen Gespräche ermöglichen es dem Behandlungsteam, den Willen und die Wünsche des Patienten gemeinsam mit den Angehörigen zu erörtern", sagte Privatdozent Dr. Florian Weißinger, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Hämatologie-Onkologie und Palliativmedizin im Johannesstift. Wenn sich der Zustand des Patienten verschlechtert, ist den Zuständigen meist klar, wie der Patient mit der Situation umgehen möchte.

"Auch wenn es so klingen mag, als ob die Patientenverfügung in der Onkologie und Palliativmedizin keine entscheidende Rolle spielt, ist sie trotzdem hilfreich", betonte Dr. Weißinger. Und damit unterstreicht er die Bethel-Position, dass die Patientenverfügung ein außerordentlich wichtiges Instrument und ernst zu nehmen sei. Aber: In vielen Punkten gibt es noch Nachbesserungsbedarf im Gesetz. Die palliativmedizinische und hospizliche Versorgung finden überhaupt keine Erwähnung - so die Kritik. Als diakonische Einrichtung mit einem christlich geprägten Menschenbild ist den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel aber genau das wichtig: ein Sterben in Würde mitten in unserer Gesellschaft.


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Quelle:
DER RING, April 2010, S. 18-19
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010