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POLITIK/504: Teilhabe am Erwerbsleben in den Mittelpunkt stellen (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 8 vom 25. Februar 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Teilhabe am Erwerbsleben in den Mittelpunkt stellen
Überlegungen zu einer fortschrittliche Behindertenpolitik

Von Wolfgang Trunk


Wenn von "den Behinderten" gesprochen wird, dann ist die Gefahr einer unzulässigen Pauschalierung groß. Die Unterschiede bei den Lebenslagen und Interessen der behinderten Bürgerinnen und Bürger sind erheblich. Deshalb müssen sich allgemeine Forderungen für Behinderte auf das Wesentliche konzentrieren, etwa auf das Prinzip der sozialen Teilhabe als Bedingung für die Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Eine linke Behindertenpolitik kann Erfolg haben, wenn sie an den konkreten Bedürfnissen der behinderten Menschen ansetzt. Sie sollte aufzeigen, welche spezifischen Maßnahmen jeweils geboten wären, um die Lebensqualität zu verbessern.

In Deutschland besteht die Masse der Behinderten aus Personen, die im höheren Erwerbsalter eine Behinderung erworben haben, und zwar auf Grund einer arbeitsbedingten Erkrankung. Wenn man das Thema "Behinderung" anschneidet, dann wird man sogleich auf das Zentrum der Gesellschaft verwiesen, auf die Arbeitswelt. Das ist gut, denn die berufliche Teilhabe einer erwachsenen Person ist der Hebel für ihre soziale Integration und die Grundlage für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Im Unterschied zu bloßer Beschäftigung bedeutet Arbeit, dass ich mit meinem Tun eine Bedeutung für Andere gewinne. Das drückt sich nicht nur im Lohn aus, sondern auch in meiner Beziehung zur Arbeitstätigkeit als solcher. Arbeit kann hier ein Medium der Identifikation und der Sinnstiftung sein. Wer dagegen ohne Arbeit leben muss, der wird häufig feststellen, dass er nicht nur sein Selbstwertgefühl verliert, sondern auch die Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags. Darüber hinaus kommen regelmäßig psychosomatische Störungen auf; schließlich können arbeitslose Menschen auch ihre Disposition zur Arbeit und zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen verlieren.

Stellt man die Teilhabe am Erwerbsleben in den Mittelpunkt der Behindertenpolitik, dann gewinnt man ein Kriterium, um wichtigere Maßnahmen von weniger wichtigen zu unterscheiden. Ein weiterer Vorteil eines arbeitszentrierten Herangehens ist darin zu sehen, dass man einen Blick für die Bedingungen erwirbt, unter denen man handelt. Dazu gehört vor allem der Umstand, dass der Produktionsbereich die Basis der Gesellschaft darstellt; er strukturiert die gesellschaftlichen Beziehungen und bestimmt letztlich ihre Inhalte. Behindertenpolitische Initiativen richten sich aber oft auf Verhältnisse außerhalb der Arbeitswelt, das heißt auf Gegebenheiten des Reproduktionsbereichs. Das gilt etwa für die Frage, welche Schulen sinnesbehinderte Kinder besuchen sollen, und wie diese Schulen beschaffen sein müssten. Es gilt auch für Fragen der Infrastruktur, etwa für die rollstuhlgerechte Gestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs. Der Fortschritt in solchen abgeleiteten Handlungsfeldern setzt einen Fortschritt im zentralen Bereich der beruflichen Teilhabe voraus. Da die Gesellschaft ein System darstellt, muss man die Behindertenpolitik systematisch anlegen. Vor allem ist festzustellen, dass separate Kämpfe auch auf dem Feld der Behindertenpolitik nicht weiterführen; deshalb müssen punktuelle Bewegungen in ein übergeordnetes Konzept eingebunden werden. Das ist eine genuine Aufgabe für die Linkskräfte; durch ihr Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft und ihre strategische Kompetenz sind sie in der Lage, unterschiedliche Interessen zu gewichten und zu bündeln.

Die Fortschrittlichkeit einer politischen Konzeption erweist sich unter den gegebenen Verhältnissen darin, dass ihre Umsetzung nur in einer Konfrontation mit der herrschenden Politik möglich ist. Dieser Befund schließt ideologische Positionen ein. Derzeit ist zu beobachten, dass sich auch linke Kräfte von den behindertenpolitischen Positionen einfangen lassen, die von bürgerlicher Seite vorgetragen werden; als Instrument der Desorientierung dient hier die Behinderten-Konvention der UNO, die den Aspekt der rechtlichen Gleichheit verabsolutiert und wesentliche gesellschaftliche Zusammenhänge ignoriert (siehe UZ vom 5. 3. 2010). Linke Behindertenpolitik büßt ihre Wirksamkeit ein, wenn sie auf den Gleichklang in der offiziellen, behindertenfreundlichen Rhetorik setzt, verbunden mit der Vorstellung, man müsse sich in einem Wettbewerb als diejenige politische Kraft profilieren, die am konsequentesten die herrschenden Gedanken vertritt. Gefragt ist nicht der geistige Konsens mit der großen Koalition der staatstragenden Parteien, sondern die Eindeutigkeit einer Alternative.

Die Unterschiede zwischen einer bürgerlichen und einer linken Politik werden verdeutlicht, wenn die Linkskräfte eigenständige Positionen entwickeln, die von der sozialen Realität abgeleitet sind. Sie sollten sich nicht auf Konventionen stützen, sondern auf Ergebnisse der fortschrittlichen Wissenschaft. Vordringliche Handlungsbedarfe der Behindertenpolitik ergeben sich überwiegend aus der Notwendigkeit der Entwertung der Arbeitskraft entgegenzutreten, die eine Tendenz in der Erwerbsbiographie darstellt.

• Durch betriebliche Maßnahmen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes in der Arbeitswelt müssen alle abhängig Beschäftigten davor geschützt werden, dass sie sich im Laufe ihres Arbeitslebens eine Behinderung zuziehen; die betrieblichen Interessenvertretungen und die Gewerkschaften müssen darauf hinwirken, dass schädliche Arbeitsbelastungen abgebaut werden, die zu chronisch-degenerativen Krankheiten führen.

• Durch betriebliche Maßnahmen der Beschäftigungssicherung müssen die etwa 900 000 behinderten Beschäftigten davor geschützt werden, dass sie ihr Arbeitsverhältnis vorzeitig verlieren; die Maßnahmen sollten einsetzen, sobald ein Gesundheitsschaden eingetreten ist, der irreversibel ist, und der mit Einsatzeinschränkungen oder Leistungseinschränkungen einhergeht.

• Durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen muss gewährleistet werden, dass arbeitslose Behinderte eingegliedert werden; dabei ist zu beachten, dass ein großer Teil der etwa 180 000 Arbeitslosen nur noch formell arbeitslos ist und faktisch dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht.

• Durch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen müssen Beschäftigungsmöglichkeiten auch für jene Behinderten geschaffen werden, die an einem Zuverdienst interessiert sind; das betrifft vor allem die etwa 2,5 Millionen Menschen, die vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausgegliedert worden sind, die sich aber noch im erwerbsfähigen Alter befinden.

• Durch sozialpolitische Maßnahmen muss gewährleistet bleiben, dass die nicht-erwerbsfähigen Behinderten am Berufsleben teilhaben können; das betrifft vor allem die etwa 270 000 Mitarbeiter von Werkstätten, die dort die Bedingungen für ihre (Re-)Habilitation finden.

Dieses Programm ist ehrgeizig. Die Linkskräfte können sich damit als die Partei der Arbeit profilieren.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, Nr. 8 vom 25. Februar 2011, Seite 4
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2011