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PROJEKT/612: Klinik-Lotsen - "Anfangs wurde ich für einen Patienten gehalten" (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2 - Juni 2010

"Anfangs wurde ich für einen Patienten gehalten"


Das Krankenhaus in Jena ist sehr groß. Es ist schwer, das richtige Zimmer zu finden. Dabei helfen jetzt drei Menschen mit Behinderung. Sie sind eigentlich in einer Lebenshilfe-Werkstatt beschäftigt, arbeiten jetzt aber als Lotsen in der Klinik.


"Kann man helfen?", fragt Jens-Peter Hinrichs in seinem orangefarbenen Pullover ein älteres Ehepaar, das vor der Rezeption der Universitätsklinik Jena stehen geblieben ist. Hinrichs erklärt ihnen, wie sie zur Handchirurgie kommen und geht zurück zum Eingang. Er ist einer von insgesamt drei Menschen mit Behinderung, die als Lotsen Patienten, Besuchern und gelegentlich auch Angestellten den richtigen Weg durch das Krankenhaus erklären.

"Am liebsten kümmere ich mich um Patienten, die fix und fertig sind, weil sie den Weg nicht finden. Wenn ich sie dann begleite, sind sie oft sehr dankbar, und ich merke, dass ich gebraucht werde", sagt Hinrichs. Er und seine beiden Kollegen Mike Wild und René Wolf sind Beschäftigte der Lebenshilfe-Werkstatt in Jena. "Man erkennt schon an der Gestik, wenn jemand den Weg nicht weiß. Und bevor sich jemand zu oft im Kreis dreht, biete ich meine Hilfe an", sagt Wild. Siebeneinhalb Stunden sind die Lotsen täglich im Einsatz und inzwischen fester Bestandteil der Klinik.


Früher gab's nur Schilder

"Das Projekt läuft sehr erfolgreich. Ich bin wirklich stolz auf die Patienten-Lotsen", sagt Hartwig Gauder, der das Projekt initiiert hat und für das Gesundheitsmarketing des Krankenhauses zuständig ist. "Wer früher in die Klinik kam, hat nur lauter Hinweisschilder gefunden und konnte sich in der Hektik schnell verloren vorkommen", sagt Gauder. Das vor zwei Jahren gestartete Projekt ist wohl derzeit bundesweit einzigartig. "Meine Kollegen aus Detmold und Braunschweig haben schon angefragt, schließlich lässt sich das Konzept auch auf Stadtverwaltungen oder andere große Gebäude ausweiten", sagt Annelie Lohs, Geschäftsführerin des Saale-Betreuungswerkes der Lebenshilfe Jena. Die Organisation beschäftigt rund 300 Menschen mit Behinderung, wovon 15 außerhalb der Werkstatt arbeiten.

"Die Behinderten müssen sich wie auf dem normalen Arbeitsmarkt bewerben. Das Interesse für die Außenarbeitsplätze ist sehr groß", sagt Lohs. Neben der Uniklinik sind Angestellte der Jenaer Werkstatt unter anderem in der Universitätsbibliothek und für die Firma Kahla - Thüringen-Porzellan im Einsatz.


Pro Tag bis zu 15 Kilometer

Im Klinikum kommt zielstrebig ein Patient mit einem Gipsarm auf Jens-Peter Hinrichs zu und bittet ihn, den Reißverschluss seiner Jacke zu schließen. "Auch das gehört dazu", kommentiert sein Kollege Wolf und fährt mit seinem Rollstuhl auf einen weiteren fragend blickenden Besucher zu. "Anfangs wurde ich für einen Patienten gehalten, als ich jemanden zum richtigen Raum geführt habe. Da wurde ich direkt nach meiner Krankenkarte gefragt", so Wolf.

Pro Tag legen er und seine Kollegen nach eigener Schätzung bis zu 15 Kilometer im Krankenhaus zurück. Manchmal gehören kleinere Botendienste zu ihren Aufgaben, und auch längere Gespräche mit Patienten sind Teil ihrer Arbeit. Damit sich die Lotsen nicht selbst verlaufen, wurden sie von einem Trainer geschult und haben mit der Zeit alle Wege des verschachtelten Klinikums kennen gelernt. So wissen die Patienten-Lotsen über alle aktuellen. Baustellen Bescheid und helfen selbst verirrten Angestellten weiter.

Die Uniklinik hat inzwischen nicht nur die Kosten komplett übernommen, sondern denkt darüber nach, weitere Lotsen zu beschäftigen. "Das zeugt doch davon, dass auch Leute mit Handicap anderen Menschen helfen können", sagt Wolf.
ddp/heid

Kontakt:
Saale-Betreuungswerk Jena
Telefon 0 36 41 / 46 13-0

Internet:
www.sbw-jena.de


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2/2010, 31. Jg., Juni 2010, S. 17
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2010