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RECHT/671: Menschen mit geistiger Behinderung im Maßregelvollzug (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4 - Dezember 2010

Menschen mit geistiger Behinderung im Maßregelvollzug
Was passiert mit schuldunfähigen Straftätern?
Ein bisher wenig beachtetes Thema

Von Ulrich Hellmann


Auch Menschen mit geistiger Behinderung begehen Straftaten. Doch ist wenig darüber bekannt: Um welche Verbrechen und Vergehen handelt es sich? Wie häufig geschieht dies?


Wenn eine nach dem Strafgesetzbuch (StGB) rechtswidrige Tat begangen wurde, ist die, Frage der sogenannten "Schuldfähigkeit" ein entscheidendes Kriterium dafür, welche persönlichen Konsequenzen das Gericht für den Täter oder die Täterin anordnen kann. Ohne Schuld handelt (nach Paragraf 20 StGB), "wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, dass Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." Kommt das Strafgericht unter Hinzuziehen eines Sachverständigengutachtens zum Ergebnis, ein Täter sei aufgrund seiner geistigen Behinderung schuldunfähig oder allenfalls (gemäß Paragraf 21 StGB) "vermindert schuldfähig", ist (nach Paragraf 63 StGB) zu prüfen, ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen ist. Dies ist vorgeschrieben, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm in Folge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.


Gericht ordnet Unterbringung in der forensischen Psychiatrie an

Bei dieser schwierigen Prognose-Entscheidung lässt sich das Strafgericht ebenfalls durch psychiatrische Sachverständige beraten. Bei seiner Entscheidung muss das Gericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten, denn es darf kein eindeutiges Missverhältnis zwischen den freiheitsentziehenden Maßnahmen und den anderenfalls künftig drohenden Taten und der aus ihnen erwachsenen Gefahr für die Allgemeinheit bestehen. Wenn aber zur Überzeugung des Gerichts die Voraussetzungen des Paragraf 63 StGB erfüllt sind, ist die Anordnung der Unterbringung in der forensischen Psychiatrie zwingend. Diese ist zudem unbefristet. Diese Regelungen verdeutlichen, welch gravierende Folgen es für Menschen mit geistiger Behinderung haben kann, wenn sie aufgrund einer Straftat vor Gericht kommen.

Auffällig ist, dass sich das Verständnis von "geistiger Behinderung" auf Seiten der Fachdisziplinen Justiz, forensischer Psychiatrie und Sonderpädagogik nicht nur in Bezug auf die verwendeten Begriffe und Definitionen unterscheidet, sondern auch im Hinblick auf die für die jeweilige Aufgabenerfüllung bestehenden (Be-)Handlungsoptionen.

Der wichtigen Frage, welche Therapieansätze und Eingliederungskonzepte im Schnittfeld von forensischer Psychiatrie und Behindertenhilfe bestehen oder erforderlich sind, war ein Fachgespräch gewidmet, das die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Klinik für forensische Psychiatrie in Gießen veranstaltete.

Die vom Landeswohlfahrtverband Hessen getragene Einrichtung ist eine der wenigen Kliniken dieser Art, die sich seit vielen Jahren mit einer speziellen Konzeption und in einer besonderen Abteilung der Behandlung von Straftätern mit einer geistigen Behinderung widmet. Gegenwärtig werden dort etwa 95 auf strafrechtlicher Grundlage untergebrachte Personen behandelt, 13 Prozent davon sind Frauen.

Nach aktuellen Schätzungen dürften sich in den rund 70 forensischen Psychiatrien in Deutschland etwa 500 Menschen mit der Diagnose "geistige Behinderung" befinden.


Sexualstraftaten, Brandstiftungen und Körperverletzungen

Bei den insgesamt begangenen Delikten überwiegen Sexualstraftaten, Körperverletzungen und Brandstiftungen. Auffällig ist, dass die durchschnittliche Verweildauer in der forensischen Psychiatrie fast doppelt so hoch ist wie bei anderen Patientengruppen, die nicht unter die Diagnose "geistig behindert" fallen. Andererseits wird berichtet, dass für diesen Personenkreis sogenannte "Lockerungsstufen" wie begleiteter oder unbegleiteter Ausgang eher gewährt werden können - ein Hinweis, dass Möglichkeiten zur rascheren Wiedereingliederung noch nicht ausgeschöpft sind?


Vernetzung mit Einrichtungen der Behindertenhilfe wichtig

Eine Entlassung aus der forensischen Psychiatrie kann nur erfolgen, wenn das Gericht feststellt, dass die Unterbringungsvoraussetzungen des Paragrafen 63 StGB nicht mehr vorliegen und damit eine "günstige Täterprognose" besteht. Einmal pro Jahr gibt die Klinik eine Stellungnahme über die Entwicklung der Patientinnen und Patienten an das zuständige Gericht. Zudem findet regelmäßig eine richterliche Anhörung statt.

Von großer Bedeutung für die Entlassungsperspektive dieser Menschen ist die Vernetzung der forensischen Psychiatrien mit regionalen Einrichtungen der Behindertenhilfe, die für den Einzelfall angepasste Wohn- und Unterstützungsangebote bereit halten. Diese Hilfen müssen bedarfsgerecht ausgestattet werden und die Betreuung im Zusammenwirken mit der nach dem Strafgesetzbuch vorgesehenen Führungsaufsicht gewährleisten. Zweifellos ein Aufgabengebiet, das einer verstärkten Aufmerksamkeit und Zusammenarbeit aller Beteiligten bedarf, um die Entwicklung angemessener Lebensperspektiven für die Betroffenen zu verbessern.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4/2010, 31. Jg., Dezember 2010, S. 15
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2011