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RECHT/688: Das Bundesteilhabegesetz - Ein anspruchsvolles Bauvorhaben (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2014

Das Bundesteilhabegesetz - Ein anspruchsvolles Bauvorhaben

Klartext von Dr. Martin Danner



Die Ziele sind klar formuliert: Allen Menschen mit Behinderung in Deutschland soll die volle Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglicht werden. Jeder soll seinen Rechtsanspruch auf bedarfsgerechte Teilhabeleistungen ohne bürokratische Widerstände einlösen können.


Klar scheint auch zu sein, auf wen es jetzt ankommt: Die große Koalition hat den Auftrag, noch in dieser Legislaturperiode ein Bundesteilhabegesetz vorzulegen, mit dem die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen grundlegend reformiert werden soll. Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales laufen hierzu die Vorbereitungen.


Viele Akteure - Viele Steine

Es scheint daher nur noch eine Frage des Fleißes zu sein, das neue Regelungsgebäude des Bundesteilhabegesetzes hochzuziehen. Leider handelt es sich um eine anspruchsvolle Baustelle, wo und wie dieses Gebäude errichtet werden soll. Genauer gesagt gibt es gleich ein ganzes Feld an Baustellen, auf das sich die Planungen erstrecken müssen.

Für die Umsetzung der Rechte behinderter Menschen sind nämlich viele Akteure zuständig.

Und so stellt es eine große gesetzgeberische Herausforderung dar, im Rahmen der beschränkten Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und angesichts der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland sowie der Vielzahl der Rehabilitationsträger, tatsächlich in der Praxis wirksame Regularien zu erarbeiten. Schließlich besteht ja gerade eines der Hauptprobleme bei der Durchsetzung von Rechten darin, dass die Leistungen zur Eingliederungshilfe grundsätzlich auf kommunaler Ebene zu bewilligen und mit einer Vielzahl von Rehabilitationsträgern abzustimmen sind. Kooperationsstrukturen wie die im SGB IX vorgesehenen Gemeinsamen Servicestellen oder die regionalen Arbeitsgemeinschaften funktionieren überwiegend nicht und von den in der UN-Behindertenrechtskonvention beschriebenen "umfassenden Habilitations- und Rehabilitationsprogrammen" fehlt in Deutschland jede Spur.

Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber auf Bundesebene sich bei seinen Regelungen ganz genau überlegen muss, ob er die Länder ins Boot holt oder ob er ihnen Vorschriften machen will.

Das Bauvorhaben des Bundesteilhabegesetzes muss daher sorgfältig geplant werden.


Bei der Konzeption des Gesetzes müssen folgende Punkte beachtet werden:

1. Aus Sicht der Betroffenen kommt es bei der Reform der Eingliederungshilfe im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention entscheidend darauf an, die Leistungen zur Teilhabe aus der Handlungslogik der puren Existenzsicherung der Sozialhilfe herauszulösen.

Für den Bundesgesetzgeber ist es jedoch nicht möglich, den Bundesländern vorzuschreiben, die Sozialhilfeträger nicht zu Trägern der Eingliederungshilfe zu machen. Bleiben die Träger der Sozialhilfe in der Praxis die primär zuständigen Entscheider, dann ist dies per se schon als eine schwere Hypothek für das Gelingen von Veränderungsprozessen anzusehen. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es daher erforderlich, dass auch in den Bundesländern die Notwendigkeit einer grundlegenden Restrukturierung der Eingliederungshilfe erkannt und vorangetrieben wird.

Eine weitere Hypothek stellt die Vielzahl der (möglicherweise zuständigen) Rehabilitationsträger dar. Hier hat sich gezeigt, dass die Regelungen zur Zuständigkeitsklärung nach den Paragraphen 14, 15 SGB IX in der Praxis vielfach unterlaufen werden. Das mit dem SGB IX ursprünglich verfolgte Ziel der Kooperation der Rehabilitationsträger und der beschleunigten Bedarfsfeststellung und Leistungsbewilligung wird vielfach nicht erreicht. Trotzdem hält es die BAG SELBSTHILFE aus den oben genannten Gründen nicht für vorzugswürdig, die Koordinationsverantwortung allein dem Sozialhilfeträger zuzuweisen.

Es muss vielmehr darum gehen, die bestehenden Regelungen des SGB IX zu schärfen. Der Beginn des Fristablaufs in Paragraph 14 SGB IX muss präzisiert werden, die Kostenerstattung bei Fristablauf muss für den Betroffenen rechtssicher ausgestaltet werden (Rechtsanspruch auf vorläufigen Bewilligungsbescheid) und die Frist zur Erhebung einer Untätigkeitsklage muss verkürzt werden bei Kostentragungspflicht des letztlich zuständigen Trägers.

Die Bildung örtlicher Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsträger nach Paragraph 12 SGB IX muss verpflichtend eingeführt werden.


Notwendige Bausteine heißen: Individuelle Entscheidungen, dauerhaft und bedarfsdeckend

2. Die BAG SELBSTHILFE begrüßt ausdrücklich den Ansatz, die Leistungen zur Teilhabe künftig personenzentriert auszurichten. Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese Ausgestaltung sich nicht allein darauf beschränken kann, die umfassende Rolle von Einrichtungen bei der Organisation des Leistungsgeschehens aufzubrechen. Wer den Betroffenen in den Mittelpunkt stellen will, der muss ihm auch tatsächlich die Möglichkeit einräumen, informierte Entscheidungen zu treffen. Dies betrifft schon die Bedarfsfeststellung (individuelle Teilhabeziele), aber auch die Auswahl der Leistungserbringer und ggf. die Frage der Qualität des Angebots.

Folglich ist ein flächendeckendes Angebot unabhängiger Beratung sicherzustellen. Ein Rechtsanspruch auf unabhängige Beratung auch vor Leistungsbewilligung ist unabdingbar.

Das Bedarfsermittlungs- und Bedarfsstellungsverfahren ist so auszugestalten, dass die Teilhabeziele des Einzelnen auch umfassend erhoben werden. Auch hier stellt sich wieder das Problem, dass der Bundesgesetzgeber nicht bis ins Detail Verfahrensvorgaben machen kann. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE ist es jedoch unabdingbar, dass Kriterien für die bei der Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung einzusetzenden Instrumente möglichst detailliert vorgegeben werden.

Allein der pauschale Verweis auf die ICF genügt hier nicht. Vielmehr sind konkrete Items ähnlich wie bei den Modulen des NBA im Pflegebereich schon im Gesetz zu benennen.

Für manche Betroffenengruppen ist es nicht sinnvoll, die Leistungsgewährung anhand aufwändiger Bedarfsermittlungsverfahren zu bestimmen. Dies betrifft insbesondere Menschen mit Sinnesbehinderungen. Hier sollte die Option eingeräumt werden, ein allgemeines Teilhabegeld zu gewähren, was einer Weiterentwicklung des sog. Blindengeldes entspräche. Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE sollte es aber allein im Ermessen des Betroffenen stehen, diese Option zu wählen. Eigenmächtige Pauschalierungsvorgaben von Trägern sind hingegen abzulehnen.

Selbst dann, wenn ein umfassendes Bedarfsermittlungs- und Bedarfsfeststellungsverfahren durchgeführt wird, kann man mit einem solchen generellen, auf die allgemeine Lebenssituation bezogenen Verfahren nicht alle situativen Nachteile erfassen, die sich einem Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft stellen.
Dies liegt einfach daran, dass die Infrastruktur in Deutschland nach wie vor situative Barrieren enthält, mit denen der Einzelne spontan fertigwerden muss. Zum Ausgleich dieser Nachteile ist aus Sicht der BAG SELBSTHILFE im Bundesteilhabegesetz für alle Menschen mit Behinderungen ein pauschalierter Nachteilsausgleich zusätzlich zu den im Rahmen der Bedarfsfeststellung identifizierten Leistungen vorzusehen.

Ein personenzentriertes Leistungsgeschehen setzt voraus, dass auch eine angemessene Angebotsinfrastruktur vorhanden ist. Dies stellt insbesondere in ländlichen Regionen ein nicht zu unterschätzendes Problem dar.

Daher müssen die Vorgaben des Paragraph 17 SGB IX dringend im Sinne einer verbindlichen und transparenten Bedarfsplanung konkretisiert werden. Letzteres würde auch die Inanspruchnahme des persönlichen Budgets erheblich erleichtern.

Über das örtliche Vertragsgeschehen und Ausschreibungen muss auch eine Angebotsvielfalt ermöglicht werden. Schließlich setzt ein personenzentriertes Leistungsgeschehen auch voraus, dass ein funktionierendes Beschwerdemanagement etabliert wird, was sich sowohl auf den Tätigkeitsbereich der Rehabilitationsträger als auch auf den Tätigkeitsbereich der Leistungserbringer bezieht.

Das in Paragraph 9 SGB IX normierte Wunsch- und Wahlrecht muss im Übrigen gestärkt werden. Der in Paragraph 9 angesprochene Mehrkostenvorbehalt entspricht nicht mehr den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und muss daher gestrichen werden.

3. Die bislang geltende Einkommens- und Vermögensanrechnung im Bereich der Eingliederungshilfe stellt aus Sicht der BAG SELBSTHILFE eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen dar. Es ist mit dem Leitbild einer inklusiven Gesellschaft schlichtweg nicht vereinbar, dass Menschen mit Behinderungen lebenslang nur auf dem Level knapp über dem Sozialhilfeniveau gehalten werden. Besonders skandalös ist die Einbeziehung des Vermögens von Ehegatten, Lebenspartnern und unterhaltspflichtigen Familienangehörigen.

Die Absicht, einen Menschen mit Behinderung zu heiraten, darf nicht länger mit dem Risiko der fast vollständigen Vermögenslosigkeit belegt sein. Dies ist mit dem Leitgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention schlichtweg unvereinbar.

4. Im Kontext der Diskussion zum Bundesteilhabegesetz wird unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben intensiv die Frage diskutiert, auf welche Weise eine sog. "Öffnung der Werkstätten" erfolgen soll.


Arbeitsmarkt öffnen und inklusiv gestalten

Auch in diesem Bereich gilt aus Sicht der BAG SELBSTHILFE in erster Linie, dass eine inklusive Infrastruktur die Grundlage für eine inklusive Gesellschaft bildet. Das Bundesteilhabegesetz muss daher zunächst einmal darauf abzielen, den allgemeinen Arbeitsmarkt inklusiv zu gestalten.

Erforderlich ist eine verbindliche Stärkung der Beratungskompetenzen der Jobcenter und Arbeitsagenturen, die Schaffung eines flächendeckenden Beratungsangebots beim Übergang von der Schule in den Beruf, die zugehende Beratung von Unternehmen zur Nutzung des leistungsrechtlichen Förderinstrumentariums des SGB III, die Aufhebung der Beschränkungen im Bereich des SGB II, die Durchsetzung der Beschäftigungspflicht in Unternehmen durch eine Weiterentwicklung der Ausgleichsabgabe, die Förderung von barrierefreier Kommunikationsinfrastruktur in Unternehmen (barrierefreies Intranet) und vieles mehr.

Auch das "Budget für Arbeit" wird von der BAG SELBSTHILFE begrüßt. Bei der Ausgestaltung muss jedoch gewährleistet werden, dass im Leistungsinhalt nicht nur der als Lohnersatzleistung ausgestaltete "Minderleistungsausgleich" enthalten ist, sondern auch eine flankierende Unterstützung, die dauerhaft und bedarfsdeckend ausgestaltet ist.

Was die Weiterentwicklung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen anbelangt, so unterstützt die BAG SELBSTHILFE das Vorhaben, das Kriterium des "Mindestmaßes verwertbarer Arbeit" fallenzulassen.

Das Menschenrecht auf Teilhabe am Arbeitsleben nach Artikel 27 BRK steht allen Menschen mit Behinderungen zu. Ein "Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit" kennt Art. 27 BRK nicht. Auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf müssen deshalb Möglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsleben eröffnet werden. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass Teilhabe am Arbeitsleben nicht begrenzt auf die Leistungen in einer WfbM zu betrachten ist.

Angebote der Tagesstrukturierung müssen für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft neben den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben möglich bleiben.

Überdies dürfen Reformen in diesem Bereich nicht zulasten der heutigen Werkstattbeschäftigten wirken. In diesem Zusammenhang weist die BAG SELBSTHILFE auf die geringen Arbeitsentgelte für Werkstattbeschäftigte bzw. deren Bemessungsgrundlagen hin.

Kritisch sieht die BAG SELBSTHILFE hingegen die Überlegung, neben den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen auch andere Angebote zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zuzulassen, an die "reduzierte Anforderungen" zu stellen seien. Eine Verschlechterung der Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen kann schlechterdings nicht mit dem Hinweis auf "Inklusion" gerechtfertigt werden.

5. Weitere Elemente des künftigen Bundesteilhabegesetzes gilt es, in den nächsten Monaten zu diskutieren. Hierzu zählt bspw. die Erweiterung der Ansprüche im Bereich der medizinischen und sozialen Rehabilitation oder die Verlagerung der Zuständigkeit auf die Kinder- und Jugendhilfe für die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.

Das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Gang gesetzte sog. Hochrangige Beteiligungsverfahren, aber auch die Abstimmungsprozesse der Behindertenverbände im Deutschen Behindertenrat, sind sicher gute Orte, um die komplizierten Baupläne zu vervollständigen.

Anders als bei anderen Bauvorhaben wird es aber darauf ankommen, auch die Zeitpläne einzuhalten. Flughäfen, Bahnhöfe und Opernhäuser mögen über lange Jahre brach liegen und dann doch noch nutzbar sein. Die Chance, in dieser Legislaturperiode unter den Rahmenbedingungen einer Großen Koalition das Vorhaben des Bundesteilhabegesetzes zu realisieren, wird unter Umständen nicht so schnell wiederkommen.


DER AUTOR
Dr. Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE.

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Quelle:
Selbsthilfe 3/2014, S. 7-9
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2015


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