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RECHT/690: Gerichtsprozesse - Überlange Verfahrensdauer (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2014

Gerichtsprozesse
Überlange Verfahrensdauer

Von Holger Borner


Wer schon einmal einen Prozess vor einem Gericht geführt hat weiß, wie nervenaufreibend ein solcher sein kann. Viele, die sich mit den einzelnen Verfahrensabläufen nicht auskennen und womöglich auch keinen Anwalt oder sonstigen Rechtsbeistand an ihrer Seite haben, fühlen sich unsicher und vielleicht sogar überfordert angesichts der Vorgaben, welcher Antrag wann zu stellen ist, welche Fristen zu beachten sind, was in einem Schriftsatz und in der mündlichen Verhandlung vorzutragen ist. Ärgerlich ist es dann, wenn sich das Verfahren überdies noch ewig hinzieht. Gerade vor den Sozialgerichten hat man zuweilen das Gefühl, dass sich kaum etwas bewegt. Das ist dann umso schlimmer, wenn die Entscheidung des Gerichts für die persönliche Lebensgestaltung und -planung von besonderer Bedeutung ist, etwa bei einer Rente oder einem dringend notwendigen Hilfsmittel.


Es wäre aber nicht sachgemäß, hier allein die Gerichte verantwortlich zu machen. Denn gerade in sozialgerichtlichen Verfahren sind oftmals ärztliche Gutachten einzuholen, wenn es um medizinische Fragen geht. Da können von der Untersuchung bis zum schriftlichen Gutachten leicht mehrere Monate vergehen. Die Dauer des Verfahrens hängt auch von etwaigen (Beweis-)Anträgen und der grundsätzlichen Mitwirkung der Prozessbeteiligten ab. Wird auf einen Schriftsatz des Prozessgegners schnell reagiert oder reizt man die vom Gericht gesetzte Frist zur Stellungnahme bis zum letzten Tag aus? Selbstverständlich ist auch das hohe Aufkommen an eingereichten Klagen für die zuweilen langen Verfahrensdauern mitverantwortlich. Immerhin berichten die Medien regelmäßig über die Flut der zu bewältigenden Gerichtsverfahren. Und was man schließlich auch nicht vergessen darf: Je komplizierter sich ein Sachverhalt oder eine Rechtslage darstellt, desto länger dauert in der Regel auch das Verfahren. Immerhin soll die gerichtliche Entscheidung ja gerecht und nachvollziehbar sein. Was hat man von einem schnellen Urteil, bei dem wichtige Gesichtspunkte des Sachverhaltes oder rechtliche Aspekte außer Acht bleiben?

Welche Schritte gegen überlange Wartezeiten einzuleiten sind

Nichtdestotrotz gibt es Verfahren, bei denen eine Überlänge nicht mehr hinnehmbar ist. So können bei einem Verfahren, das sich über alle Instanzen hinzieht, durchaus zehn Jahre oder mehr vergehen, vor allem wenn am Schluss auch noch das Bundesverfassungsgericht angerufen wird. Aber was macht man hier als Betroffener? Immerhin sehen das Grundgesetz (Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG) sowie Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht nur einen generellen Anspruch auf Rechtsschutz, sondern auch einen Rechtsschutz in angemessener Zeit vor. Gibt es also Möglichkeiten, sich gegen eine überlange Verfahrensdauer zur Wehr zu setzen?

Leider nur begrenzt. Wurde beispielsweise gegen einen Bescheid eines Sozialversicherungsträgers einen Widerspruch eingelegt und reagiert die Behörde hierauf nicht, ist es möglich, nach Ablauf einer bestimmten Frist, Untätigkeitsklage beim Sozialgericht zu erheben. Anders dagegen im gerichtlichen Verfahren. Hier gibt es keine entsprechende Regelung im Verfahrensrecht, mit der ein beschleunigtes Tätigwerden des Gerichts erzwungen werden kann. Eine früher in Ausnahmefällen für zulässig erklärte Untätigkeitsbeschwerde wird heute mangels klarer gesetzlicher Grundlage von den höchsten Gerichten abgelehnt. Und auch mit einer Verfassungsbeschwerde oder Dienstaufsichtsbeschwerde kann - nicht zuletzt wegen des in Art. 97 GG verankerten Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit - ein Tätigwerden des Gerichts in der Regel nicht oder nur sehr schwer durchgesetzt werden.

Entschädigungsanspruch kann geltend gemacht werden

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte allerdings mit Urteil vom 26.10.2000 (Nr. 30 210/96) entschieden, dass bei einer überlangen Verfahrensdauer auch das in Art. 13 EMRK verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde verletzt sein kann, weshalb ein betroffener Bürger die Möglichkeit haben muss, sich gegen eine unangemessene Verfahrensdauer zur Wehr zu setzen. In diesem und auch folgend in mehreren weiteren Fällen wurde deshalb den dortigen Klägern eine Entschädigung wegen unangemessen langer Verfahrensdauer zugesprochen. 2011 hat dann endlich auch der deutsche Gesetzgeber reagiert und das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren verabschiedet, mit dem verschiedene Verfahrensregelungen geändert bzw. ergänzt wurden. Leider besteht jedoch weiterhin keine Möglichkeit, eine beschleunigte Erledigung einzuklagen. Zwar ist mit der sog. Verzögerungsrüge ein neuer Rechtsbehelf verankert worden. Mit diesem kann eine Verzögerung des Verfahrens aber letztlich nur angezeigt werden. Neu und für den Betroffenen von Vorteil ist dagegen, dass ein Entschädigungsanspruch wegen unangemessen langer Verfahrensdauer nunmehr direkt vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann. Hierfür ist die vorherige Einlegung der erwähnten Verzögerungsrüge Voraussetzung.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem Urteil vom 21.02.2013 - Az.: B 10 ÜG 1/12 KL - die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch näher beleuchtet. Problematisch ist nämlich, dass sich die Angemessenheit der Dauer nicht in einer konkreten Anzahl an Monaten oder Jahren im Gesetz festlegen lässt, sondern sich nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt. Hierfür sind allerdings bestimmte Parameter zugrunde zu legen, anhand derer die Frage der Angemessenheit im Einzelfall zu klären ist.

Deutliche Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen muss vorliegen

Nach § 198 Abs. 1 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Dabei richtet sich die "Angemessenheit der Verfahrensdauer" nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und der Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Hierzu stellt das BSG von vornherein klar, dass nicht jede Abweichung vom Optimum ausreichend ist, sondern dass vielmehr eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen vorliegen muss. Der Staat hat nicht so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes Verfahren sofort bearbeitet werden kann. Vielmehr sind dem Kläger gewisse Wartezeiten zuzumuten. Allerdings kann umgekehrt die allgemeine Arbeitsbelastung eines Gerichts nicht als Rechtfertigung für eine längere Verfahrensdauer dienen. Zur Beurteilung der Angemessenheit können grundsätzlich auch statistische Werte bezüglich vergleichbarer Verfahren und deren Dauer herangezogen werden. Im Übrigen spielt neben der Komplexität des Rechtsmittels, insbesondere dem Umfang des zugrundeliegenden Stoffes, auch die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger eine Rolle. So kann im Einzelfall eine beschleunigte Erledigung eines bestimmten Rechtsmittels geboten sein, wenn die vorherigen Verfahrensabschnitte lange andauerten, ohne dass es zu einem rechtskräftigen Abschluss gekommen ist.

Was die Höhe der Entschädigung für einen Nachteil nichtvermögenswerter Art angeht, orientiert sich diese in der Regel nach dem im Gesetz vorgegebenen Richtwert von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Das bedeutet, dass nur der Zeitraum der festgestellten Verzögerung, nicht aber das gesamte Verfahren bei der Berechnung zugrunde zu legen ist. Aus dem genannten Richtwert errechnet sich bei Zeiten von weniger als einem Jahr eine Entschädigung von 100 Euro pro Monat.

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Quelle:
Selbsthilfe 4/2014, S. 32 - 33
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren
Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2015

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