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RECHT/697: ICF - Impulse für Bedarfsermittlung und Leistungen zur sozialen Teilhabe (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 161 - Heft 03/18, 2018
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

ICF - Impulse für Bedarfsermittlung und Leistungen zur sozialen Teilhabe

Von Christian Reumschüssel-Wienert


Die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) bekommt im Rahmen der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (SGB IX) eine strategische Bedeutung, die für eine personenzentrierte und sozialräumlich orientierte gemeindepsychiatrische Arbeit im Rahmen der Eingliederungshilfe nicht hoch genug einzuschätzen ist.


Im SGB IX wird im § 1 das Ziel der »Förderung von Selbstbestimmung sowie die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft« formuliert. Darüber hinaus liegt dem Gesetz ein neuer Begriff von Behinderung zugrunde. Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft [...] hindern können - so der § 2 SGB IX. Behinderung entsteht nach dieser Regelung in der Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Entsprechend sind die Leistungen zur sozialen Teilhabe (§ 76 SGB IX) bzw. Assistenzleistungen (§ 78 SGB IX) darauf ausgerichtet, nicht nur selbstbestimmte Lebensführung im eigenen Wohnraum, sondern auch - und gerade - Aktivität und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bzw. im »Sozialraum« befähigend zu ermöglichen und Barrieren zu beseitigen.

Die Leistungen zur sozialen Teilhabe sind aus diesem Grunde nicht mehr an einen bestimmten Ort, wie z. B. die Wohnung, gebunden. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wechselwirkungsgrundsatz sowie aus der Trennung von existenzsichernden und Fachleistungen, sondern wird auch im § 95 SGB IX explizit erwähnt. Die ICF spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, da sie gem. § 118 SGB IX die Grundlage der zu entwickelnden Instrumente der Bedarfsermittlung darstellen muss.

Grundzüge der ICF

Die ICF ist ein Standard zur Beschreibung von Gesundheitszuständen, Krankheits- oder Unfallfolgen sowie Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe). Sie gehört zu einer von der WHO entwickelten »Familie« von Klassifikationen für die Anwendung verschiedenster Aspekte, die mit Gesundheit in Verbindung stehen - ihre »Schwester« ist die Klassifikation von Krankheitsdiagnosen (ICD).

Grundlage ist der Begriff der »funktionalen Gesundheit« der WHO. Eine Person gilt nach ICF als »funktional gesund«, wenn - vor ihrem gesamten Lebenshintergrund - ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und Strukturen allgemein anerkannten Normen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen), sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), und sie zu allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, Zugang hat und sich in diesen Lebensbereichen in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen).

Diese Definition folgt einem biopsychosozialen Modell, welches Gesundheit, Krankheit und Behinderung in einem Wechselverhältnis von biologischen, sozialen und individuellen Aspekten verortet. Dies bedeutet vor allem: Ob »funktionale« Einschränkungen zur »Behinderung« werden, hängt nicht (allein) von dem Ausmaß der Beeinträchtigung ab, sondern wird durch umwelt- oder personenbezogene Kontextfaktoren beeinflusst, die als soziale Barrieren oder soziale Förderfaktoren auftreten können. Behinderung ist damit ein Phänomen, das sich aus (komplexen) Wechselwirkungen vor dem Hintergrund der Kontextfaktoren ergibt.

Kontextfaktoren

Die Kontextfaktoren machen den Lebenshintergrund einer Person aus. Sie bestehen aus den Komponenten: Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Als Umweltfaktoren werden diejenigen Faktoren klassifiziert, die als äußere Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit einer Person einwirken, wie Produkte und Technologien (z. B. Hilfsmittel, Medikamente), natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt (z. B. Bauten, Straßen, Fußwege), Unterstützung und Beziehungen (z. B. Familie, Freunde, Arbeitgeber, Profies Gesundheits- und Sozialsystems), Einstellungen, Werte und Überzeugungen anderer Personen und der Gesellschaft (z. B. Vorurteile, Einstellungen zu Teilzeitarbeitsplätzen) sowie Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (z. B. Gesundheits- und Sozialsystem mit seinen Leistungen und Diensten, Rechtsvorschriften). Die in diesen Kapiteln weiter ausdifferenzierten Items bzw. Faktoren können sich förderlich auswirken oder als Barrieren erweisen.

Das gilt in gleicher Weise für die personenbezogenen Faktoren - allerdings bisher ohne nähere Klassifikation. Im informellen Gebrauch werden folgende Faktoren verwendet: Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund, Bildung/Ausbildung, Beruf, genetische Prädisposition, Charakter, Lebensstil, Coping, Erfahrung, Motivation, Handlungswille, Mut. Auch personenbezogene Faktoren können sowohl förderlich (Ressourcen) als auch hinderlich wirken.

Körperfunktion

Körperfunktionen sind physiologische und psychologische Funktionen von Körpersystemen - zum einen Sehen, Gehen oder Verdauungsfunktionen, zum anderen zeitliche, örtliche, personenbezogene Orientierung, das Denken oder der Antrieb einer Person. Der Begriff des »Körpers« bezieht sich auf den gesamten menschlichen Organismus - Leib und Seele.

Die Klassifizierung der Körperfunktionen und -strukturen erfolgt in acht Kapiteln. Die mentalen Funktionen werden im ersten Kapitel beschrieben. Hierbei gibt es unter anderem Funktionen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, emotionale Funktionen, Funktionen der Wahrnehmung sowie auch Funktionen des Denkens oder höhere kognitive Funktionen, wie z. B. Abstraktionsvermögen, Organisieren und Planen, Einsichts- und Urteilsvermögen und Problemlösungsvermögen. Schädigungen sind Abweichungen von allgemein anerkannten Gegebenheiten bzw. Standards. Sie können vorübergehend, dauerhaft, statisch oder dynamisch, intermittierend oder kontinuierlich, in welche Richtung auch immer, verlaufen. Schädigungen können Teil oder Ausdruck eines Gesundheitsproblems sein, sie sind aber nicht notwendigerweise Teil oder Folge einer Krankheit. Sie können andere Schädigungen nach sich ziehen. Vor allem aber stehen sie in einer engen Wechselwirkung mit den oben genannten Kontextfaktoren und haben damit mehr oder weniger Auswirkungen auf Aktivitäten und Teilhabe.

Aktivitäten und Teilhabe

In den Kapiteln der Aktivitäten und Teilhabe (Partizipation) verlässt die ICF die funktionale Betrachtungsweise und wendet sich dem aktiv handelnden Subjekt in seinen gesellschaftlichen Bezügen zu.

Eine »Aktivität« ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen Menschen. Eine Beeinträchtigung der Aktivität liegt vor bei einer Schwierigkeit oder der Unmöglichkeit, die Aktivität durchzuführen.

»Teilhabe« oder, entsprechend des englischen Originals, »Partizipation« ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe bezieht sich auf das Problem des Einbezogenseins in relevante Lebenssituationen. Die gesellschaftlichen und die individuellen Gegebenheiten sind bei der Definition der Teilhabe eng miteinander verwoben. Die unterschiedlichen Lebensbereiche (»life-domains«) stellen daher die Wechselbeziehung zwischen persönlichen und Umweltfaktoren dar. Sie sind:

1. Lernen und Wissensanwendung
2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
3. Kommunikation
4. Mobilität
5. Selbstversorgung
6. Häusliches Leben
7. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
8. Bedeutende Lebensbereiche
9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben

Auch die Lebensbereiche sind wiederum in unterschiedliche Bereiche ausdifferenziert. Bereiche von »Selbstversorgung« sind z. B.: sich waschen, abtrocknen, seine Körperteile pflegen, sich kleiden, essen und trinken sowie auf seine Gesundheit achten. Auch interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, die die Ausführung von Handlungen und Aufgaben beschreiben, die für elementare und komplexe Interaktionen mit Fremden, Freunden, Familie und Liebespartnerinnen in einer kontextuell und sozial angemessenen Weise erforderlich sind, sind ein Lebensbereich.

Mit den Aktivitäten und der Partizipation liegt ein sehr ausdifferenziertes System von Lebensbereichen und deren Unterteilungen vor, das je nach individuellen Kontextbedingungen (personell und Umfeld) ausgestaltet werden kann. Einschränkungen der Teilhabe sind stark abhängig von den Wünschen und der Wahrnehmung der Menschen mit Behinderungen selbst.

Anwendungsbereiche

Die große Stärke der ICF liegt darin, dass sie ein sehr umfangreiches kategoriales Raster zur Beschreibung von Beeinträchtigungen, Förderfaktoren, Ressourcen und Barrieren vorlegt, welches implizit mit einem Handlungsmodell unterlegt ist. Zusammen mit der UN-BRK bietet sie ein schwieriges, jedoch gut handhabbares »Gerüst«, um die neuen rechtlichen Regelungen umzusetzen. Dies ist besonders deshalb relevant, da der neue Behinderungsbegriff die umweltbedingten Kontextbedingungen fokussiert. Dies sollte auch in der Bedarfsplanung seinen Niederschlag finden.

Zu beachten ist, dass die ICF kein Assessmentinstrument ist, mit dem Beeinträchtigungen, Aktivitäten, Teilhabechancen und Barrieren gemessen werden können. Hierzu werden andere Instrumente benötigt. Darüber hinaus ist es wichtig, schon in der Bedarfsermittlung auf Partizipation des/-r Leistungsberechtigten großen Wert zu legen. Schon aus diesem Grund verbietet sich die Verwendung von sog. »Core-Sets« (Strichlisten) im zu entwickelnden Bedarfsermittlungsinstrument. Im Vordergrund steht der partizipative, dialogorientierte Hilfeermittlungsprozess. Das biopsychosoziale Modell, die Kategorien und Items der ICF können helfen, den Dialog zu strukturieren.

Wenn man ein Instrument zur Bedarfsermittlung konzipieren will, dann sollte es also nicht in erster Linie wie eine »Strichliste« die einzelnen Items fokussieren, sondern sich dialogorientiert an dem »biopsychosozialen Modell« orientieren und folgenden Anforderungen entsprechen:

  • Es muss auf die subjektive Perspektive fokussiert sein, insbesondere in Bereichen der Teilhabe. Es gilt ein Wunsch- und Wahlrecht.
  • Die Ermittlung des Bedarfs und die Planung von Leistungen erfolgen in der direkten Kommunikation mit der/-m Leistungsberechtigten. Alle weiteren relevanten Akteure sind bei Zustimmung einbezogen.
  • Während des Hilfeprozesses können sich Notwendigkeiten, Prioritäten, Wünsche und Möglichkeiten verändern.
  • Die Berücksichtigung von (mentalen) Körperfunktionen im Hilfeprozess muss ebenso gewährleistet sein wie die Einbeziehung von Kontextfaktoren. Hierbei können ggf. mentale Funktionen als persönlicher Kontext fungieren. Hinderliche und förderliche Umfeldbedingungen im persönlichen Umfeld und Sozialraum müssen umfassend berücksichtigt werden; gesellschaftliche, institutionelle Bedingungen, soweit relevant.
  • Sämtliche Lebensbereiche müssen - soweit relevant - berücksichtigt werden, und zwar auch unter der Perspektive zukünftiger Aktivitäten und Teilhabe.

Es versteht sich von selbst, dass in diesen Zusammenhängen die Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe sich einerseits nicht mehr im Betreuten Wohnen erschöpfen können und andererseits durch qualifizierte Fachkräfte erfolgen müssen.


Weiterführende Literatur
Grampp, Gerd (2018) Die ICF verstehen und nutzen.
Köln: BALANCE buch + medien

www.dimdi.de
www.drv-bund.de
www.bar-frankfurt.de

Hinweis
Die DGSP veranstaltet mit Christian Reumschüssel-Wienert Fortbildungen zum Thema »ICF in Theorie und Praxis«.

Die nächsten Termine: 5. Oktober in Wolfsburg, 19. Oktober in Fulda und 2. November in Stuttgart. Weitere Informationen unter: www.dgsp-ev.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 161 - Heft 3/18, Juli 2018, Seite 12 - 14
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2019

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