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SPORT/271: "Du faßt keinen Ball an, sondern einen Partner" (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2009

EINBLICK
"Du fasst keinen Ball an, sondern einen Partner"
Training beim G-Judo

Von Oliver Kauer-Berk


Etliche Judovereine trainieren Kinder mit einem kognitiven Handicap. Einer davon ist der Budo-Club Mühlheim aus Hessen. Hier gibt es seit über zehn Jahren "G-Judo"


Zuerst fällt Ansgar und Nicole die neue Frisur auf. Max, ihr Trainer, hat sie die Haare gefärbt, links blond, rechts grün. Das muss der Blaugurt erstmal erklären. Max Dreyer, 17, leitet heute das Anfänger- und Kinder-Training im Doju, dem mit Matten ausgelegten Trainingsraum. Der Gymnasiast und Übungsleiter hat in Nordrhein-Westfalen eine Zusatzlizenz für den Rehabilitationssport mit behinderten Kindern und Jugendlichen gemacht. Im Hintergrund nimmt Abteilungsleiter Thomas Hofmann die "Guck-Funktion", wie er sagt, wahr. Neudeutsch würde das wohl Supervisinn genannt. Zum ersten Training nach den Weihnachtsferien sind zehn G-Judokas im Alter zwischen fünf und 17 Jahren gekommen.

Zum Angrüßen, an heißt im Judo die Verbeugung im Knien vor dem eigentlichen Trainingsbeginn, bilden die Judukas einen Kreis, dann folgen ein kleines Rugbyfußballspiel, Fallübungen, Haltegriffe, Übungskämpfe. Was auffällt: Die Übergänge zwischen den Trainingsteilen sind fließend, alles wird spielerisch gemacht. Dabei sind die Voraussetzungen sehr unterschiedlich. Vom Bewegungstalent bis zu Kindern, die nicht stehen können, reicht das Spektrum. Max schafft es, auf jeden einzeln einzugehen. Er hat die Gruppe im Griff. Auch, als zum Abschluss der anderthalb Stunden das Licht ausgeschaltet wird, sich die eine Gruppenhälfte mit dem Bauch auf die Matte legt und die andere Hälfte kleine Massagebälle sanft über die Rücken rollt.


Perfekte Technik nicht wichtig

Thomas Hofmann und seinen Mitstreitern "geht es nicht um die perfekte Technik oder Platz eins - darüber freuen wir uns auch, klar -, aber wenn wir mit Judo erreichen; dass einer alleine mit dem Bus ins Training kommt oder die Jacke alleine anziehen kann, dann sind das viel wichtigere Ziele als eine korrekte Haltetechnik." Da gibt es etwa den Jungen, der aufgrund seiner Mehrfachbehinderung nicht über die Schulter nach vorne rollen kann. Er macht seine Fallübung, das erste, was Judokas lernen, mehr über die Seite. "Dann ist das eben seine persönliche Fallübung", stellt Hofmann heraus. Nicht alle G-Judokas können stehen, da wird der O-soto-gari eben mit der Hand gemacht. Und für einen Autisten könne schon das Betreten der Matte eine Leistung sein. Grundsatz des Trainings in Mühlheim ist: "Wir schauen nicht, was nicht geht, sondern wir schauen, was geht!" Was nicht bedeutet, dass "klassisches" Judo ausgeschlossen ist. In der Gruppe für Fortgeschrittene und Erwachsene kämpfen einige durchaus "auf Kreis- oder Bezirksliganiveau".


Weg aus der Isolation

Die engagierten Judokas aus Mühlheim wollen "Selbstvertrauen und Lebensfreude" vermitteln. Seit 1998 trainiert der Verein auf Hofmanns Initiative hin Menschen mit einem geistigen Handicap. Heute stellt die Abteilung "Judo der Behinderten" mit rund 50 Aktiven mehr als zehn Prozent der Vereinsmitglieder. Das Einzugsgebiet reicht in die Nachbargemeinden und darüber hinaus. In Judokreisen ist der BC Mühlheim inzwischen vor allem für seine Behindertenarbeit bekannt. "Wir sind eben eine aktive Abteilung", erklärt Hofmann, "die sich auch darzustellen weiß". Öffentlichkeitsarbeit ist selbstverständlich, hier werden Menschen mit einer Funktionseinschränkung nicht versteckt, sondern promotet. "Außerdarstellung ist auch ein Weg in die Normalität", sagt Hofmann, dessen Tochter den Gelb-Orange-Gurt trägt. Schließlich dürfe man sich nichts vormachen, Behinderung bedeute Isolation, "aber wir versuchen sie aufzubrechen". In Mühlheim werden fortgeschrittene G-Judokas auch ins Training der Nichtbehinderten integriert.

Der Mensch steht im Mittelpunkt, Judo ist Mittel zum Zweck. Um neue Reize zu setzen, haben die Mühlheimer Judokas unlängst das Skifahren entdeckt, inzwischen starten sie auch dort bei den Special Olympics, den Wettkämpfen der Sportbewegung für geistig und mehrfach behinderte Menschen. "Meine Tochter fängt jetzt mit dem Klettern an", berichtet Hofmann, und Ende des vergangenen Jahres haben die Judokas bei der Projektwoche einer Behindertenwerkstätte mitgemacht. Thema: Liebe und Sexualität. "Natürlich haben wir uns nach der Bitte um Mitarbeit erstmal gefragt, was das mit Judo zu tun hat", schildert Hofmann. Dann sei erkannt worden, dass ein Teilbereich sehr wohl passe: "Distanz zu halten, das ist Judo." Also haben die Mühlheimer Judokas zu Selbstbehauptung und Selbstverteidigung referiert "und nebenbei wieder einige eingefangen." Die Abteilung soll weiter wachsen.


"Alles geht, nur langsamer"

Im Grunde ist die Ausgangssituation einfach: Man könne mit Sport soziale wie gesundheitliche Ziele erreichen, findet Hofmann. Eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung wird geboten, in die auch "reingepackt werden kann, was sonst in der Krankengymnastik oder Ergotherapie passiert". Die Ühungsstunden werden durch einen Sportarzt begleitet und alle Trainer besitzen neben der sportfachlichen Qualifikation die Übungsleiterlizenz Rehabilitationssport.

Thomas Hofmann, ist ein Praktiker, der die Dinge anpackt, kein Intellektueller, und doch reiht er einen schlauen Satz an den anderen. Er ist überzeugt, mit Judo den idealen Sport anzubieten: "Allein die Kleidung ist schon interessant. Und du fasst keinen Ball und kein Gerät an, sondern einen Partner." Der sanfte Weg, so die Übersetzung von Judo aus dem Japanischen, soll zu Selbständigkeit und Selbstbestimmung führen. Nächste Idee der Mühlheimer sind Freizeiten, die "eine gewisse Loslösung vom Elternhaus ermöglichen". Das Dach ist jedoch das wöchentliche Judotraining, auf das sich alle freuen, das zeigen allein die glücklichen Gesichter. "Bei uns geht eben alles", sagt Hofmann, "nur etwas langsamer".

Trotz ihrer herausragenden Arbeit, trotz der vorbildlichen Umsetzung der vor mehr als 120 Jahren vom Judo-Begründer Jigoro Kano festgeschriebenen Prinzipien vom "besten Einsatz der vorhandenen Kräfte" und von der "gegenseitigen Hilfe für den wechselseitigen Fortschritt", trotz vieler Auszeichnungen für ihr Engagement - unter anderem 2005 als erster Gesamtsieger der Auszeichnung "Sterne des Sports" des Deutschen Olympischen Sportbunds - bleiben die Mühlheimer Judokas bescheiden. Hofmann: "Ein pubertärer Leistungskader ist schwieriger zu trainieren."


G-Judo

Judo für Geistig- und Lernbehinderte wird seit Beginn der 80er Jahre angeboten. Inzwischen hat sich dafür die Bezeichnung G-Judo durchgesetzt. Häufig arbeiten Vereine mit Facheinrichtungen zusammen, etwa Werkstätten für geistig Behinderte. Judo gilt auch als Alternative und Ergänzung zur Krankengymnastik. Es kann durch seine vielseitige Struktur den Muskeltonus regulieren, psychosomatische Probleme bekämpfen, Selbstsicherheit vermitteln, die Koordinationsfähigkeit verbessern und letzten Endes den Therapieplan des Arztes unterstützen. Derzeit bieten erst zwei Judo-Landesverbände - Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen - die Zusatzqualifikation Behindertensport für Trainer und Übungsleiter an. Der Deutsche Behinderten-Sportverband schätzt die Zahl der deutschen G-Judokas auf 500 bis 600. Für die im Judo zu erwerbenden farbigen Gürtel gibt es angepasste Prüfungsordnungen für G-Judokas. Dabei werden zum Beispiel Würge- und Hebeltechniken ausgespart, da diese bei eingeschränkter Bewegungskoordination zu Verletzungen führen könnten. Seit einigen Jahren kämpfen G-Judokas in drei Wettkampfklassen um Deutsche Meistertitel.


Thomas Hofmann, Abteilungsleiter Behindertensport im BC Mühlheim:
"Judo, ein Kampfsport? Bei uns geht es zärtlich zu!"


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Quelle:
Selbsthilfe 1/2009, S. 36-37
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2009