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SPORT/400: Sebastian Kessler - Die Winter-Paralympics in Sotschi sind das Ziel (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2013

Die Winter-Paralympics in Sotschi sind das Ziel
Sebastian Kessler ist eine Stütze der deutschen Sledge Eishockey-Nationalmannschaft

Von Tino Hermanns



Sebastian Kessler brennt für seinen Sport. Wenn der 32-Jährige über Sledge Eishockey spricht, leuchten seine Augen: "Per Zufall habe ich auf einer Messe Sledge Eishockey kennengelernt. Damals gab es in Deutschland nur eine Mannschaft. Die war in Hannover. Da bin ich drei Jahre lang zweimal in der Woche von Wiehl nach Hannover zum Training gefahren", erzählt Kessler. Sein Enthusiasmus für Eishockey mit Schlitten treibt ihn zu sportlichen und organisatorischen Höchstleistungen. Der Industriekaufmann, dem seit seiner Geburt beide Beine fehlen, wurde Nationalspieler, gründete in Wiehl und jetzt in Köln Sledge Eishockey-Mannschaften und ist Leiter des Fachbereichs Sledge Eishockey im Deutschen Rollstuhl-Sportverband.


Ohne Fleiß keine Nationalmannschaft

Sein bulliger, muskulöser Oberkörper beweist, er ist Leistungssportler. Doch mit zweimaligem Eishockeytraining pro Woche in Köln kommt man nicht an die nationale, geschweige denn internationale Spitze. "Man muss mindestens noch fünf bis sechs Stunden zusätzlich investieren. Ich fahre beispielsweise zweimal wöchentlich mit einem Schlitten, unter dem Rollen montiert sind, von Hückeswagen nach Marienheide. Das sind 42 Kilometer mit 200 Meter Höhenunterschied", erzählt Kessler. In seiner Mannschaft vom Kölner Eis-Klub (KEK) spielt der Stürmer meistens durch. Deshalb braucht er die gute Ausdauerleistungsfähigkeit, um sich in den kurzen Spielpausen schnell zu regenerieren.

Kessler gehört auch international zu den Top-Spielern. So wurde er bei der Weltmeisterschaft im schwedischen Örnsköldsvik in vier Partien zum Spieler des Tages gewählt und erhielt am Ende die Medaille für den stärksten Akteur des Turniers. Mit acht Treffern und fünf Vorlagen führte der damals 23-Jährige die Rangliste an. Seine schnelle, dynamische, körperbetonte, zielgerichtete und technisch ausgefeilte Spielweise beeindruckt auch heute. National betrachtet ist 32 für Sledge Eishockey noch kein Alter.

"In der Bundesliga gibt es Aktive, die sind Mitte 40. International aber hat man mit 40 keine Chance mehr. Ende 20, Anfang 30 ist eigentlich das beste Alter. Man ist noch schnell genug, hat aber schon genug Erfahrung", erläutert der Deutsche Meister des Jahres 2008.


Behinderte und Nicht-Behinderte spielen zusammen

In Deutschland dürfen in den Sledge Eishockey-Mannschaften auch Nicht-Behinderte mitspielen. Zwei Drittel des Teams allerdings müssen eine Behinderung nachweisen. Dabei ist es egal, ob es sich um Amputationen an Beinen oder Querschnittslähmungen handelt. Behinderungen an Armen sind eher Ausschlusskriterien, denn die Arme braucht man, um Vortrieb zu erzeugen und um den Puck zu führen, zu passen und zu schießen. "Die richtig guten Spieler sind vom Oberkörper her uneingeschränkt belastbar. Für den Vortrieb ist ein stabiler Rumpf mit guter Bauchmuskulatur extrem wichtig. Zum Steuern und für das Gleichgewicht ist das Gesäß unerlässlich. In erster Linie wird aus dem Hintern heraus gesteuert", so Kessler.


Nur mit strengen Regeln

Statt der Fortbewegung auf Schlittschuhen wie beim Eishockey, kommen die Sledge Eishockey-Spieler sitzend auf individuell angepassten Schlitten zum Einsatz. Zur Fortbewegung und zum Spiel dienen zwei kurze Eishockeyschläger, deren Griffenden mit Spikes bestückt sind. Spielregeln, Spielfeld, Spielverlauf und Kleidung entsprechen dem Eishockey mit vier Ausnahmen. Die Regelspieldauer ist 3x15 Minuten (Eishockey 3x20 min.), Angriffe auf den Gegner im 90 und 180 Grad Winkel sind verboten. Für Stiche mit dem Stockende geht man sofort duschen. Das Verletzungsrisiko ist einfach zu hoch, weil die Spikes wirklich scharf sind, damit sie sich richtig ins Eis krallen können. Gebremst wird gerne mal im Gegner. Da kochen ab und an die Emotionen hoch und die Fäuste fliegen. Das ist nichts anderes als im Eishockey auch. Dann sitzt man zwei Minuten auf der Strafbank und kann sich wieder abkühlen.


Vielversprechende Entwicklung

Auch wegen der unermüdlichen Arbeit von Sebastian Kessler gibt es einen Aufschwung im bundesdeutschen Sledge Eishockey. Inzwischen spielen sieben Teams in der Bundesliga. Weitere Mannschaften sind in Planung. In der Anfangsphase braucht man eine hohe Frustrationstoleranz, denn: "Der Sport ist nicht ganz so leicht zu lernen. Man braucht ein bis zwei Jahre, bis man in einer Mannschaft richtig mitspielen kann", meint Kessler.

International betrachtet boomt Sledge Eishockey förmlich. "In den letzten drei Jahren hat sich die Anzahl der aktiven Nationen verdoppelt. Unter anderem sind Süd- und Nord-Korea, Japan, Ungarn, Serbien, Österreich und die Schweiz dazu gekommen. Das ist gut für die Sportart, für uns bedeutet das aber, dass die Konkurrenz wächst", so Kessler.

Doch er und seine Mitstreiter schlafen nicht. Inzwischen haben sie Andreas Pokorny als Nationaltrainer gewinnen können. Der heute 54-Jährige stand u.a. 511 Mal in der obersten deutschen Eishockeyspielklasse auf dem Eis und spielte 23mal für die deutsche Nationalmannschaft. Viel spielerischer und taktischer Sachverstand steht zur Verfügung.

Auch auf Vereinsebene suchen die Sledge Eishockeyspieler den Schulterschluss mit den Hockeyspielern. So trainiert der KEK einmal pro Woche mit den "Alten Herren" der Kölner Haie zusammen. "Sie können uns richtig helfen. Sie machen beispielsweise mit unseren Nachwuchsspielern Schusstraining. Da kann man einiges lernen. Die Zusammenarbeit ist wirklich gut", erläutert Kessler.


Sledge Eishockey braucht mehr öffentliche Aufmerksamkeit

Doch ehrgeizig wie er nun mal ist, gibt sich der deutsche Weltklassespieler mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden. "Es wäre beispielsweise eine Riesengeschichte, wenn einige bekannte Eishockeyclubs Namenspatrone wären, die Sledge Eishockeyteams also unter deren Namen antreten könnten. Wir brauchen einfach mehr öffentliche Aufmerksamkeit", zeigt Kessler Zukunftsperspektiven auf. Er wünscht sich, dass demnächst 15, 16 Sledge Eishockeyteamrns in Deutschland spielen, so dass die nationale Konkurrenz größer und dadurch die Nationalmannschaft stärker wird. Dann sollte die Teilnahme an den Paralympics kein Problem mehr sein.

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Quelle:
Selbsthilfe 1/2013, S. 28-29
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2013