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TAGUNG/245: Willkür in der Psychopharmaka-Behandlung (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Januar 2009

KEH-Fachtagung in Berlin
Willkür in der Psychopharmaka-Behandlung

Von Gunnar Kreutner


Psychopharmaka werden in der stationären Behindertenhilfe mit einem hohen Risiko für Bewohnerinnen und Bewohner eingesetzt. Diese Kritik äußerte der Bochumer Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Prof. Dr. Klaus Hennicke Ende November bei der Fachtagung "Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung". Das Symposium fand im Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin-Lichtenberg statt.


Prof. Dr. Klaus Hennicke beruft sich mit seinem Vorwurf auf Ergebnisse einer eigenen Studie, die er 2006/2007 in Einrichtungen der Berliner Behindertenhilfe durchgeführt hat. Richtig angewendet seien Psychopharmaka unverzichtbar in der Therapie bei verhaltensauffälligen Menschen mit geistiger Behinderung, stellte Prof. Hennicke klar. Allerdings müssten gewisse fachliche Standards eingehalten werden, was in der Praxis nicht der Fall sei, sagte er vor rund 190 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im KEH-Festsaal. Verhaltensauffälligkeiten und Autismus waren die Schwerpunktthemen der Tagung, die gemeinsam vom KEH, der Psychotherapeuten-Kammer Berlin und dem Berliner Bezirksamt Pankow, Koordinierungsstelle Gesundheit und Soziales, veranstaltet wurde.

Eine Befragung von Mitarbeitenden und Gruppenleitern verschiedener Einrichtungen hat ergeben, dass die Psychopharmaka-Therapie bei Verhaltensauffälligkeiten in nahezu jeder Einrichtung, Wohnstätte und Wohngruppe - teilweise sogar im Einzelfall - nach eigenen Regeln gestaltet wird. Prof. Hennicke konnte keine übergreifenden Standards erkennen. "Offensichtlich wird zum Beispiel keine Evaluation der Behandlungen durchgeführt. Es gibt weder Behandlungspläne mit expliziten Therapiezielen noch nachvollziehbare Dokumentationen über die Wirkungen der Behandlung", so der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung.

In keiner der befragten Einrichtungen ordnen die behandelnden Ärzte spezielle Dokumentationsbogen an. "Das widerspricht allen Regeln medizinischer Behandlung", monierte der Professor von der Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. In der allgemeinen Tagesdokumentation würden die Wirkungen und Nebenwirkungen der Psychopharmaka höchstens dann erwähnt, wenn es zu spektakulären Auffälligkeiten komme. Nur vereinzelt hätten Mitarbeiter in Eigeninitiative spezielle Beobachtungsbogen entwickelt.


Mittel zweiter Wahl

Bedenklich findet Prof. Hennicke auch, dass die meisten Mitarbeiter ihre Bewohner nicht ohne Psychopharmaka kennen. "Sie haben keinerlei Vergleichsmöglichkeiten und sind auf Überlieferungen älterer Kollegen oder von Angehörigen angewiesen. Im Grunde können sie über Vor- und Nachteile, Wirkungen und Nebenwirkungen gar keine Auskunft geben." In vielen Fällen werden Psychopharmaka als einzige Therapiemöglichkeit verabreicht. In höchstens zehn Prozent der Fälle sind Medikamente Teil eines zusätzlichen Therapieangebots. "Dabei ist die Psychopharmaka-Therapie nicht immer das Mittel der ersten Wahl, um Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen zu beeinflussen", betont Klaus Hennicke. "Sie sollte erst zum Einsatz kommen, wenn eine umfassende pädagogisch-psychologische und psychiatrische Diagnostik durchgeführt wurde, und wenn alternative Interventionen als aussichtslos eingeschätzt oder bereits erfolglos angewendet wurden."


Rechtzeitiges Erkennen

Vor Missbrauch und Abhängigkeit von Substanzen und Medikamenten wie Psychopharmaka warnte der Betheler Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Michael Seidel. Es sei eine große Herausforderung für die Behindertenhilfe, Risikofaktoren und erste Anzeichen bei Betroffenen rechtzeitig zu erkennen und dann verantwortlich zu handeln "Abgesehen von den gesundheitlichen Folgen schränken Missbrauch und erst recht eine Abhängigkeit die individuelle Fähigkeit zur Selbstbestimmung und damit zur gesellschaftlichen Teilhabe erheblich ein", so Prof. Seidel.


Lieblosigkeit

Der Geschäftsführer des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe kritisierte die gegenwärtige Auslegung des Begriffs der Selbstbestimmung in der Behindertenhilfe, da sie Menschen mit geistiger Behinderung schaden könne. Es sei ein Missverständnis, dass die Anerkennung von Selbstbestimmung gleichbedeutend sei mit Laisser-faire, mit dem Verzicht auf eine Haltung der Achtsamkeit und Fürsorglichkeit. "Laisser-faire ist im Gegenteil Lieblosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Es gibt eine Art, von Selbstbestimmung zu reden, die dem neoliberalen Begriff von Eigenverantwortung und damit der Entbindung der Gesellschaft von ihren Fürsorgepflichten für Schwache, Kranke und Hilflose entspricht", sagte Michael Seidel.

Losgelöst von der medikamentösen Therapie von Verhaltensauffälligkeiten, erläuterte der Diplom-Pädagoge Carlos Escalera die Gründe für aggressives Verhalten. Aggressionen entstünden bei Betroffenen aus der Erfahrung der Isolation, aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus. "Die bei allen Menschen vorhandene Notwendigkeit von Aggressionen ist im Falle einer geistigen Behinderung um ein Vielfaches höher", sagte der Hamburger Psychotherapie-Experte, der in einem Workshop praktische Übungen zur Deeskalation anbot.


Aggression und Angst

Carlos Escalera empfahl den Experten, für die Begleitung, Behandlung und Therapie von Menschen mit aggressiven Verhaltensweisen das subjektive Empfinden der Störungen und die individuellen Bewältigungs-Strategien der Betroffenen zu berücksichtigen. Oft sei der Grund für Aggressivität Angst. "Der Bewohner empfindet sich selbst vielleicht nicht als so aggressiv. Ich habe kein Verständnis für die dämliche Aussage 'Du brauchst keine Angst zu haben!' Man muss diese Angst ernst nehmen! Kein Verhalten ist sinnlos." Wenn ein Betroffener sich selbst schlage, tue er dies nicht, weil er sich spüren möchte, sondern weil er sich anders spüren wolle. "Vielleicht möchte er einfach nur den Tinnitus loswerden, kann es aber nicht sagen. Natürlich ist es für uns Mitarbeiter sehr schwierig, uns in der völlig fremden Wirklichkeit eines behinderten Menschen zurechtzufinden", so Escalera.


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Quelle:
DER RING, Januar 2009, S. 16-17
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2009