Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

TAGUNG/262: Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - November 2009

Der einzigartigen Persönlichkeit auf der Spur
Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen

Von Robert Burg


"Man kann nicht nicht kommunizieren", ist Dr. Ute Knüpfer-Banerjee überzeugt. "Egal, wie stark die sprachlichen Einschränkungen sind." Die Hamburger Ärztin für Rehabilitationsmedizin sprach Ende September auf der ersten öffentlichen Tagung des Betheler Arbeitsfeldes "Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen" im Assapheum in Bielefeld-Bethel über Besonderheiten in der Kommunikation.


Für eine intensive Auseinandersetzung mit der Biografie eines Patienten plädierte Dr. Ute Knüpfer-Banerjee. Schließlich sei das Wissen um die Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens sammele, der Schlüssel für das Verständnis seiner Handlungen. Doch leider werde nicht nachvollziehbares Verhalten von Patienten oft aus Unkenntnis falsch gedeutet. "In einer Einrichtung suchten die Mitarbeitenden das Gespräch mit einem trinkenden Patienten", berichtete die Medizinerin aus ihrer beruflichen Praxis. "Er versprach, damit aufzuhören, aber wenig später hing er wieder an der Flasche. Die Mitarbeitenden ärgerten sich über den Mangel an Aufrichtigkeit und Einsicht. Dabei hatte niemand bemerkt, dass der Patient über eine Gedächtnisspanne von fünf Minuten verfügt." Eine vermeidbare Konfliktsituation: Der Mann war einsichtig - hatte die Absprache aber sofort wieder vergessen. Nicht selten gelte ein Patient als "bockig", der Opfer von Kommunikationsfehlern in seiner Umgebung sei.


Neue Identität

"Viele Reha-Patienten scheitern an den eigenen, zu hohen Zielvorgaben oder sind gehemmt, weil sie sich schämen", betonte Prof. Dr. Wolfgang Fries. Der Neurologe sprach im Assapheum über Möglichkeiten und Grenzen der Rehabilitation. Auf das Ereignis, das die Hirnschädigung verursacht hat, folgt eine oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit der neuen Identität. "Deshalb ist jede therapeutische Situation auch eine Konfrontation mit den eigenen Defiziten", so Prof. Fries, der eine neurologische Praxis in München betreibt. Ob Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen am Leben teilhaben könnten, entschieden nicht nur der Grad der Beeinträchtigung, sondern auch "Umweltfaktoren": "Wenn jemand im dritten Stock wohnt und mit seinem Therapeuten das Laufen trainiert, dann ist es ein toller Erfolg, zwei Stockwerke zu schaffen. Seiner Mobilität nutzt das aber wenig."

"Hirnfunktionen zu verlieren bedeutet, Identität zu verlieren", betonte Pastor Bernward Wolf. "Trotzdem bleibt eine einzigartige Persönlichkeit erhalten, der wir auf die Spur kommen müssen." Der stellvertretende Betheler Vorstandsvorsitzende befasste sich mit ethischen Fragestellungen in der Betreuung. In den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel sind die Hilfen für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen nach dem Hospiz-Bereich das jüngste Arbeitsfeld. Gerade deshalb sei es wichtig, qualifizierte Hilfen für eine lange vernachlässigte, aber stetig wachsende Zielgruppe anzubieten, betonte Dr. Günther Wienberg aus dem Bethel-Vorstand. "Mittlerweile gibt es in Bethel ein differenziertes Hilfenetz, in dem Einrichtungen aus allen Stiftungsbereichen zusammenarbeiten."


Eltern-Kind-Muster

In den nachmittäglichen Workshops kamen Angehörige, Profis und Betroffene miteinander ins Gespräch. So ging es unter der Überschrift "Du bist mir fremd" um die Neugestaltung von Beziehungen zu vertrauten Menschen. "Betroffene müssen sich in ihre Hilfebedürftigkeit hineinfinden, Angehörige müssen Allround-Profis werden", so Evelyn Iben von der Betheler Fachklinik Rehoboth. "Bestehende Paarbeziehungen werden abgelöst von Verhältnissen im Eltern-Kind-Muster", bestätigte auch Psychologe Dr. Hartwig Kulke. Dabei fehle den Lebenspartnern der Austausch, und sie müssten sich "erwachsene" Kommunikationspartner suchen. "Man soll den betroffenen Menschen als Freund behalten, muss aber auch neue Wege gehen", empfahl Dr. Markus Schulz, Arzt und Angehöriger. Bei dem Partner sei das Bild des Menschen, wie er früher einmal war, oft "eingefroren": "Kommen Sie in der Realität an!", forderte Dr. Markus Schulz. "Die Paar-Beziehung ist bereits zu Ende - seien Sie konstruktiv, machen Sie etwas aus der neuen Situation."

Allerlei Nützliches für den therapeutischen Alltag konnten die Teilnehmenden an den Ständen im Assapheum entdecken. So hatten Schülerinnen und Schüler der Ergotherapieschule Eckardtsheim, die zum Ev. Krankenhaus Bielefeld gehört, eine Knie-Schlaufe entwickelt, mit deren Hilfe ein Reißverschluss einhändig bedient werden kann. Auch ein Handtuch mit Griff oder eine Schüssel mit integriertem Sparschäler erleichtern das Leben von motorisch eingeschränkten Menschen. In einem anderen Raum erläuterte Thorsten Jäschke, Mitarbeiter im Haus Rehoboth, warum Golf ein ideales Sportangebot für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen ist. "Die Reaktionsgeschwindigkeit spielt keine Rolle, weil der Ball ruht." Da man den Schläger mit einer Hand führen kann, können auch Patienten mit einer halbseitigen Lähmung mitmachen. Ein weiterer Vorteil: "Viele sind frustriert, weil sie beim Sport ihr Können mit alten Leistungen vergleichen. Golfen dagegen ist für die meisten neu."

Weitere Informationen: www.weiter-leben.de


*


Quelle:
DER RING, November 2009, S. 10-11
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Redaktion: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld
Telefon: 0521/144-35 12, Fax: 0521/144-22 74
E-Mail: presse@bethel.de
Internet: www.bethel.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2009