DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - August 2011
Fachtagung "Behinderung und Migration"
Wenig Vertrauen in deutsches Hilfesystem
Von Robert Burg
"Wir müssen einen sensibleren Umgang mit uns fremden Kulturen lernen", forderte Ellen Karacayli bei einer Fachtagung Anfang Juli in der Neuen Schmiede in Bielefeld-Bethel. Das Thema "Behinderung und Migration" stand zur Debatte. Rund 100 Angehörige und Fachleute tauschten sich aus.
Hier gebe es noch Defizite, so die Soziologin Karacayli aus Bethel. Andererseits müssten auch deutsche Strukturen, wie etwa das Einhalten von Terminen, klar und deutlich vermittelt werden. Wie man es auch dreht und wendet, Tatsache ist: Viele Migranten finden den Weg zu deutschen Versorgungs- oder Unterstützungsangeboten nicht. "Zahlreiche Stolpersteine erschweren oder verhindern den Zugang", stellte Ellen Karacayli fest. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Filiz Kutluer hat sie Bielefelder Zuwandererfamilien befragt, beraten und begleitet. Beide Wissenschaftlerinnen sind selbst Migrantinnen, stammen aus Russland und der Türkei. Ihre von der Stiftung Wohlfahrtspflege geförderte und von der Uni Köln begleitete Studie wurde jetzt in Bethel vorgestellt.
Doch es gibt auch Ausnahmen: Beispielsweise übertrifft die Zahl der Förderschüler mit Migrationshintergrund mit 32 Prozent den statistischen Bevölkerungsanteil sogar. Aber nach der Schulzeit bricht der Kontakt zwischen Institutionen und behinderten Migranten meist ab: In der Betheler Behindertenhilfe stammen beispielsweise lediglich zwei Prozent der betreuten Menschen mit Behinderung aus Migrantenfamilien. An dieser Schnittstelle gebe es einen besonderen Handlungsbedarf, betonte auch der nordrhein-westfälische Landesbehindertenbeauftragte Norbert Killewald in Bethel. Der Politiker sicherte zu, das Thema "Migration und Behinderung" mit nach Düsseldorf zu nehmen. Er will sich vor allem für eine klare Regelung der Frühförderung einsetzen. Günter Garbrecht, Abgeordneter im NRW-Landtag und stellvertretender Vorsitzender der Stiftung Wohlfahrtspflege, forderte, Migranten stärker in inklusive Prozesse einzubeziehen. Im politischen Diskurs sei das Thema "noch zu wenig im Fokus". Auch Prof. Dr. Barbara Fornefeld von der Forschungswerkstatt "Migration und Behinderung" der Universität Köln unterstrich die hohe gesellschaftliche Relevanz des Themas. Sie fordert mehr Mut zur Vielfalt in der Gesellschaft.
Das deutsche Hilfenetz ist fein verästelt, es gibt eine Vielzahl an Zuständigkeiten. Das sei für viele Migranten verwirrend, so Ellen Karacayli: "In vielen Ländern gibt es für die Familien einen zentralen Ansprechpartner. Meist ist das der Hausarzt, der Therapien empfiehlt und Zugang zu Institutionen gewährt." Ist ein solcher Mensch einmal gefunden, wird er schnell zum Gewährsmann für alle Anliegen. Das kann für Mitarbeitende in Einrichtungen zu einer überfordernden Aufgabe werden. Ein behindertes Kind mit Migrationshintergrund ist fester Bestandteil eines familiären Netzwerks. Kommt es in eine stationäre Einrichtung, dehnt sich die Lebenswelt der gesamten Familie auf das Heim aus.
Konfliktpunkte
Geradezu vorprogrammierte Konfliktpunkte sind unterschiedliche Essgewohnheiten in stationären Einrichtungen. "Hier geben Aufwand und Kosten natürlich den Rahmen vor", weiß die Soziologin. "Aber oft reichen kleine Dinge, um Zufriedenheit zu schaffen." Allerdings sei ein guter Leumund schnell verspielt, weil die Migranten-Communities eng verwoben seien. Negative Erfahrungen mit Einrichtungen und Diensten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und würden oftmals verallgemeinert. Oft mangele es an Vertrauen in das hochkomplexe und als undurchschaubar empfundene deutsche Hilfesystem, erfuhren Ellen Karacayli und Filiz Kutluer bei ihrer Befragung. Die Wissenschaftlerinnen stellten in ihrer Untersuchung aber auch fest, dass die christliche Prägung diakonischer Einrichtungen überwiegend positiv bewertet werde, auch von Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften. Ausschlaggebend sei hier die Betonung der zwischenmenschlichen Qualität "Nächstenliebe."
Nicht jedes Problem dürfe kulturell erklärt werden, warnte Ellen Karacayli, auch wenn kulturelle Missverständnisse neben mangelhaften Sprachkenntnissen die häufigste Ursache für Krisen zwischen Angehörigen und Mitarbeitern in Pflege und Betreuung seien. "Wenn die Frage, ob ein Kind mit Messer und Gabel essen könne, verneint wird, denkt der Mitarbeiter sofort an eine motorische Störung." Die Information, dass es in der Familie hingegen üblich sei, mit dem Löffel zu essen, verändere die Sachlage natürlich erheblich. Auch um solchen Fehleinschätzungen vorzubeugen, forderte Bethel-Geschäftsführer Michael Conty ein Case-Management, das Zuwandererfamilien begleitet und berät: "Wir brauchen speziell ausgebildete transkulturelle Multiplikatoren, die für Kommunen oder Träger arbeiten und Informationen weitergeben."
Vermehrte Anfragen
Einige Angebote in Bethel werden schon jetzt von behinderten Menschen mit Migrationshintergrund gut genutzt. Derzeit sind das insbesondere die Angebote für Kinder und Jugendliche - etwa die Frühförderung oder die Angebote der Häuser Arche/Noah sowie die der Kurzzeiteinrichtung Brücke - und diejenigen für Menschen mit schweren Behinderungen. Auch in der Jugendhilfe haben Menschen aus Zuwandererfamilien einen hohen Anteil, beim Sozialdienst in Bielefeld ist es sogar jeder zweite Klient. Aber auch ambulante Betreuungsangebote, etwa in den Stadtteilen Sennestadt und Brackwede oder im Bielefelder Westen verzeichnen vermehrt Aufnahmeanfragen von Zuwanderern. Auch deshalb wird für das kommende Jahr ein Mitarbeiter-Curriculum zum Umgang mit Klienten und Angehörigen mit Migrationshintergrund entwickelt.
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Quelle:
DER RING, August 2011, S. 12-13
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2011