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VERBAND/676: Behinderung und Migration - Unterstützungsangebote in Bethel (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Juli 2011

Behinderung und Migration
"Viele haben Angst, ihr Kind nicht wiederzubekommen"

Von Robert Burg


In Deutschland gibt es eine Vielfalt an Angeboten für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen. Doch eine große und stetig wachsende Bevölkerungsgruppe findet kaum Zugang zu den komplexen Hilfenetzen: Behinderte Menschen mit Migrationshintergrund nehmen Einrichtungen und ambulante Dienste selten in Anspruch. Dabei gibt es für sie passgenaue Unterstützung - auch in Bethel.


Hermann Weber kam in Kasachstan auf die Welt. Als er drei Jahre alt war, zog die Familie nach Bad Salzuflen bei Bielefeld. Doch bereits im Kindergarten machten sich erste Probleme bemerkbar: In der geistigen Entwicklung konnte Hermann Weber nicht mit seinen Altersgenossen Schritt halten. Heute lebt der 18-Jährige in der Ortschaft Bethel im Haus Regenbogen 2, in einer Wohngruppe mit fünf anderen jungen Menschen. Außerdem besucht er die Abschlussstufe der Mamre-Patmos-Förderschule. "Früher hatte er keine Freunde und wurde in der Schule gehänselt", berichtet Galina Weber, Hermanns Mutter. Das ist jetzt anders: In Bethel hat der Jugendliche schnell Anschluss gefunden. "Und sogar eine schöne Freundin!", fügt Galina Weber stolz hinzu und wirft einen Seitenblick auf ihren Sohn, der sich mit roten Ohren und verlegenem Grinsen in die Sofakissen drückt. Die beiden sehen sich regelmäßig. Oft besucht Galina Weber die Wohngruppe und lässt sich in der gemütlichen Sofaecke erzählen, was ihr zunehmend selbstständiger Sohn in letzter Zeit erlebt hat. Mittlerweile kann Hermann Weber die Besuche sogar erwidern: Alleine fährt er mit Straßenbahn und Zug nach Bad Salzuflen. Von den Mitarbeitenden im Haus Regenbogen hat er gelernt, kleine Mahlzeiten zuzubereiten, Wäsche zu waschen und mit Geld umzugehen.


Missverständnisse

Aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse war die Verständigung zwischen Galina Weber und den Ärzten, die ihren Sohn untersuchten, von Missverständnissen, Unsicherheit und Fehldeutung geprägt. Daher blieb pädagogische und therapeutische Entwicklungsarbeit dem Jungen lange vorenthalten. Zudem waren die professionellen deutschen Hilfeanbieter Galina Weber nicht geheuer: "Ich hab befürchtet, dass mein Kind in einer Einrichtung nicht so gut versorgt wird. Das denken bei uns viele."

In Bielefeld hat jeder vierte Bürger einen Migrationshintergrund, was knapp über dem Bundesdurchschnitt liegt. Trotzdem kommen weniger als zwei Prozent der betreuten Menschen mit Behinderung aus Migrantenfamilien. Zu ihnen gehört auch Deniz Eraslan. Sie und ihre Schwester Emel haben gute Erfahrungen mit den Betheler Diensten gemacht. Deniz Eraslan wurde vor 30 Jahren gesund geboren, trug aber aus einer Meningitis-Erkrankung eine starke geistige Behinderung davon. Zudem weist ihr Verhalten autistische Züge auf. Seit 16 Jahren wird sie von Bethel betreut. Früher war es nicht einfach, sich um sie zu kümmern, weder für Profis noch für Angehörige. "Deniz war unheimlich aggressiv", erinnert sich Emel Eraslan, die die gesetzliche Betreuerin ihrer Schwester ist. Diese versuchte häufig wegzulaufen, konnte, so hieß es damals, keine Förderschule besuchen. Nach einem besonders schweren Wutanfall suchte sich die Familie Hilfe.

Über die Betheler Kinderklinik kam ein Kontakt zu einem ambulanten Dienst in Bethel zustande. Durch intensive Betreuung nahm die Aggressivität ab, dennoch benötigt Deniz Eraslan weiterhin ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Heute lebt sie zu Hause, ihre Mutter sowie ihre Schwester kümmern sich um sie, stundenweise unterstützt vom Familienunterstützenden Dienst Bethel (FuD). "Die Betreuer aus Bethel entlasten uns sehr, vor allem meine Mutter", sagt Emel Eraslan, die als Studentin häufig zwischen Bielefeld und Münster pendelt. "Es ist gut, dass jemand zu uns nach Hause kommt. Der Lebensmittelpunkt von Deniz soll in der Familie bleiben." Jetzt kümmert sich FuD-Mitarbeiterin Anika Ennen vier Stunden pro Woche um die behinderte Frau.


Mangelndes Vertrauen

Unwissenheit und mangelndes Vertrauen seien die wesentlichen Gründe, warum Migranten selten professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, meint Emel Eraslan. "Viele haben Angst, ihr Kind nicht wiederzubekommen, wenn es erst einmal in einer Einrichtung ist." Hinzu kämen kulturelle Gepflogenheiten: "Wenn einer von uns Hilfe benötigt, nehmen wir das selbst in die Hand." Eine stationäre Versorgung kam für sie nie in Frage. "Viele türkische Familien würden eher auf ambulante Dienste zurückgreifen", vermutet sie. Ebenfalls wichtig seien sprachkompetente Mitarbeiter.

Galina Weber und Emel Eraslan besuchen regelmäßig das Café 3b an der Bielefelder Feilenstraße. Hier tauschen sich alle zwei Wochen Angehörige von Menschen mit Behinderung aus. Ein türkischer "Stammtisch" wird von Filiz Kutluer begleitet, den russischen Angehörigen steht Ellen Karacayli als Bethel-Ansprechpartnerin zur Verfügung. Die beiden Soziologinnen türkischer und russischer Herkunft vermitteln zwischen Bethel, kommunalen Einrichtungen, Schulen, Kostenträgern und den Familien. Ihre Stellen werden aus Projektmitteln finanziert, die zu großen Teilen von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW gedeckt werden.


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Quelle:
DER RING, Juli 2011, S. 6-7
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Redaktion: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2011