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VERBAND/697: Sind wir noch "Echte Selbsthilfe"? (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2012

KLARTEXT VON DR. MARTIN DANNER

Sind wir noch "Echte Selbsthilfe"?

Von Strukturen, neuen Definitionen und einer wackelnden Förderungswürdigkeit



Die Selbsthilfe hat sich aus kleinen Gruppen vor Ort zu einer gesundheits- und sozialpolitisch relevanten Bewegung entwickelt, die natürlich koordiniert und gesteuert werden will. Denn nur so können funktionierende Strukturen gebildet und eine effiziente Arbeitsweise aufrechterhalten werden, die dem immer größer werdenden Aufgabengebiet gerecht werden. Warum aber gerade das die Förderungswürdigkeit als "echte Selbsthilfe" gefährden soll, ist unverständlich. Es ist Zeit, sich einmal die Frage zu stellen, wer eigentlich definieren darf, was die "wirkliche, echte, einzig wahre Selbsthilfe" ist.


Selbsthilfe wird immer vielschichtig sein

Betrachtet man die Mitgliedschaft der BAG SELBSTHILFE, dann zeigt sich sehr schnell, dass die Verbandsstrukturen äußerst heterogen sind: Es gibt rein ehrenamtlich geführte Verbände, Verbände mit hauptamtlichem Personal, Verbände, die Träger von Einrichtungen sind, solche, die dies gerade ablehnen und so weiter und so weiter. Darüber hinaus existieren zentralistisch organisierte Verbände ohne rechtsfähige Untergliederungen, stark föderal aufgebaute Verbände mit dezentralen Strukturen entweder auf der Landes- oder örtlichen Ebene. Zudem gibt es Verbände mit einem dezentralen Ansprechpartnersystem, solche mit einem Regionalleitersystem und solche mit fachlich ausdifferenzierten Gesprächskreisen. Manche Verbände verfolgen einen behindertenpolitischen Schwerpunkt, andere streben vor allem gesundheitspolitische Veränderungen an und wieder andere konzentrieren sich vorwiegend auf die Aspekte der Beratung und des gegenseitigen Austausches. Die Liste der Unterscheidungen ließe sich beliebig fortsetzen.


Definitionsproblem Selbsthilfe

Gemeinhin wird die Vielgestaltigkeit der Selbsthilfe durchaus als Stärke angesehen:

Weil die Problemstellungen in verschiedenen Indikationsbereichen unterschiedlich sind, sich die finanziellen und personellen Ressourcen unterscheiden und weil auch die Prävalenz von Erkrankungen und Behinderungen stark differiert, liegt es auf der Hand, dass auch die Organisationsstrukturen der Selbsthilfe und ihre Zielsetzungen jeweils den vorhandenen Gegebenheiten anzupassen sind. Ein Verbandsraster für alle wäre formal zwar übersichtlich aber letztlich ineffizient.

Die Vielgestaltigkeit der Selbsthilfe bringt aber auch Probleme mit sich. So fällt es nicht leicht zu definieren, was denn eigentlich "die Selbsthilfe" ist. Nicht selten kommt es sogar zu Streitigkeiten, bspw. ob die "echte" Selbsthilfe auch Angehörige von chronisch kranken und behinderten Menschen beinhaltet, ob Verbände, die selbst als Leistungserbringer im Gesundheitswesen tätig werden auch "echte" Selbsthilfe seien und ob "echte" Selbsthilfe auf die Unterstützung durch hauptamtliches Fachpersonal zurückgreifen dürfe.

Derartige Diskussionen führen dann in aller Regel zu höchst unerfreulichen Streitereien aber keinesfalls zu einer Lösung des Definitionsproblems: Was denn an der "echten" Selbsthilfe "echt" sein soll, bleibt ungeklärt.


Indikationsübergreifender Austausch soll nicht mehr "echte Selbsthilfe" sein

Auf der anderen Seite darf nicht unterschlagen werden, dass es durchaus einen Kernbereich dessen gibt, was Gesundheitsselbsthilfe ausmacht: Es geht immer um Organisationen, die den Austausch und die gegenseitige Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen sowie deren Angehörigen zum Gegenstand haben. Selbsthilfeorganisationen werden von Betroffenen geführt und nicht von Fachleuten für Betroffene. Strukturelles Merkmal des Austausches unter Betroffenen sind Selbsthilfegruppen, wobei Selbsthilfeorganisationen sich zusätzlich dadurch auszeichnen, dass sie auf eine gemeinsame Interessenvertretung ausgerichtet sind.

Im Großen und Ganzen greift der Leitfaden Selbsthilfeförderung zu § 20c SGB V diese Selbstbeschreibung auf. Kurioserweise haben sich die Krankenkassen zu bestimmten Selbsthilfeorganisationen eine eigene Deutung einfallen lassen: Geht es um einen indikationsübergreifenden Austausch unter Betroffenen, dann soll es sich nicht mehr um "echte" (?) Selbsthilfe handeln, sondern um "Dachverbände", die eingeschränkt förderfähig sein sollen. Der Begriff des "Dachverbandes" entstammt aus dem Vereinsrecht und besagt nichts anderes, als dass verschiedene Vereine Mitglieder eines Gesamtvereines sind. Mit der Frage, ob das Selbsthilfeprinzip gilt oder nicht, hat dieser Begriff gar nichts zu tun: Schließen sich rechtsfähige Selbsthilfegruppen in einem Indikationsgebiet zu einem Selbsthilfeverband zusammen, dann wird dieser Verband unproblematisch als Selbsthilfeorganisation anerkannt.


Klarheit bei der Selbsthilfeförderung vom Gesetzgeber gefordert

Völlig zu Recht weisen die Landesarbeitsgemeinschaften in der BAG SELBSTHILFE darauf hin, dass auch sie Selbsthilfeorganisationen sind - bislang ohne Erfolg. Schon in dieser Diskussion zur Ausgestaltung des Leitfadens Selbsthilfeförderung ist kritisch zu fragen "Wer sind wir eigentlich und wer darf sagen, wer wir sind?".

Auch der Gesetzgeber sollte sich bei der Neufassung § 20c SGB V einmal dieser Frage stellen. Zwar legt § 20c SGB V fest, dass Selbsthilfegruppen, -organisationen und -kontaktstellen von den gesetzlichen Krankenkassen zu fördern sind. Hinsichtlich der Beteiligungsrechte an der Mittelvergabe wird dann aber nur noch von den "Vertretungen der Selbsthilfe" gesprochen. Die Vertretungen der Selbsthilfekontaktstellen sind jedoch gerade nicht der Selbsthilfe, sondern der Selbsthilfeunterstützung zuzuordnen. Gerade bei der Vergabe der Fördermittel können die Interessen der Selbsthilfe und der Selbsthilfeunterstützung durchaus gegenläufig sein. Wer die Selbsthilfeunterstützung per Definition zur Selbsthilfe macht, der begeht nicht nur eine begriffliche Ungenauigkeit, sondern verändert Rollenverständnisse.


Seit wann ist virtuelle Selbsthilfe eher Selbsthilfe als die Arbeit eines Dachverbandes?

Aktuell haben wir es mit einem neuen Vorstoß zu tun, der die Definition von Selbsthilfeorganisationen betrifft. Unter dem neuen Topos "gemeinschaftliche Selbsthilfe" ordnet die NAKOS nun auch die "virtuelle" Selbsthilfe der Selbsthilfe zu, während als Selbsthilfeorganisationen nur noch solche Verbände gelten sollen, die keine rechtsfähigen Untergliederungen haben. Bestehen solche rechtsfähigen Strukturen, dann handele es sich um "Selbsthilfedachorganisationen".

Sowohl im Rahmen der diesjährigen Geschäftsführungskonferenz der BAG SELBSTHILFE als auch in der Mitgliederversammlung sind diese neue "Einteilung" der Selbsthilfe und der Alleingang der NAKOS auf einhellige Ablehnung gestoßen. Die NAKOS war schon im Vorfeld aufgefordert worden, entsprechende Positionspapiere zurück zu nehmen. Das Vorgehen der NAKOS wird auch in den nächsten Wochen noch aufzuarbeiten sein.

Für die BAG SELBSTHILFE und ihre Mitgliedsverbände muss jedoch zunächst einmal gelten: Selbstbestimmung beginnt schon bei der Definition des eigenen Tuns.

Schon die Beschreibung dessen, was wir sind, dürfen wir nicht anderen überlassen!


DER AUTOR
Dr. Martin Danner
ist Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE.

*

Quelle:
Selbsthilfe 2/2012, S. 6-7
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Telefon: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2012