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VERBAND/714: Aufgabe von mühsam erstrittenem Terrain (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2014

Aufgabe von mühsam erstrittenem Terrain

Klartext von Dr. Martin Danner



Vor 13 Jahren ist das SGB IX in Kraft getreten. Es gilt als ein Meilenstein zur Förderung von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft.


Auch für die Selbsthilfeorganisationen behinderter und chronisch kranker Menschen brachte das Gesetz eine Vielzahl von Beteiligungsrechten, insbesondere die Beteiligung an der Erarbeitung der Gemeinsamen Empfehlungen der Rehabilitationsträger bei der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR).

Viel Geduld und Überzeugungskraft war gefragt, um die Beteiligungsmöglichkeiten der Betroffenenverbände zu erstreiten. Im zerklüfteten System der Rehabilitationssysteme in Deutschland galt es als ein Durchbruch der Betroffenenorientierung, dass die Verbände behinderter und chronisch kranker Menschen mitwirken können an den Regelungen, die das Zusammenwirken von Krankenversicherung, Rentenversicherung und allen anderen Rehabilitationsträgern bestimmen. Seither wirken Betroffene in zahlreichen Gremien der BAR mit, es wurden Gemeinsame Empfehlungen der Rehabilitationsträger erarbeitet zur Selbsthilfeförderung, zur Prävention, zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zu vielen weiteren Themen.


Mitwirkung ja, aber leider kein Veto- oder Entscheidungsrecht

Für viele wurde die Fahrt nach Frankfurt zur BAR zum festen und regelmäßigen Bestandteil des Terminkalenders. Allerdings hat sich die anfängliche Euphorie nach und nach doch deutlich gelegt. Was zunächst als Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik gepriesen wurde, entwickelte sich nach und nach zu einer doch eher ernüchternden Veranstaltung. Zum einen zeigte sich, dass die Gemeinsamen Empfehlungen der Rehabilitationsträger inhaltlich nur einen geringen Regelungsgehalt aufweisen, da sich die Rehabilitationsträger oftmals nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen wollten. Zum anderen wurde den Betroffenenvertreterinnen und -vertretern schmerzlich bewusst, dass eine Mitwirkungsmöglichkeit eben kein Veto- oder Entscheidungsrecht bedeutet. Schließlich zeigte sich auch, dass selbst die wenigen klaren Maßgaben der Empfehlungen in der Rechtsanwendungspraxis keine große Rolle spielten. Es wurde somit eine Beteiligung erstritten, die zwar vielfältige Einsichten in die Funktionsweisen des Systems der Rehabilitation, teilweise auch Respekt und Anerkennung brachte, die aber letztlich vor allem die Ressourcen der Verbände, insbesondere aber die Ressourcen der ehrenamtlich Tätigen in Anspruch nahm. Mehr und mehr entwickelte sich die Gremienarbeit zu einem Geduldspiel. Während das hauptamtliche Personal der Rehabilitationsträger in seiner Arbeitszeit den Methodenkoffer von Verhandlungstaktik, Verzögerung und Beschleunigung von Verfahren gekonnt zur Anwendung brachte, stellte sich so mancher Ehrenamtliche die Frage, ob die Lebenszeit in den Gremien denn tatsächlich optimal genutzt wurde oder ob die Beratungsarbeit im eigenen Verband oder sonstige nutzvolle Aktivitäten nicht völlig zu Unrecht auf der Strecke geblieben sind.


Immer mehr Gremienaufgaben für Ehrenamtliche - Tendenz steigend!

Die Beteiligungsrechte hinsichtlich der BAR-Empfehlungen sind nur ein Beispiel einer umfassenden Entwicklung. Im Laufe der letzten Jahre konnte in der Gesundheits- und Sozialpolitik eine Welle der Beteiligung ausgelöst werden, die gewiss als große Erfolgsgeschichte der Selbsthilfebewegung in Deutschland aufgefasst werden kann. Die Beteiligungsrechte breiteten sich von Reform zu Reform immer weiter aus und erfassten höchst komplexe Bereiche wie den der Qualitätssicherung der Versorgung oder der Bedarfsplanung. Die Konsequenz dieser Entwicklung war aber nicht nur ein Gewinn an Einfluss, sondern ein immer größer werdender Aufwand und Abstimmungs- und Schulungsbedarf in der Selbsthilfe. Immer häufiger stellt sich die Frage, wo denn all die Leute herkommen sollen, die sich für die Mitwirkung in den Gremien fit machen möchten, die ihre Lebenszeit investieren, um im Räderwerk des Systems professionell arbeitender Funktionäre die Stimme der Betroffenen zu erheben.

Gerade kleinere Selbsthilfeorganisationen sind regelmäßig damit überfordert, überall präsent zu sein, wo eine Mitwirkung möglich ist.


Refinanzierung durch Projektarbeit bindet genau die Ressourcen, die zur Gremienarbeit benötigt werden

Für die BAG SELBSTHILFE als Dachverband ergibt sich in vielen Gremien die Aufgabe, doch noch irgendwie die Fahne der Betroffenenvertretung hochzuhalten, wo die Mitgliedsverbände niemanden mehr entsenden können oder wollen. Wo eine Erstattung von Reisekosten und Aufwandsentschädigungen nicht vorgesehen ist, steht die bange Frage im Raum, wie das alles denn noch finanziert werden soll. Zwar ist es konsequent, dass mit der Beteiligung auch eine hinreichende Finanzierung der Beteiligung eingefordert wird. Leider wird dieser notwendige Zusammenhang in der Politik und in der Selbstverwaltung zumeist nicht gesehen oder bewusst negiert. So heißt es dann: "Wer Beteiligung fordert, der muss sie auch umsetzen können. Wer Beteiligung nicht umsetzen kann, der braucht sie aucn nicht zu fordern."

Gern wird auch darauf verwiesen, dass man doch auch Projekte für Zuwendungsgeber umsetzen könne, um sich finanziell zu stabilisieren. Wer sich aber zu Projektarbeit verpflichtet, der hat erst recht weder Zeit noch personelle Ressourcen, Beteiligung umzusetzen.

Spätestens an diesem Punkt sollten die Alarmsirenen schrillen: Wird das Feld der Beteiligung immer größer, fehlt es aber an den notwendigen freien Ressourcen - sowohl hinsichtlich der Zahl der Ehrenamtlichen als auch hinsichtlich der Finanzen - dann schlägt die Weiterentwicklung der Beteiligung um. Selbsthilfe beginnt dann, unkontrolliert zu diffundieren, sich finanziell zu überfordern und die Aktiven in fragwürdiger Gremienarbeit zu verschleißen.

Eine Neuorientierung ist erforderlich. Es ist genau zu analysieren, welche Beteiligungsmöglichkeiten erfolgversprechend sind, wo es sich lohnt, Kraft und Energie zu investieren. Stets muss im Blick behalten werden, in welchem Umfang man sich Mitwirkung erlauben will und kann.


Strukturkommission prüft Aktionsradius und justiert Arbeitsschwerpunkte

Als Dachverband befindet sich die BAG SELBSTHILFE am Scheideweg. Politik und Selbstverwaltung schneiden den Zugang zu freien Mitteln ab und binden den Verband an die Projektarbeit. Beteiligungsrechte und der Unterstützungsbedarf der Mitgliedsverbände nehmen stetig zu. Auch die finanzielle Belastbarkeit der Mitgliedschaft stößt an ihre Grenzen. Beteiligungserfolge dürfen in dieser Situation nicht zur Falle werden. Ressourcen sind gezielt einzusetzen bzw. zu schonen.

Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass der Bundesvorstand der BAG SELBSTHILFE mit Zustimmung der Mitgliederversammlung nun eine Strukturkommission eingesetzt hat, um den Aktionsradius des Verbandes und die Schwerpunktsetzungen neu zu justieren. Unter Umständen folgt aus dieser notwendigen Arbeit, dass u.U. auch mühsam erkämpftes Terrain aufgegeben werden muss.

Eine Ausweitung des Aktionsradius bedingt aber stets auch, dass in diesem Radius auch tatsächlich wirksam agiert werden kann. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Beteiligung in externen Gremien, sondern letztlich für alle Felder des verbandlichen Lebens. Insofern ist die notwendige Neustrukturierung der Arbeit auch als Chance zur Stärkung der gemeinsamen Arbeit zu sehen.


Dr. Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE

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Quelle:
Selbsthilfe 2/2014, S. 8-9
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Telefon: 0211/3 10 06-0, Fax: 0211/3 10 06-48
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Internet: www.bag-selbsthilfe.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2014