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WERKSTATT/279: Emanzipation von der Institution oder wieviel Werkstatt braucht die Inklusion? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 154 - Heft 4/16, Oktober 2016
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Emanzipation von der Institution ...
oder: wieviel Werkstatt braucht die Inklusion?

Von Anton Senner


Die Werkstätten sind in Deutschland der größte Arbeitgeber für Menschen mit Behinderung. Dies gilt insbesondere für Menschen mit geistiger, psychischer, schwerer körperlicher oder Mehrfachbehinderung. Heute sind fast 19 Prozent der im Arbeitsleben stehenden schwerbehinderten Menschen in der WfbM beschäftigt. Im Jahr 1990 lag dieser Anteil noch bei 7,5 Prozent.(*)

Man kann feststellen: es handelt sich hier um einen seit knapp 40 Jahren expandierenden staatlich organisierten Beschäftigungssektor, der hinsichtlich seiner Größe und Verfasstheit einzigartig ist. Es gelten eine Reihe von spezifischen Bestimmungen, von denen das für die behinderten Mitarbeiter*innen geltende sogenannte arbeitnehmerähnliche Anstellungsverhältnis eine der markantesten ist. Weitere Merkmale wie die Festlegung von Entgeltermittlung, Ergebnisverwendung, Personalschlüsseln oder die rentenrechtliche Behandlung geben der Werkstatt einen Sonderstatus, der sie von Unternehmen üblicher Ausprägung unterscheidet. Spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention wird dieser Status zunehmenden in Frage gestellt.

Neuer Wettbewerb

Die Behinderten- und Sozialpolitik antwortet auf die Inklusionsforderung im Wesentlichen mit zwei Strategien: mehr Platzierungen im Allgemeinen Arbeitsmarkt über das Budget für Arbeit und mehr Wettbewerb für die Werkstatt, um deren Monopolstellung zu brechen. Schauen wir uns erst einmal der letztgenannte Ansatz an: er wird verfolgt durch die Zulassung anderer Anbieter, von denen man sich mehr Arbeitsmarktnähe und auch geringere staatliche Finanzierungsbedarfe verspricht. Aus Sicht der Menschen mit Behinderung ist dies sicherlich ein Gewinn, da mehr Wettbewerb ein Mehr an Wahlmöglichkeiten und auch an personenzentrierter Unterstützung verspricht.

Aus sozialpolitischer Sichtweise ist dieser Weg eine Sackgasse. Es wird ein neuer Typus Sondereinrichtung geschaffen, der haarscharf am Inklusionsparadigma vorbei rauscht. Neue Zielgruppen, wahrscheinlich vor allem aus dem Personenkreis derjenigen mit psychischer Erkrankung, werden sich dem neuen Beschäftigungssektor zuwenden, da er mit weniger Stigmatisierung verbunden ist. Die Folge wird vielleicht ein kleiner Abbau des bestehenden Werkstattsystems, vor allem aber der Aufbau einer zweiten Säule atypischer Beschäftigungsverhältnisse sein. In meinen Augen ist hier die einmalige Chance einer inklusiven Strukturentwicklung vertan worden. In den kommenden beiden Legislaturperioden wird das Thema sicherlich nicht mehr angefasst werden. Anstatt neue Ressourcen, Ideen, Energien in inklusiven Maßnahmen zu erschließen, werden nun notleidende Bildungs- und Beschäftigungsträger massenhaft versuchen, den neuen Sektor zu besetzen. Sicherlich mit Erfolg - Angebot erzeugt Nachfrage.

Dabei liegen die zielführenden Strategien bestens entwickelt, bestens evaluiert und bestens finanzanalytisch bewertet vor: Budget für Arbeit, Integrationsunternehmen, Unterstütze Beschäftigung. Und für einen besonderen Personenkreis der Zuverdienst. Dies alles ist im allgemeinen Arbeitsmarkt angesiedelt.

Mit einer Weiterentwicklung von Konzepten und Förderinstrumenten, wie zum Beispiel des gezielten Einsatzes von persönlicher Arbeitsassistenz oder Programmen zum Barriereabbau, ließe sich eine Menge erreichen. Dies muss nicht einhergehen mit einer Erhöhung der Finanzierungsbedarfe, wie es beispielhaft die Auswertungen der Budget für Arbeit Modellprojekte in Rheinland-Pfalz und Hamburg zeigen.

In der internen Diskussion begegnen die Werkstätten den neuen Akteuren mit einer Mischung aus positiver Annahmen der Herausforderung und Skepsis. Dem eigenen Leitbild folgend, ein bestmögliches Angebot für Menschen mit Behinderung zu konstituieren, wird der Wettbewerb als Chance und Motor für die eigene Weiterentwicklung angesehen. Manchmal müssen ja auch Vereinsvorstände, Angehörige und Mitarbeiter von notwendigen Veränderungsprozessen überzeugt werden. Die Skepsis äußert sich in erster Linie in der Befürchtung um eine Erosion des ganzen Hilfesystems. Dies ist sicherlich sehr ernst zu nehmen. Nicht umsonst lehnen einige Betroffenenverbände die Reformvorhaben des Bundesteilhabegesetzes deswegen in Gänze ab.

Bei allen Inklusionsvorhaben und -anstrengungen gilt es festzustellen, dass der Allgemeine Arbeitsmarkt sich nicht in einer Verfasstheit befindet, aus den Werkstätten in absehbarer Zeit 300.000 Menschen mit einer besonderen Schwere der Behinderung aufzunehmen. Die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten liegt konstant und trotz Fachkräftemangel über der allgemeinen Arbeitslosenquote und insbesondere die Aussonderung von Menschen aufgrund psychischer Belastungen nimmt zu.

Hier hat die Werkstatt ihre Daseins- und Zukunftsberechtigung. Sie ist das Auffangnetz einer Wirtschaftsgesellschaft, die die Verwertbarkeit der Arbeitskraft priorisiert und nicht integriert, wer den Anforderungen nicht gerecht zu werden vermag.

Bedeutung der Werkstatt

Es ist der historischer Verdienst der Werkstatt, den Rechtsanspruch auf Arbeit seit Jahrzehnten zu verwirklichen. Die besondere Leistung besteht darin, Arbeitsplätze durch unternehmerische Tätigkeit selbst zu generieren und an jede Ausprägung des individuellen Leistungsvermögens anzupassen.

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren insbesondere Initiativen im Bereich der Menschen mit geistiger Behinderung erfolgreich, indem sie das Werkstättenkonzept heutiger Prägung implementierten und die damit verbundene Unterstützungsleistung - einzigartig - mit einem persönlichen Rechtsanspruch versahen. Der anspruchsberechtigte Personenkreis war zunächst sehr begrenzt, weitete sich aber vor allem mit der Einbeziehung von Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich aus. Ursprünglich einmal als Angebot für zirka ein Promille der erwerbsfähigen Bevölkerung gedacht, ist dieser Wert heute mit 300.000 Beschäftigungsplätzen in Werkstätten um das fünffache übertroffen worden.

Die große Leistung der Werkstatt und der wesentliche Unterschied zu anderen Angeboten der beruflichen Rehabilitation besteht darin, dass sie im wirtschaftlichen Sinne unternehmerisch tätig ist und Arbeitsplätze selbst generiert. Sie erbringt industrielle, handwerkliche und verwaltende Dienstleistungen, fertigt und vertreibt Eigenprodukte, ist im Handel tätig, betreibt Landwirtschaft, nimmt Aufgaben der kommunalen Versorgung war. Sie ist handelndes Subjekt im Wirtschaftskreislauf, was sie mit anderen Wirtschaftsunternehmen gleichsetzt. Damit ist ihr vieles Artifizielle wesensfremd, das sonst in anderen Formen der Beschäftigungsförderung und Rehabilitation so häufig anzutreffen ist.

Mindestlohn

Verortet im Spannungsverhältnis von beruflicher Rehabilitation, langfristiger Beschäftigungssicherung und unternehmerischer Tätigkeit wirken nun seit einigen Jahren die Paradigmen der UN-Behindertenrechtskonvention auf das System Werkstatt ein. Von Teilen der in der Werkstatt beschäftigten Menschen wird aus der Ausführung des Artikels 27 ("das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen") die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in der Werkstatt abgeleitet. Die Debatte hierum kann in dem Artikel nicht angemessen reflektiert werden. Es sei aber auf folgende Aspekte verwiesen: Einem gesetzlichen Mindest- oder Tariflohn liegt ein reguläres Arbeitsverhältnis zu Grunde. Ein solches würde die sehr zahlreichen Außenarbeitsgruppen- und Einzelarbeitsplätze in den Status der Arbeitnehmerüberlassung überführen. Die Restriktionen des hier geltenden Rechts entziehen dieser Form der Werkstatt-Ausgestaltung praktisch die Grundlage. Im Weiteren sind mit dem Status der arbeitnehmerähnlichen Werkstatt-Beschäftigung weitere Vorteile verbunden (rentenrechtliche Besserstellung, lebenslanges Kindergeld u.a.), die auch monetär das erzielbare Einkommen in die Nähe des Mindestlohns rücken. Und letztlich verweist der Charakter des Entgelts als Lohn bzw. Gehalt auf einen Endstatus, der dem Rehabilitationsauftrag der Werkstatt widerspricht. Aus diesen Gründen teile ich - wie auch die Mehrheit der Werkstatträte - eine Mindestlohn-kritische Position. Eine erstrebenswerte Alternative hierzu wäre die Zusammenführung der Hilfe zum Lebensunterhalt mit den Kosten der Unterkunft und deren Auszahlung als Entgelt der Beschäftigten. Dieses Verfahren wird auch als Passiv-Aktiv-Transfer bezeichnet und in abgewandelter Form in Baden-Württemberg erfolgreich in einer Modellerprobung zur Integration von Langzeitarbeitslosen praktiziert.

Budget für Arbeit

Die Erfahrungen in Hamburg und Rheinland-Pfalz mit dem "Budget für Arbeit" zeigen, dass diese Förderstruktur mit den Bestandteilen von finanziellen Hilfen an den Arbeitgeber und begleitender Unterstützung eine echte Alternative zur Werkstatt darstellt. Es können für werkstattberechtigte Personen Arbeitsplätze im Allgemeinen Arbeitsmarkt erschlossen und langfristig gesichert werden, die den Anforderungen einer inklusiven Teilhabe am Arbeitsleben weitgehend genügen. Erste Evaluationen in Hamburg zeigen, dass dies für die Budgetnehmer mit einem hohen Maß an Zufriedenheit, Gewinn an Kontakten und Kompetenzen sowie mit einer positiven Bewertung des Betreuungsangebots verbunden ist.

Interesse an einem Übergang in das Hamburger Budget für Arbeit haben insbesondere jüngere Beschäftigte: etwas zwei Drittel sind unter 35 Jahre alt, ein Viertel in der Altersgruppe zwischen 19 und 25 Jahren. Ebenfalls zwei Drittel waren zuvor kürzer als 5 Jahre in der Werkstatt, ca. 75 Prozent kürzer als 6 Jahre. Bei den Behinderungsarten überwiegt die geistige (70 Prozent) vor der psychischen Behinderung (22 Prozent). Darin spiegelt sich in etwa die Verteilung in der Werkstatt wieder.

83 Prozent der abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse bestehen bis dato fort. Die Abbrüche erfolgten zu 75 Prozent während der Probezeit aus den unterschiedlichsten Gründen wie Mutterschutz, Tod, Insolvenz des Arbeitgebers, Wegfall der Arbeitserlaubnis, Einstellungsstopp, Krankheit, Überforderung. Ein Großteil der Betriebe ist bereit, die Stellen nach zu besetzen. Von den ausgeschiedenen Beschäftigten sind fast alle in die Werkstatt zurückgekehrt, zum Teil aber auch schon wieder in neue Budgetplatz gewechselt. Die Rentenfrage spielt in der Regel keine große Rolle.

Bei uneingeschränkt positiver Bewertung muss aber auch die Begrenzung der Reichweite des Budgets für Arbeit reflektiert werden. In Rheinland-Pfalz hat nach 10 Jahren Programmdauer die Zahl der Budgetplätze ca. ein Prozent der Werkstattplätze erreicht, in Hamburg sind es nach 3,5 Jahren ca. 150 Plätze, was einer Quote von ca. 3,5 Prozent entspricht. Hier bestehen weitere Entwicklungspotenziale, ein weitgehender oder vollständiger Umbau des bestehenden Systems in mittelfristiger Perspektive dürfte allerdings illusionär sein.

Inklusionsansätze im Rahmen der Werkstatt

Im Hinblick auf die Ausgestaltung des Arbeitsangebots in der Werkstatt selbst ist eine Innovationskraft festzustellen, die sich zeitlich schon vor Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention entwickelte, durch diese aber eine wesentliche Energiezufuhr verbuchen kann.

Der wesentliche Strang ist die Entwicklung von Außenarbeitsgruppen und Einzelarbeitsplätzen, die in Unternehmen des Allgemeinen Arbeitsmarktes angesiedelt sind. Menschen mit Behinderung arbeiten hier eng verzahnt mit den nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben gemeinsam an der Erbringung einer Dienstleistung oder der Erstellung eines Produkts. So weit wie möglich sind sie in das betriebskulturelle Leben eingebunden, etwa im Hinblick auf Arbeitskleidung, Kantinenbesuch und Firmenveranstaltungen. Für viele Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf stellt dies die höchstmögliche Form der inklusiven Teilhabe am Arbeitsleben dar. Der Entwicklungsstand in den Werkstätten ist in diesem Segment sehr uneinheitlich. Sie reicht von kritikwürdigen null Prozent bis hin zu knapp 30 Prozent der Werkstattplätze, wie etwa in den Elbe-Werkstätten Hamburg. Die Mehrzahl ist hier in industriellen Fertigungsbetrieben tätig. Aber auch externe Dienstleistungsgruppen, die zum Beispiel in Kulturzentren, Hotels oder Betriebskantinen kundennahe, zum Teil auch kommunale Versorgungsangebote bereitstellen, gehören zum Portfolio.

Herausforderungen der Zukunft

Fassen wir zusammen: Die Werkstätten haben sich auf den Weg gemacht, ihre Angebotsvielfalt zu erweitern und die Durchlässigkeit zu erhöhen. Die einen mehr, die anderen weniger. Am weitesten entwickelt sind diejenigen, die "Werkstatt" nicht als Haus oder Einrichtung, sondern als Konzept verstehen: als Konzept, das die Unterstützungsleistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben soweit wie möglich arbeitsmarktnah ausgestaltet. Ein Konzept, dass den Arbeitsort zunehmend in den Allgemeinen Arbeitsmarkt verlagert und dort wiederum für jeden einzelnen Menschen mit Behinderung das höchstmögliche Maß an arbeitsweltlicher Normalität realisiert. Es kann sein, dass die Werkstatt dieses Ziel selbst zu erreichen vermag, es kann aber auch sein, dass dieses anderen Leistungsanbietern besser gelingt. Dann hat die Werkstatt mit diesen bestmöglich zu kooperieren. Denn nicht der Institutionen-Erhalt, sondern die Erfüllung der Arbeitswünsche ihrer Beschäftigten ist der Maßstab des Erfolgs.

Die Werkstätten werden sich im Zuge der Eingliederungshilfereform auf neuen oder auch erstmaligen Wettbewerb einzustellen haben. Die Arbeit und Beschäftigung suchenden Menschen mit Behinderung werden eine neue Nachfragemacht entwickeln, denn sie werden künftig unter den verschiedenen Leistungsanbietern diejenige aussuchen können, die ihnen attraktive Wahlmöglichkeiten und entwickelte Formen der inklusiven Teilhabe am Arbeitsleben anbieten.

Die Werkstatt, halten wir mal an ihrem Namen fest, wird aber auch zukünftig eine sozialstaatliche Verantwortung zu tragen haben: Sie hat zu gewährleisten, und wenn notwendig auch politisch darum zu kämpfen, dass der individuelle Rechtsanspruch auf einen Arbeitsplatz für Menschen mit einer besonderen Schwere der Behinderung erhalten bleibt. Die Werkstatt wird für diejenigen, die nicht in inklusive Arbeitsformen gelangen können, auch weiterhin einen Arbeitsplatz bereitzustellen haben. Diese Form der Arbeitsplatzgarantie wird sie von anderen Anbietern unterscheiden. Die Erfüllung dieser Aufgabe und Verpflichtung mag ihr rechtlich möglicherweise auch zukünftig einen Sonderstatus einräumen. Doch dieser Kernbereich wird künftig deutlich kleiner sein, als er heute ist.


Anton Senner ist Geschäftsführer der Elbe-Werkstätten GmbH.
E-Mail: info@elbe-werkstaetten.de


(*) Vergl. Dr. Hans-Günter Ritz, Teilhabe von Menschen mit wesentlichen Behinderungen am Arbeitsmarkt, Gutachten im Auftrag der Friedrich Ebert-Stiftung, 2015.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 154 - Heft 4/16, Oktober 2016, Seite 17 - 19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2016

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