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BERICHT/016: Berufsstand und Beteiligung - Schreckenskumpanei (SB)


Hunger als Mittel der NS-Medizin - Staatlich organisiertes Mangelregime

Workshop am 7./8. Februar 2014 in Hamburg-Alsterdorf und Neuengamme



Das Kritikern des staatlich organisierten Mangelregimes in Deutschland entgegengehaltene Argument, daß hierzulande schließlich niemand verhungern müsse, ist so zynisch wie falsch. Schließlich trägt das als Hartz IV bekannte Gesetz nicht nur den Namen eines rechtskräftig verurteilen Straftäters, sondern kann auch zum Tode führen. Wer nicht zu den Bedingungen des Kapitals arbeiten will oder kann, soll auch nicht essen, lautet die Quintessenz des Abgesangs auf den Sozialstaat.

Bezeichnenderweise sind exakte Zahlen der Hungernden nicht zu finden, doch sprechen die Tafeln von 1,5 Millionen Menschen, die sie wöchentlich bundesweit versorgen. Bekanntermaßen verhungern Menschen in Altenheimen, deren drastisch reduziertes Personal die Pflegebedürftigen nicht angemessen versorgt. Neben Senioren und Flüchtlingen sind alleinerziehende Frauen und deren Kinder besonders häufig betroffen. Wie der Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz 2012 offengelegt hat, wächst mit der Armut von bis zu 16 Millionen Menschen in Deutschland ein versteckter Hunger in Form von Fehl- und Mangelernährung.

Der Ernährungsmediziner Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski von der Universität Hohenheim rechnet vor, daß der Tagessatz von Hartz IV für Nahrungsmittel nicht ausreicht, um ein Kind gut zu ernähren. Je nach Alter koste eine kindgerechte Ernährung mit allen erforderlichen Nährstoffen zwischen drei und sechs Euro pro Tag und Kind. Aber selbst der Hartz-IV-Höchstsatz sehe für die Ernährung täglich nur zwischen zwei und drei Euro in der Altersgruppe der unter 14jährigen vor. Auch das Essen in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sei vielerorts mangelhaft, da gerade einmal 70 Cent pro Kind für Essen übrigblieben, wenn man die Kosten für Personal und Logistik abziehe. Weil dadurch die physische und mentale Entwicklung eingeschränkt werde, hätten die Betroffenen lebenslang mit den Folgen zu kämpfen. [1]

Auch erwachsene Hartz-IV-Empfänger können sich nicht gesund ernähren. Bis zum Alter von 51 Jahren brauchen sie nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 5,66 Euro pro Tag, so daß ihnen 1,85 Euro fehlen. Lebensgefährlich können auch die verweigerten Zuzahlungen für Medikamente insbesondere bei chronischen Erkrankungen werden. Hinzu kommen eingeschränkter Wohnraum und fehlender Komfort, unzureichend übernommene Heizkosten, eine erschwerte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, verzögerte Leistungen und nicht zuletzt deren Verweigerung als Strafmaßnahme. [2]

Ein Leben auf Sparflamme unter menschenunwürdigen Bedingungen droht auch Geringverdienenden jeder Couleur, da viele Unternehmen Niedriglöhne zahlen, die zur Reproduktion der Arbeitskraft längst nicht mehr ausreichen. Um das Lohnniveau noch tiefer unter das Existenzminimum zu senken, fordert das Kapital massive Senkungen oder Streichungen geltender Regelsätze, so daß der Druck erhöht wird, für Armutslöhne zu schuften.

Fortschreitende Verelendung, erbitterter Konkurrenzkampf, Zerschlagung sozialer Zusammenhänge und Isolation der Menschen bringen ein gesellschaftliches Klima hervor, in dem Sozialrassismus, Stigmatisierung und Ausgrenzung ins Kraut schießen. Langzeitarbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, Sozialschmarotzer, Asoziale - auch wenn in dieser Kette der Begriff des "unwerten" Lebens aus naheliegenden Gründen tunlichst vermieden wird, mündet die Bezichtigung doch geradewegs in eine innovative Fortschreibung der aus der deutschen Geschichte sattsam bekannten Verachtung und Erniedrigung für überflüssig und unbrauchbar erachteter Konkurrenten um die schwindenden Fleischtöpfe.

Folie des Referenten Ingo Harms mit Titel des Vortrags - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Institutionalisierter Hungertod über den NS-Staat hinaus

Dr. Ingo Harms hat in Oldenburg Geschichte und Physik studiert und als Historiker im Bereich Gesundheits- und Sozialpolitik im Nationalsozialismus promoviert. Er lehrt an der Universität Oldenburg als Privatdozent und arbeitet an einem Forschungsauftrag an der Universität Heidelberg. Zudem gehört er dem wissenschaftlichen Beirat des Gedenkkreises Wehnen an.

Im Rahmen des Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", dessen zweiter Tag am 8. Februar 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, hielt Harms einen Vortrag zum Thema "Medizinische Verbrechen und Entnazifizierung. Kontinuitäten und Brüche der NS-Medizin in Oldenburg (Oldenburg) in der Nachkriegszeit".

Ingo Harms ist in Heidelberg im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgelobten Projekts tätig, das bundesweit untersucht, welche Konsequenzen unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den vier Besatzungszonen aus den Krankenmorden im NS-Staat gezogen wurden. Wie ging man mit den überlebenden Anstaltsinsassen und den Nachkommen der Opfer um? Wurden die Täter zur Rechenschaft gezogen? Kam es in der Psychiatrie zu einer geistig-moralischen Wende? Dabei ist Harms die Aufgabe zugefallen, anhand der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen nahe Oldenburg in der damaligen britischen Besatzungszone diesen Fragen auf den Grund zu gehen.

Wie der Referent darlegte, hatte die sozialdarwinistische Ideologie schon geraume Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung Fuß gefaßt. So zählte Rassenhygiene bereits in der Weimarer Republik zu den anerkannten wissenschaftlichen Fächern des Medizinstudiums. Im Jahr 1933 war ein Großteil der Mediziner längst davon überzeugt, daß man eine beträchtliche Zahl ihrer Mitmenschen im Dienst der Volksgesundheit zwangssterilisieren müsse. Der NS-Staat erfüllte mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und anderen Maßnahmen den in diesen Kreisen langgehegten Wunsch, einen rechtlichen Freiraum zur Umsetzung ihrer Absichten zu schaffen.

Im Oldenburger Land gewann die NSDAP bereits 1932 erstmals in Deutschland die absolute Mehrheit. Wie anderswo im Reich kam es auch hier zu Zwangssterilisierungen, Zwangsabtreibungen, Säuglingstötungen und Krankenmorden. Da ungewöhnlich viele Dokumente erhalten sind und die Region vergleichsweise überschaubar ist, lassen sich die Stätten dieser Verbrechen aufspüren und die Zusammenhänge rekonstruieren. Bei einer Einwohnerschaft von 600.000 Menschen stellen die 2.500 durchgeführten Unfruchtbarmachungen einen relativ hohen Anteil dar. Dabei wurde die gesamte Bevölkerung akribisch auf vermeintliche Anzeichen sogenannter Erbkrankheiten durchkämmt. Die erstmalige Einrichtung staatlicher Gesundheitsämter, von denen es elf im Land Oldenburg gab, diente dem Zweck, die Opfer möglichst ausnahmslos zu erfassen. Zu den an Zwangssterilisierungen beteiligten Chirurgen gehörte auch Dr. Paul Eden, dem zu Ehren nach dem Krieg in Oldenburg eine Straße benannt wurde. Erst als Harms durch seine Untersuchung die früheren Taten dieses Mannes aufdeckte, wurde die Straße nach der jüdischen Ärztin Rahel Straus umbenannt. Dies führte dazu, daß die Stadt vorsichtshalber sämtliche Straßennamen überprüfen ließ.

Als die britische Militärverwaltung auf den Plan trat, mußten ihr die von Medizinern verübten Verbrechen im Prinzip bekannt sein, da sie mit Haftbefehlen und Entlassungsverfügungen ins Oldenburger Land einrückte. Der Versuch einer "Entnazifizierung" blieb jedoch bereits im Ansatz stecken, denn erste Verhaftungen und Entlassungen waren nur von befristeter Dauer. Zwar wurden bis zum Frühjahr 1946 von knapp 700 Ärzten 43 verhaftet und 317 entlassen, doch zog dies keine einzige Strafverfolgung und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch keinen dauerhaften Verlust der Beschäftigung nach sich. Daß frühere Funktionsträger nicht ernsthaft zur Rechenschaft gezogen wurden, belegt auch das Beispiel des ehemaligen Ministerpräsidenten Georg Joel, der lediglich in der zweitniedrigsten Kategorie vier (minderbelastet) eingestuft wurde.

Im Vortrag am Stehpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ingo Harms
Foto: © 2014 by Schattenblick

In der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen (heute Karl-Jaspers-Klinik) wurde der Krankenmord vor allem durch systematischen Nahrungsentzug betrieben. Untersucht man die Sterblichkeit unter den Insassen in den Jahren 1931 bis 1948, steigt diese 1936 mit 10,7 Prozent auf das doppelte des vorherigen Werts. An diesem Zeitpunkt läßt sich der Beginn der "Euthanasie" im Land Oldenburg verorten. Es folgt eine Eskalation mit weiteren Sprüngen und Zwischenphasen auf gleichem Niveau, doch erreicht die Sterberate erst 1945 mit 31 Prozent ihren Höchststand, obwohl im Mai dieses Jahres der NS-Staat zusammengebrochen war und seither kein Krieg mehr herrschte. 1946 sinkt der Wert auf 17 Prozent, 1947 auf 8 Prozent, um erst 1948 wieder die Sterberate vor Beginn des Krankenmords zu erreichen. Diese Zahlen lassen darauf schließen, daß das Hungersterben der Insassen auch nach Kriegsende weiterging und erst einige Zeit später eingedämmt wurde.

Daß es sich dabei um eine Form systematischer Tötung handelte, belegen die sinkenden Verpflegungssätze, die 1941 auf 42,7 Prozent des Werts von 1928 gefallen sind. Legt man den damals erforderlichen Geldwert zur gerade noch ausreichenden Ernährung zugrunde, läßt sich nachweisen, daß dieser in bestimmten Monaten deutlich unterschritten wurde. Offensichtlich wurden die Insassen langfristig ausgehungert, aber auch in bestimmten Phasen beschleunigt zu Tode gebracht.

Wußte die Oldenburgische Ärzteschaft von diesem Krankenmord in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen? Wie die Verlegung von Insassen zahlreicher Einrichtungen dorthin belegt, haben Ärzte weithin kooperiert, um unliebsame oder "lebensunwerte" Patientinnen und Patienten in der Absicht, sie nie wiederzusehen, nach Wehnen verbracht. Das galt für Lazarette der Marine in Wilhelmshaven und Sanderbusch, aber gleichermaßen für zivile Krankenanstalten, so daß man von einem System des Krankenmords im Land Oldenburg sprechen muß.

Im Jahr 1936 stellte Dr. jur. Carl Ballin, Oberregierungsrat im Landesfürsorgeverband, fest, daß man im Gertrudenheim in Oldenburg die Verpflegungssätze so gut einsparen könne, daß der Verband davon erheblich profitiert. Wie er vorrechnete, ließen sich für jeden der dort untergebrachten minderjährigen Behinderten pro Jahr 219 Reichsmark abzweigen. Bei 280 Patienten, denen man die Nahrung entzieht, wären das jährlich 61.000 Reichsmark. Überträgt man diesen Schlüssel auf Wehnen, das ebenfalls Ballin unterstand, so der Referent, kommt man auf 175.200 Reichsmark im Jahr. Schon 1941 rühmte sich der Verband sagen zu können, er habe bereits zwei Millionen Reichsmark gespart. Dadurch sei der Erkenntnis Rechnung getragen worden, daß die Ausgaben für das erbbiologisch unwerte Leben möglichst niedrig zu halten sind, schrieb Ballin. Er wurde nie zur Rechenschaft gezogen und bekleidete Anfang der 1950er Jahre das Amt des Oberkreisdirektors.

Wo sind die mindestens zwei Millionen Reichsmark geblieben, die man mit dem Faktor 18 auf heutige Eurobeträge hochrechnen kann? Der Landesfürsorgeverband war ein Querverbundunternehmen, das gleichzeitig die im NS-Staat favorisierte Kultur wie auch die Infrastruktur im Land Oldenburg fördern sollte. Viel Geld floß ins Landesmuseum für Kunst und Kultur, auch die Thingstätte in Bookholzberg wurde auf diesem Wege finanziert. Die umfangreichsten Mittel kamen wohl dem 1926 gegründeten Museumsdorf Kloppenburg zugute, das nun eine regelrechte Blüte erlebte. Der Landesfürsorgeverband erwarb Eigentum an dieser großen Liegenschaft und den Gebäuden, die er noch bis 1960 verwaltete, worauf das Land Niedersachsen den Erhalt übernahm.

Einer der Haupttäter in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen war der Oberscharführer Dr. Paul Moorahrend, dessen SS-Zugehörigkeit vom Landesfürsorgeverband aus den Unterlagen gelöscht wurde. Er wurde in den beiden Monaten, in denen die britische Militärverwaltung Verhaftungen und Außerdienststellungen veranlaßte, kurzfristig entlassen, danach jedoch wieder neu eingestellt. Erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Vergangenheit Moorahrends publik, als Harms sie im Zuge seiner Forschungen erhellen konnte. Moorahrends Chef und zweiter Arzt in Wehnen war Dr. Carl Elisabeth Petri, der als Katholik im erzprotestantischen Oldenburger Kernland ebenso wie die Mittäterschaft katholischer Einrichtungen am südlichen Rand der Region den überkonfessionellen Charakter der Krankenmorde belegt.

Neben den Schreibtischtätern und Anstaltsleitern ist auch das Personal in Wehnen dem Kreis der unmittelbar Beteiligten zuzurechnen. Schon während des Krieges und noch mehr in den folgenden Hungerjahren zweigte man Lebensmittel für sich und die eigene Familie aus dem Bestand der Anstalt ab. Die Sicht- und Handlungsweise, daß man die Nahrung minderwertigen Existenzen entzog, dürfte die in Mangellagen ohnehin angefachte Maxime eigenen Überlebens zu Lasten anderer maßgeblich begünstigt haben. Ingo Harms hat im Titel der Buchfassung seiner Dissertation "Wat mööt wi hier smachten ..." [1] die Aussage eines später verstorbenen Patienten zitiert: "Was müssen wir hier hungern, die Ärzte und Pfleger essen uns das Fleisch aus dem Topf."

Am 5. Dezember 1945 wurden die Hungertötungen in Wehnen offiziell ruchbar. Die Briten hatten mit Theodor Tantzen einen Liberalen als Ministerpräsidenten eingesetzt. In Wehnen war Dr. Petri vorübergehend als leitender Arzt abgelöst worden, und sein Nachfolger beklagte in einem Schreiben an Tantzen die unzureichende Ernährungslage der Insassen: Die zustehenden Lebensmittelmengen seien für die Kranken während des Krieges nur zum Teil verabfolgt worden. Daher sei deren Sterblichkeit bei weitem zu hoch. Jetzt wögen zahlreiche Kranke nur 50 Kilo und weniger, sie litten nicht nur an Geisteskrankheit, sondern auch an einer körperlichen Krankheit, nämlich einem chronischen Nährschaden. Sie benötigten demnach ebenso wie andere körperlich Kranke die Krankenhauszulage.

In der Nachkriegszeit hungerte fast die gesamte Bevölkerung, und wer damals ins Krankenhaus kam, brauchte eine Zusatzernährung, sonst hätte er nicht überlebt. Auch unter Aufsicht der britischen Militärverwaltung waren die Psychiatrieinsassen in Wehnen jedoch nicht in den Genuß dieser Zulage gekommen. Der Ministerpräsident wies in Reaktion auf das Schreiben seinen Untergebenen Wilhelm Oltmannns an, für eine bessere Ernährung in der Anstalt zu sorgen. Oltmanns war jedoch ein alter Kollege Carl Ballins, mit dem zusammen er hauptverantwortlich für die früheren Hungerverfügungen zeichnete. Als Vertreter des Reichsnährstands, der während des Krieges die Rationen zugeteilt hatte und diese Aufgabe bis 1949 weiterbetreiben durfte, bat er nun die Militärbehörde um Zulagen für die Insassen in Wehnen.

Am 18. März 1946 stellte Oltmanns fest, daß die Militärregierung bislang nichts veranlaßt habe, weshalb man die Angelegenheit auf sich beruhen lassen könne. Da die Verpflegungsportionen insgesamt herabgesetzt worden seien, könne mit der Gewährung von Zulagen nicht mehr gerechnet werden. Damals wurde alle vier Wochen neu festgelegt, wieviele Kalorien jedem Bürger in der britischen Militärzone zustanden. Im März 1946 wurde die Zuteilung verringert, woraus Oltmanns seine Schlußfolgerung ableitete. Damit bekamen die ausgehungerten Patientinnen und Patienten, die um so dringender einer Zulage bedurft hätten, weiterhin nicht genug zu essen. Erst im April gab es Anzeichen einer Besserung, die dann nach 1946 spürbar griff. Bis dahin sind jedoch weiterhin viele Menschen in Wehnen verhungert, die hätten gerettet werden können.

Am Ende seines Vortrags faßte Harms die zentralen Aussagen noch einmal zusammen: Die Hungermorde in der Oldenburgischen Psychiatrie wurden zwar thematisiert, aber niemals verfolgt. Es gab Ermittlungen, die jedoch schnell eingestellt wurden, und keiner der Verantwortlichen wurde unter Anklage gestellt. Reichsnährstand und Landesfürsorgeverband, die während der NS-Zeit die bestimmenden Kräfte gewesen waren, wirkten nach 1945 weiter fort und bereicherten sich am Nahrungsentzug. Die britische Militärverwaltung gewährte den Psychiatriepatienten bis weit ins Jahr 1946 keine Zusatzrationen. So herrschte bis dahin eine hohe Nachkriegssterblichkeit, die weder von den Deutschen, noch den Briten unterbunden wurde.

Handgeschriebener Wegweiser zur Veranstaltung im Foyer des Studienzentrums - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Nestbeschmutzer im Oldenburger Land?

Der Historiker Ingo Harms erfährt für seine engagierte wissenschaftliche Arbeit Anerkennung in Fachkreisen, mediales Interesse an seinen Forschungsergebnissen und nicht zuletzt zugewandte Anteilnahme vieler Menschen, die er mit der Offenlegung verdrängter Geschichte berührt. Anderen gilt er als Nestbeschmutzer im Oldenburger Land, der das Ansehen von Kommunen, Institutionen, Berufsständen, Verbänden, Persönlichkeiten und ehrbaren Familien diskreditiere. Daß er sich seine Streitbarkeit nicht nehmen läßt und keine Ruhe gibt, fürchten offenbar nicht wenige, die noch Leichen im Keller haben oder vermuten. Harms übertreibe, verdrehe, spekuliere nur, steht in diversen Erwiderungen zu lesen, in denen Journalisten Personen, die sich durch die Forschungsergebnisse des Geschichtswissenschaftlers betroffen fühlen, um eine Stellungnahme bitten. Allenthalben klingt die rhetorische Frage an, warum Harms die Vergangenheit nicht endlich ruhen lasse und weiter böses Blut aufrühre.

Dieser offenkundige Bedarf, in saturierter Bürgersruh zu beschwichtigen, zu dementieren und zu vergessen, setzt die Ausgrenzung für minderwertig erachteter Menschen fort, die keineswegs mit dem NS-Staat geendet hat. Gerade weil Ingo Harms die Ausflucht widerlegt, daß ein kleiner Kreis von Nazis alle anderen verführt, getäuscht und gezwungen habe, historisch einmalige Greueltaten zu verüben, während der übergroße Rest der Gesellschaft nach Ende des Alptraums umgehend zu Friedensliebe und Menschlichkeit zurückgefunden habe, wird er zum Ärgernis. Indem er Einzelheiten ans Licht bringt und Verbindungen zieht, entreißt er die Opfer eines weitreichenden gesellschaftlichen Konsenses über ihre notwendige Ausgrenzung. So legt er den Finger in die Wunde einer gesellschaftlichen Verfügungsgewalt, deren strukturelle Kontinuitäten durch die historische Zäsur zwischen NS-Staat und Bundesrepublik nicht beseitigt wurden, so daß der Versuch, die jüngere Geschichte als hermetisch verschlossene Episode längst überwundender Grausamkeiten darzustellen, um so angestrengter betrieben werden muß.

Blick auf die Gebäude über aufgeschüttete Grundflächen ehemaliger Häftlingsbaracken - Foto: © 2014 by Schattenblick

Veranstaltungsort im Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme hinter überdachtem Fundament des ehemaligen Arrestbunkers
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

[1] https://www.uni-hohenheim.de/news/ernaehrungsmediziner-warnt-mit-armut-etabliert-sich-versteckter-hunger-in-deutschland-11

[2] http://www.hartz4-im-netz.de/PagEd-index-page_id-293.html

[3] Ingo Harms: "Wat mööt wi hier smachten ...": Hungertod und "Euthanasie" in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im "Dritten Reich". BIS-Verlag Oldenburg, 1998


Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)
BERICHT/011: Berufsstand und Beteiligung - Erprobt, verbessert, Massenmord (SB)
BERICHT/012: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (1) (SB)
BERICHT/013: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (2) (SB)
BERICHT/015: Berufsstand und Beteiligung - Zwänge, Schwächen, Delinquenzen (SB)
INTERVIEW/015: Berufsstand und Beteiligung - Spuren der Täuschung, Christl Wickert im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Berufsstand und Beteiligung - Archive, Forschung und Verluste, Harald Jenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/017: Berufsstand und Beteiligung - Deutungsvielfalt großgeschrieben, Michael Wunder im Gespräch (SB)
INTERVIEW/018: Berufsstand und Beteiligung - Dammbruch Sterbehilfe, Astrid Ley im Gespräch (SB)
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11. Mai 2014