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BERICHT/020: Inklusionsportale - Dschungelfreiheit ... (SB)


Teilhabe an einer Gesellschaft der Exklusion?

Tagung "Inklusion in der Kommune" am 19. Oktober 2014 in Münster



Wer in dieser Gesellschaft aufgrund einer spezifischen Ausgrenzung Inklusion fordert, kommt vom Regen in die Traufe. So notwendig der Kampf für umfassende Teilhabe und Barrierefreiheit auch ist, um die besondere Benachteiligung zum Zweck ihrer Eliminierung auf die Tagesordnung zu setzen, rührt er doch über kurz oder lang an grundsätzliche Fragen zum Charakter der herrschenden Verhältnisse. Inklusion in eine Gesellschaftsordnung unanfechtbarer Besitzstände und administrierter Verfügungszwänge, höchst ungleicher Verteilung von Gütern, Entfaltungschancen und Lebensmöglichkeiten wie auch unter dem Druck hereinbrechender ökonomischer und ökologischer Krisen bis zur Würgeschlinge verengter sozialer Einfriedung droht zum Widerspruch in sich zu verkommen. Da die Episode wachsenden Wohlstands und eingelöster Versorgungsversprechen der Vergangenheit angehört, so daß sich die verbliebene Kontroverse im Disput erschöpft, wie eng der Gürtel fortan zu schnallen sei, schwindet um so mehr der zugestandene Spielraum für eine besondere Förderung jener, die am wenigsten an den schwindenden Fleischtöpfen partizipieren.

Der faktische Abschied von Sozialstaat und Solidargemeinschaft hin zur individuellen lebenslangen Konkurrenz um Ausbildungschancen, Erwerbsmöglichkeiten und Systemen sozialer Absicherung verändert die Denk- und Handlungsweisen der Menschen, die dieser Umwälzung tradierter Werte unterworfen sind. Das ideologische Konstrukt der Eigenverantwortung maskiert ein Bezichtigungsregime, welches eine Gesellschaft von Schuldnern zementiert, die an den unerfüllbaren Forderungen fremdnütziger Verwertungsinteressen scheitern. Markenbewußter Konsumismus als letztes Glücksversprechen, vernetzte Monaden bar jeder kollektiven Bezüge, Selbstoptimierung im Spiegel verinnerlichter Kontrollmechanismen, von Abstiegsängsten getriebene Leistungsbereitschaft - ein Verlierer zu sein, wird von allen gesellschaftlichen Herkünften entkoppelt in den Rang einer Persönlichkeitseigenschaft erhoben, der die Strafe des Ausschlusses auf den Fuß folgt.

Exklusion ist insofern kein Sonderfall, sondern das Strukturmerkmal einer Gesellschaft, in der Wohlstand und Machtmittel zur Bestandssicherung und Fortschreibung dieser privilegierten Existenzweise in zunehmendem Maße einer Minderheit vorbehalten sind. Da dies zwangsläufig nur zu Lasten der Mehrheit erwirtschaftet und konsolidiert werden kann, hält forcierter Arbeitszwang die Wertschöpfung in Gang und die Überflüssigen in Schach. So nimmt es nicht wunder, daß Sozialrassismus in all seinen Spielarten längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, setzt er doch die Doktrin der Bezichtigung, der Verlierer sei des eigenen Unglücks Schmied und mithin feindseliger Neider des Erfolgreichen, nicht nur an den Stammtischen durch.

Über die naheliegende Frage hinaus, inwieweit eine Inklusion in diese Gesellschaftsordnung überhaupt erstrebenswert sein kann, sind also Zweifel geboten, ob diese eine umfassende Teilhabe jemals zuläßt. Wenngleich der Begriff Inklusion als Gegenentwurf zu Integration verstanden wird, um deren impliziten Anpassungszwang zu kontrastieren, gilt es doch nicht zuletzt in gesellschaftspolitischer Hinsicht zu diskutieren und zu präzisieren, wie weit die eigenen Vorstellungen von einer Existenz in Freiheit und Würde reichen, mit welcher Intention und Stoßrichtung demzufolge Veränderungsprozesse durchzusetzen seien.

Ein Stufenmodell, wonach es im ersten Schritt die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen aufzuheben gilt, worauf erst im nächsten Zug weitreichendere Anliegen gesellschaftlicher Umgestaltung ins Visier genommen werden können, greift in zweifacher Hinsicht zu kurz: Es negiert zum einen die der Mehrheitsgesellschaft immanenten Ausgrenzungen, die dem ursprünglichen Anliegen der jeweiligen Minderheit im Wege stehen. Zum anderen schneidet es deren emanzipatorische Bestrebungen von vornherein auf bescheidenere und für kompatibel erachtete Ziele zurück, womit ein integrativer Ansatz durch die Hintertür ins Haus geholt wird. Eingliederung ist nur zum Preis einer mehr oder minder weitreichenden Übernahme eben jener Werte, Normen und Maßgaben zu haben, die ganz wesentlich zur Ausgrenzung führten.

Damit soll weder das volle Ausmaß der bestehenden Diskriminierung noch die unabweisliche Forderung nach deren Beseitigung in Abrede gestellt werden. Wo und wie auch immer entsprechende Initiativen in Erscheinung treten, sind sie im Sinne einer selbstbestimmten Artikulierung ihrer Interessen unterstützenswert. Kontraproduktiv wäre allerdings, den Entwurf der Inklusion allzu eng zu fassen und damit als eine nach oben offene Kategorie zu entwickelnder Anliegen und Forderungen auszuhebeln.

Hinweistafel 'Inklusion in der Kommune - Eingang' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Ist der Mensch behindert oder wird er behindert?

Ob ein Mensch behindert sei oder im Gegenteil von der Gesellschaft behindert werde, ist inzwischen tendenziell, doch keineswegs abschließend oder gar unumkehrbar zugunsten der zweitgenannten Bewertung gewichtet worden. Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, bedurfte es dazu eines langen Ringens, dessen aktueller Stand unterschiedlich eingeschätzt wird. Bereits 1920 hatten der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding behinderte Menschen als "lebensunwertes Leben" und "Ballastexistenzen" bezeichnet und die Freigabe ihrer Vernichtung gefordert. Im NS-Staat wurden behinderte Menschen sterilisiert und getötet. Aktion T4 ist eine gebräuchliche Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen durch Ärzte und Pflegekräfte. Noch 1958 orientierte sich das Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland an der Defizittheorie der Behinderung, wonach ein solcher Mensch mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig) sei.

Das bundesdeutsche Recht definiert Menschen als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. 1980 entwickelte die WHO ein Einteilungsschema für Krankheiten und Behinderungen (ICIDH), das 1999 in der Weise modifiziert wurde, daß nicht mehr die Defizite einer Person, sondern die für sie relevanten Fähigkeiten und die soziale Teilnahme maßgeblich sind (ICIDH-2).

Hauptergebnis der UNESCO-Konferenz "Pädagogik für besondere Bedürfnisse" war die Salamanca-Erklärung vom Juni 1994, die Inklusion als wichtigstes Ziel der internationalen Bildungspolitik auswies. Das dabei formulierte Leitprinzip sieht vor, daß Schulen alle Kinder unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Seit 2002 fanden alljährlich zwei Treffen auf UN-Ebene statt, die zu der am 13. Dezember 2006 beschlossenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen führten, deren Zahl auf weltweit 650 Millionen geschätzt wurde. Die Länder, welche die Konvention unterzeichnen, verpflichten sich, diese in nationales Recht umzusetzen und bestehende Gesetze anzupassen.

Deutschland unterzeichnete das Übereinkommen samt Zusatzprotokoll am 30. März 2007, doch erst im März 2009 wurde die UN-Konvention ratifiziert. Da die deutschsprachigen Länder eine Übersetzung fast ohne die Beteiligung von Betroffenen abgestimmt hatten, blieben zunächst grobe Fehler bestehen. So wurde insbesondere der englische Begriff Inclusion irreführend mit Integration übersetzt. Eine sogenannte Schattenübersetzung, die unter Beteiligung behinderter Menschen publiziert wurde, kam der Originalfassung näher als die offizielle Übersetzung.

Im Juni 2011 forderte die WHO im ersten weltumfassenden Bericht zur Behinderung, Inklusion vor allem im Bereich der Bildung in nachhaltige Konzepte einzubetten. Bildung sei auch der Schlüssel zum ersten Arbeitsmarkt, der für Menschen mit Behinderung weitgehend verschlossen bleibe. Dabei sei Behinderung nicht nur eine medizinische, sondern vor allem eine komplexe sozialpolitische Erscheinung und vielfach sowohl die Ursache als auch die Konsequenz von Armut. Es handle sich keineswegs um ein Randgruppenphänomen, da Frauen, Senioren und Menschen in ärmeren Haushalten überproportional betroffen seien.

2013 befürwortete ein "Teilhabebericht" der Bundesregierung die Abkehr von der Sichtweise, Behinderung als persönliches Defizit zu interpretieren. Diese entstehe durch Benachteiligung, weshalb Lebenslagen von Menschen untersucht würden, die beeinträchtigt sind und Behinderungen durch ihre Umwelt erfahren. Der Kern des Problems mit dem Begriff Behinderung liege in der Unterscheidung von Menschen mit und ohne Behinderung und damit in der Konstruktion von zwei unterschiedlichen Gruppen, von denen die eine als normal und die andere als nicht normal definiert wird.

Eine auf die Semantik bezogene Kritik betont, daß "Behinderung" ein Konstrukt sei, das Beeinträchtigungen der verschiedensten Art in einem Sammelbegriff vereinige. Letztlich hafte der Unterscheidung zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen immer ein Element der Willkür an. Eine auf die Pragmatik bezogene Kritik akzeptiert den Begriff als solchen, warnt aber davor, daß sich Kategorien wie "Behinderte" im Sprechakt zum Stigma verfestigen können. Diverse Versuche, nicht diskriminierende Ersatzformulierungen zu finden, sind dem Ansatz geschuldet, durch eine reflektierte Sprache Veränderungen im Umgang herbeizuführen. In Übernahme von Begrifflichkeiten im Englischen ist mitunter von "Personen mit besonderen Bedürfnissen", "besondere Kinder" und "Menschen mit Lernschwierigkeiten" die Rede.

Versuche einer rein sprachlichen Regelung stoßen indessen auch auf Kritik, weil sie zu sperrig oder im Gebrauch wiederum abwertend sein können. Grundsätzlich drängt sich die Frage auf, in welchem Maße "politisch korrekte" Sprachregelungen einer Tabuisierung, Verschleierung oder gar um so verfestigteren Diskriminierung Vorschub leisten. Werden reale Gewaltverhältnisse und gravierende Diskrepanzen zwischen offiziellen Absichtserklärungen und tatsächlichen Lebensverhältnissen ausgeblendet, bleiben die Adressaten vorgeblich respektvollerer Konnotationen zwangsläufig auf der Strecke.

Plakat 'Eine inklusive Welt für alle! - Die Linke' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Erinnerung an die Krüppelbewegung

Solche Definitionen von Behinderung werden mitunter von den Betroffenen grundsätzlich zurückgewiesen. So sind manche Gehörlose der Auffassung, einer eigenen Kultur anzugehören, die über spezifische Riten und Rituale verfügt. Gehörlose hörend zu machen oder Kinder mit Cochleaimplantaten auszustatten, gleiche einem Ethnozid. Hörend zu sein sei in dieser Kultur von Nachteil, da etwa ein hörendes Kind eventuell niemals vollkommen die Gebärdensprache seiner Eltern erlerne.

Die Befürworter von Autistic Pride kritisieren die Pathologisierung von Autismus ebenso wie die besonders unter Medizinern verbreitete Vorstellung, daß alle menschlichen Gehirne identisch sein sollten und jegliche Abweichung eine "Heilung" benötige, um Konformität mit einer imaginären Norm zu erreichen.

Am weitgehendsten wies die seit Anfang der 1970er Jahre aufkommende Krüppelbewegung jede Form von Bezichtigung und Bevormundung zurück. Sie nahm die Beschimpfung als Kampfbegriff für sich in Anspruch, lehnte die Vertretung durch Funktionäre oder Eltern vehement ab und schloß in ihren radikalsten Fraktionen Nichtbehinderte von der Zusammenarbeit aus. Nur die Krüppel selbst seien in der Lage, sich durch eigenverantwortliches Handeln zu emanzipieren. Die bundesweit erste Krüppelgruppe wurde 1977 von Horst Frehe und Franz Christoph in Bremen gegründet. Sie lehnte die Forderung nach Integration ab und konfrontierte statt dessen die nichtbehinderte Öffentlichkeit mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten. "Nicht-Krüppel" wurden mit der Begründung ausgeschlossen, daß sich die lebensgeschichtlichen Erfahrungen als Krüppel wesentlich von denen Nichtbehinderter unterscheiden: Nur Krüppel erleben ein gefühlsmäßiges Schwanken der Eltern, zwangsweise Therapieversuche vor Zuschauern, eine ständige Erfahrung anders und passiv ausgeliefert zu sein und viele weitere Ausgrenzungen mehr. In diesen Gruppen arbeiteten die Krüppel daran, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und nach Wegen zu suchen, diese durchzusetzen. Sie mußten folglich für sich neue Werte schaffen und Widerstand gegen die erdrückenden Normen leisten.

Wenngleich die Repräsentanten reiner Krüppelgruppen diese Bezeichnung allein für sich gelten ließen, kann man der damaligen Bewegung auch moderatere Strömungen zurechnen, die sich für die Emanzipation von Menschen mit einer körperlichen Behinderung einsetzten. Diese erreichten eine größere Anzahl an Menschen mit einer Behinderung, blieben jedoch in der Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen an Entschiedenheit hinter den radikaleren Gruppen zurück. Die Bewegung wurde in der Öffentlichkeit wahrgenommen, als sie besonders spektakuläre oder provozierende Aktionen durchführte.

Am 18. Mai 1974 unternahmen Rollstuhlfahrer in Frankfurt, begleitet von einem Fernsehteam des ZDF, den vergeblichen Versuch, in öffentliche Gebäude oder in eine Straßenbahn zu gelangen und blockierten schließlich die Schienen. Diese Aktion, existierende Barrieren deutlich zu machen, fand sehr große Beachtung, was auch für den Fernsehfilm des WDR galt. Anfang Dezember 1979 stellte Franz Christoph einen Asylantrag in den Niederlanden, da er sich als politischer Behinderter in Deutschland unterdrückt sah. Unterstützung erfuhr er vor allem in den Niederlanden durch Behindertengruppen, Behindertenpädagogen und Studenten. Nach Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung brach er die Aktion ab, deren politisches Ziel er erreicht sah.

Eine der bedeutendsten Aktionen, die von Gruppierungen der gesamten Krüppelbewegung getragen wurde, war eine Demonstration am 8. Mai 1980 in Frankfurt, an der 5000 Behinderte und Nichtbehinderte teilnahmen. Anlaß war ein Urteil, wonach Schwerbehinderte den Urlaubsgenuß anderer Menschen beeinträchtigen können. Bei der Eröffnungsveranstaltung zum UNO-Jahr der Behinderten 1980 besetzten Mitglieder einer Aktionsgruppe die Bühne der Festredner in Dortmund. In einer Resolution sprach sich das Aktionsbündnis gegen Sondereinrichtungen, Sonderhilfsmittel oder Sonderbehandlung aus und forderte die Anerkennung ihres Selbstvertretungsrechts. Bei der Eröffnung der Messe REHA 1981 schlug Franz Christoph den damaligen Bundespräsidenten Carstens nach den Worten "Carstens, haben Sie denn aus den Dortmunder Ereignissen nichts gelernt? Sie sind ja schon wieder Schirmherr!" mit seiner Krücke zweimal gegen das Schienbein. Ende 1981 wurde ein Krüppeltribunal durchgeführt, zu dem 15 Gruppierungen aus verschiedenen Städten eine Reihe von "Anklagepunkten" erarbeitet hatten. Sie wollten zeigen, daß Entmündigung und Isolation Behinderter weit verbreitet war und eine neue Ghettobildung zu einer Ausgrenzung aus der Gesellschaft führte.

Zu den Erfolgen dieser Aktionen zählte ein hohes Maß an Solidarität unter den verschiedenen Gruppen der Krüppelbewegung, aber auch eine Veränderung des Bildes der Behinderten in der Öffentlichkeit. Diese traten nicht demütig und ohnmächtig auf, sondern setzten sich offensiv mit ihrer Lebensrealität und den herrschenden Mißständen auseinander. Andererseits lief der Widerstand der Krüppel insofern ins Leere, da selbst eine Reaktion auf die provozierenden Krüppelschläge Franz Christophs ausblieb: Behinderte wurden nicht einmal als Straftäter ernst genommen.

Wie sich zeigte, stand die gewachsene Wahrnehmung der Behinderten in der deutschen Öffentlichkeit in keinem Verhältnis zum sozialpolitischen Umgang mit ihren Interessen. Bis 1985 wurden über 100 Millionen Mark bei der beruflichen und medizinischen Rehabilitation eingespart, die Steigerung der Sozialhilfe wurde reduziert, ein Sofortprogramm zum Bau von 60.000 Sozialwohnungen, teilweise für Menschen mit einer körperlichen Behinderung, wurde gestrichen. Wenngleich diese Kürzungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext der 1980er Jahre zu bewerten sind, trafen sie doch behinderte Menschen besonders hart und schrieben deren Benachteiligungen fort.

Der Krüppelbewegung ging es nicht nur um die Beseitigung der äußeren Benachteiligung, sie strebte darüber hinaus die Entwicklung eigener Werte und Normen an. Akzeptiere man die gängigen Maßgaben, blieben nur Minderwertigkeitsgefühle und Selbsthaß. Wer die marktwirtschaftliche Norm vom Überleben der Tüchtigsten hinnehme, ordne sich zwangsläufig unter jenen Menschen ein, deren "Lebenswert" negativ scheint. Franz Christoph verfaßte 1980 seinen "Krüppelstandpunkt", in dem er Behinderte aufforderte, sich mit ihrer weitreichenden Übernahme fremder Wertmaßstäbe und Unterwerfung zu konfrontieren, wie auch von Nichtbehinderten verlangte, ihre Beteiligung an der Ausgrenzung und ihren Blick auf das "unwerte Leben" endlich zuzugeben [1].

Nach 1981 flaute die radikale Behindertenbewegung zusehends ab, was auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen ist [2]. Zum einen hatte der Schritt in die Öffentlichkeit große Anstrengungen gekostet, jedoch allenfalls im Ansatz zu der angestrebten Veränderung geführt. Zu Verschleiß und Resignation vieler Aktiver gesellte sich die Sorge um die Existenzsicherung, nicht selten in Gestalt einer berufsständischen Etablierung. Wie vielerorts in der Bundesrepublik zogen sich vordem emanzipatorisch gesonnene Menschen aus dem verbindenden Zusammenhang einer übergreifenden Analyse der Herrschaftsverhältnisse und der Organisation gesellschaftsverändernden Widerstands in die Beteiligung an Reformen zurück. Ohne deren Bedeutung in Abrede zu stellen, bleibt doch festzuhalten, daß die Entschiedenheit und Streitbarkeit der Krüppelbewegung nahezu in Vergessenheit geraten ist.

An Gründen, sich um eines Übertrags auf das aktuelle Engagement von Menschen mit einer Behinderung willen mit diesem Aspekt deutscher Geschichte auseinanderzusetzen, mangelt es nicht. Die Ausgrenzung und Diskriminierung besteht fort, woran auch die Änderung des Grundgesetzes im Sommer 1993 ("Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden") nichts geändert hat. Nicht nur ist das Papier der Gesetzeswerke, Konventionen und Deklarationen geduldig, es drängt sich vielmehr sogar der Verdacht auf, daß eine innovative Definition und Selektion verwertbaren Lebens unter diesem Dach besonders gut gedeiht. Eugenische, biomedizinische und bioethische Diskurse und Vorstöße treiben die alte Frage, wer für vernutzbar und wer für überflüssig erachtet wird, auf ungeahnte Weise voran.

Menschen zum Teil im Rollstuhl an Tischen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Treffpunkt Eingangshalle im Landeshaus
Foto: © 2014 by Schattenblick


Kommunalpolitische Praxis emanzipatorisch beflügelt

Mit diesen Vorbemerkungen ist ein Rahmen gespannt, der es begünstigen könnte, den nachfolgenden Bericht zur Tagung "Inklusion in der Kommune" am 19. Oktober 2014 in Münster in einen größeren Kontext zu stellen und zur weiterführenden Diskussion anzuregen. Eingeladen hatten die Fraktionen Die Linke in der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe und in der Landschaftsversammlung Rheinland, denen es ein besonderes Anliegen ist, den Interessen behinderter Menschen in der eigenen Partei, in den Parlamenten und in der Gesellschaft Geltung zu verschaffen.

Obgleich bei dieser Konferenz die Erarbeitung praktischer Ansätze und Hilfen für die kommunalpolitische Arbeit im Mittelpunkt stand, sorgte schon die engagierte Präsenz von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffener Menschen dafür, daß bei aller Konzentration auf fachliche Belange nicht über ihre Köpfe hinweg gesprochen und befunden wurde. Wenn in Beförderung der dabei angestoßenen Debatte im Titel dieser Beitragsreihe zur Tagung in Münster von Inklusionsportalen die Rede ist, so nicht zuletzt in der Absicht, die Frage offen zu halten, was einen auf der anderen Seite dieses Durchgangs wohl erwarten mag.

Verwaltungsgebäude hinter Straßenkreuzung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Landeshaus des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) in Münster
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.sonderpaedagoge.de/geschichte/deutschland/brdnachkrieg/quellen.htm

[2] BERICHT/002: "Der Pannwitzblick" ... den Marsch in die eugenische Gesellschaft verhindern (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0002.html

5. November 2014