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BERICHT/024: Sterben nach Plan - Regeln für Hilflose ... (SB)


So eng können sich formelhafte Leere und ein rechtsfremder Wille, der sie benutzt, verzahnen. Vor dem faschistischen Faktum, das seitdem gekommen, hört freilich auch die logisch geschlossene Ableitung auf. Damit bricht der 'Dezisionismus' hemmungslos durch Recht und Gesetz, der Ausnahmezustand wird Gewohnheit, die Maske des Rechtsstaates auch in bezug auf die juristischen Mittel und Logismen abgelegt.
Ernst Bloch - Naturrecht und menschliche Würde [1]


Spätestens seit den 1980er Jahren wird in der angloamerikanischen Welt über die Notwendigkeit einer Rationierung von Pflegeleistungen für ältere Menschen diskutiert. Eng verknüpft mit einem demographischen Alarmismus, der von sozial sinnvoller Umverteilung nichts wissen will, weil er als bevölkerungspolitischer Sachzwang in die Agenda des neoliberalen Kapitalismus eingebettet ist, wird die letzte Lebensphase als untragbarer Kostenfaktor zur Disposition ihrer vorzeitigen Beendigung gestellt. Wo die Marktdoktrin gesellschaftliche Ausgangsbedingungen wie die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung unhinterfragbar macht, gilt dies auch für den konstatierten Ressourcenmangel im Gesundheitswesen - er kann zum Totschlagsargument werden. Daniel Callahan gab 1987 mit Setting Limits: Medical Goals for an Ageing Society den Startschuß zu einer Debatte, in der die Ratio vernünftigen Handelns mit der Rationierung knapper Ressourcen in eins fällt.

Ethisch legitimiert wurde die an ökonomischen Motiven entfaltete Diskussion über das Verhältnis verfügbarer medizinischer Ressourcen und ihrer Inanspruchnahme durch ältere, geistig eingeschränkte und sterbende Menschen durch einen Selbstbestimmungsdiskurs, in dem der vermeintliche Paternalismus einer alle Möglichkeiten ausschöpfenden Apparatemedizin gegen die Entscheidungsfreiheit davon betroffener Patientinnen und Patienten gestellt wurde. Davon geht zumindest die australische Pflegewissenschaftlerin Megan-Jane Johnstone aus, die 2013 in ihrem Buch Alzheimer's Disease, Media Representations and the Politics of Euthanasia: Constructing Risk and Selling Death in an Ageing Society [2] ausführt, wie sich ökonomische Zwecklogik ethisch-moralisch bemänteln läßt, um im Endeffekt die Maxime ärztlichen Handelns, alles für das Leben zu tun, in die bioethisch begründete Legalisierung aktiver Sterbehilfe umzumünzen.

Die von ihr als Reframing bezeichnete Umdeutung eines ökonomischen Problems, für dessen Behebung sich ebensogut das Argument einer umfassenderen Bemittelung der Pflege am Ende des Lebens anführen ließe, in das ethische Gebot der Wahrung der Patientenautonomie gegen den Primat medizinisch ermöglichten Weiterlebens wurde im Rahmen fünf verschiedener Diskurse mit jeweils spezifischer Nomenklatur vollzogen. Die Nutzlosigkeit medizinischen Handelns, Patientenverfügungen, Advance Care Planning, die Entscheidungsfreiheit der PatientInnen und Aktive Sterbehilfe - diese Frames markieren für Johnstone Kommunikationsstrategien, mit Hilfe derer eine nicht mehr erforderliche Inanspruchnahme von Pflegeleistungen durch ältere PatientInnen einer Gesellschaft schmackhaft gemacht werden sollen, deren Mitglieder aus gutem Grund fürchten, gerade dann das vollständige Arsenal der Medizin und Pflege nicht zur Verfügung zu haben, wenn sie es am meisten benötigen.

Wie die Praxis der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden und Belgien belegt, wo auch nichteinwilligungsfähige oder schlicht lebensmüde Menschen mit ärztlicher Hilfe legal getötet werden, hat das utilitaristische Argument einer Ressourcenverteilung zum Nutzen des größeren Ganzen der Gesellschaft längst eine Eigendynamik entfaltet, hinter der die bioethische Legitimation, sofern überhaupt noch abgefragt, nur mühsam hinterherhinkt. Was anfangs lediglich als Maßnahme für sterbenskranke Menschen, die ihrem Leben nicht mehr aus eigener Kraft ein Ende setzen können, diskutiert wurde, wird heute als medizinische Dienstleistung eingefordert, die in Anspruch zu nehmen geradezu Inbegriff eines selbstbestimmten Lebens sei. Daß die dazu herangezogene Liberalität analog zur neoliberalen Vergesellschaftung des Menschen zum vermeintlich rational agierenden Marktsubjekt jede Verantwortung für soziale Miseren und politische Gewaltverhältnisse von sich weist, um den sozialdarwinistischen, den einzelnen Menschen mit der Peitsche schuldhafter Bezichtigung in die Isolation treibenden Primat sozialer Zertrümmerung durchzusetzen, erklärt, warum kaum erkannt wird, daß die propagierte Freiheit zum Tode den Takt des von ganz anderen Interessen getriebenen Marsches der Lemminge in den Abgrund gesellschaftlicher Entwertung vorgibt.

Gerade der von Johnstone analysierte Angriff auf das Lebensrecht an Demenz erkrankter Menschen zeigt, wie leicht eine an den Willen des potentiell Betroffenen gebundene Vorentscheidung über die medizinischen Bedingungen seines Sterbens normativ verobjektiviert werden kann. Wenn andere Menschen als der oder die Sterbende über die noch vorhandene Lebensqualität urteilen und zu dem Schluß gelangen, hier sei nicht mehr genügend "Benefit" gegeben, um den Einsatz aller medizinischen Mittel zum Weiterleben positiv zu begründen, wird der Rubikon zwischen autonomer Entscheidung und fremdgeleiteter Verfügungsgewalt trockenen Fußes überschritten. Normative Fragen spielen durchaus eine Rolle, wenn künftig auch in der Bundesrepublik das Sterben im Rahmen des Advance Care Plannings (ACP) zu einem planbaren Prozeß werden soll, bei dem mit größerer indikatorischer Reichweite und nach verbindlicheren Kriterien entschieden werden soll, was alles nicht getan wird, um das Leben eines Patienten oder einer Patientin vor dem vorzeitigem Ableben zu schützen.


Bei der Eröffnung der Tagung stehend mit Mikro - Foto: © 2017 by Schattenblick

Erika Feyerabend
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Ressourcenplanung für die letzte Lebensphase - institutionenkompatibel und ohne Zeitverluste"

Die Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen", die am 23. September an der Katholischen Hochschule (KatHO) Nordrhein-Westfalen in Münster stattfand, wurde neben dem Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik IFF in Wien und der Hospiz-Stiftung OMEGA Bocholt e.V. vom Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien BioSkop e.V. veranstaltet. Der Wissenschaftsjournalistin Erika Feyerabend, BioSkoplerin der ersten Stunde, blieb es überlassen, die "Kernelemente des Konzeptes 'Advance Care Planning'" vorzustellen und kritisch zu kommentieren.

"Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase" lautet die Überschrift des Paragraphen 132g im Hospiz- und Palliativgesetz (HPG), in dem das Angebot kassenfinanzierter Beratungen in der Alten-und Behindertenhilfe durch speziell geschulte und zertifizierte GesprächsbegleiterInnen geregelt wird. Sinn und Zweck des Angebotes werden in 132g Absatz 1 zusammengefaßt:

Versicherte sollen über die medizinisch-pflegerische Versorgung und Betreuung in der letzten Lebensphase beraten werden, und ihnen sollen Hilfen und Angebote der Sterbebegleitung aufgezeigt werden. Im Rahmen einer Fallbesprechung soll nach den individuellen Bedürfnissen des Versicherten insbesondere auf medizinische Abläufe in der letzten Lebensphase und während des Sterbeprozesses eingegangen, sollen mögliche Notfallsituationen besprochen und geeignete einzelne Maßnahmen der palliativ-medizinischen, palliativ-pflegerischen und psychosozialen Versorgung dargestellt werden. [3]

Der Etablierung dieses Instrumentes eines planbaren Todes in der Bundesrepublik geht eine bereits jahrzehntelange Praxis des Advance Care Planning (ACP) im angloamerikanischen Raum voraus, an der auch das deutsche Modell orientiert ist. Zur Zeit wird zwischen den Kostenträgern der gesetzlichen und privaten Krankenkassen wie den Betreibern stationärer Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe der Rahmenvertrag verhandelt, in dem die spezifischen Bedingungen finanzieller, personeller und institutioneller Art geklärt werden. Vor der Einführung des ACP wurde es in einem Modellprojekt erprobt, das zwischen 2008 und 2011 in vier Altenheimen in Grevenbroich stattfand. "beizeiten begleiten", so der markenrechtlich geschützte Name des Konzeptes, wurde nach dem Vorbild US-amerikanischer Einrichtungen entwickelt von Prof. Dr. med. Jürgen in der Schmitten, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und Palliativmedizin, und dem Bioethiker Prof. Dr. med. Georg Marckmann, Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, weiterer Ethikkommissionen und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin e.V.

Über das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 500.000 Euro finanzierte Projekt hatte die Zeitschrift Bioskop im Rahmen der Debatte um Patientenverfügungen bereits im März 2010 [4] berichtet. Da eine der vier beteiligten Einrichtungen wieder aus dem Programm ausstieg, ist die empirische Basis, auf der nun weitere Schritte beschlossen werden, recht dünn. Dennoch wird, wie Erika Feyerabend nach Besuchen diverser Tagungen berichtet, die Umsetzung des Gesetzes mit großem Tempo vorangetrieben. Die Referentin versteht das ACP-Programm als eine Perfektionierung der Patientenverfügungen, deren Einführung und Umsetzung Bioskop ebenfalls kritisch begleitet hat.


Erika Feyerabend am Rednerpult mit Projektion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Einführung in ein wegweisendes Programm
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Anhand des von in der Schmitten und Marckmann initiierten und beworbenen Modellprojektes, an dem sich die Implementierung des Gesetzes hauptsächlich zu orientieren scheint, umreißt Feyerabend die inhaltliche Ausrichtung des ACP-Programmes und den Stand seiner Entwicklung. So soll das insbesondere in der Altenhilfe bereits praktizierte Projekt im ersten Schritt dazu führen, daß neuaufgenommenen PatientInnen Sinn und Zweck einer Beratung mit einer Gesprächsbegleiterin und das Verfassen von Vorsorgedokumenten vermittelt wird. Möglichst innerhalb der ersten sechs Wochen des Aufenthaltes soll ein Termin anberaumt werden, aus dem das Verfassen einer Patientenverfügung, einer Hausärztlichen Anordnung für den Notfall (HAnNo) und einer sogenannten Vertreterverfügung durch die zu beratende Person hervorgehen sollte.

Letztere soll einen legalen Stellvertreter dazu ermächtigen, den "mutmaßlichen Willen" des Patienten zu bestimmen, um auch im Falle nicht mehr gegebener Entscheidungsfähigkeit Maßgaben für einen möglichen Notfall zu haben. Da viele Menschen, die in ein Altenheim kommen, nur noch bedingt oder gar nicht mehr entscheidungsfähig sind, schätzt die Referentin, daß dieses Dokument am häufigsten ausgefüllt und zur Anwendung gelangen wird. Doch auch die 2009 in Kraft getretene Patientenverfügung soll weiterhin sicherstellen, daß der Patientenwillen im Notfall und bei nichtvorhandener Einwilligungsfähigkeit bestimmt werden kann. Hier jedoch hat der Bundesgerichtshof 2016 entschieden, daß lediglich dann Rechtssicherheit bestehe, wenn der Willen des Patienten so eindeutig in dem Dokument zum Ausdruck kommt, daß die behandelnden Ärzte über den Patientenwillen nicht im Ungewissen bleiben. Weil der Wortlaut vieler Patientenverfügungen zu vage sein soll, ist davon auszugehen, daß das Gros der existierenden Patientenverfügungen nicht rechtsverbindlich ist.

Dieser Sachverhalt bahnt zugleich der Einführung des ACP den Weg, soll hier doch mit größerer Präzision aufgrund der Beratung durch ExpertInnen niedergelegt werden, welche medizinischen Maßnahmen sich ein Patient im Notfall oder der letzten Lebensphase wünscht und vor allem nicht wünscht. Da ärztliches Handeln stets vom jeweils Machbaren ausgeht, also die Lebensrettung oberstes Gebot ist, sollte es dazu keiner besonderen Aufforderung bedürfen. So zielen die Vorsorgedokumente des ACP eigentlich immer auf Therapiebegrenzung und die damit hergestellte Rechtssicherheit für die behandelnden ÄrztInnen und das Pflegepersonal ab. Dementsprechend nimmt das Ziel der Beratung, standardisierte und eindeutig auslegbare Dokumente zu produzieren, deren Ergebnis in einem Ausmaß vorweg, daß ein Mensch, der sich ausbedingt, alles nur Mögliche und Machbare zu tun, um ihn weiterhin am Leben zu halten, dem tieferen Sinn des ACP-Prozesses eigentlich zuwiderhandelt.


Erika Feyerabend am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Dem Anlaß gemäß engagiert und streitbar
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wie qualifiziert eine Gesprächsbegleitung nach 40 Stunden theoretischen Unterrichts, sechs begleiteten Beratungsprozessen und acht eigenständigen Gesprächen, so die Vorstellungen der Krankenkassen zur Ausbildung des Beratungspersonals, sein kann, ist nicht nur eine Frage der dabei vermittelten Inhalte rechtlicher, medizinischer und psychologischer Art. In der Regel dürften Menschen, die sich in einer Lebensphase befinden, in der sich Fragen tiefgreifender Art stellen, auf weit jüngere BeraterInnen treffen, die in einem ad hoc zwar ergebnisoffenen, strukturell aber auf Therapieverzicht angelegten Gesprächsprozeß die klar umrissene Aufgabe zu vollziehen haben, das Sterben in eine prozessual geregelte und institutionell kalkulierbare Form zu gießen.

Wenn die Vielgestalt subjektiven Lebens, das in die gesellschaftliche Verwertungsordnung einzubinden immer auch ein Akt herrschaftlicher Gewaltanwendung ist, objektivierbaren Zwecksetzungen unterworfen werden soll, so handelt es sich, wie in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft meist unhinterfragt akzeptiert, um einen Akt der Fremdbestimmung. Daß sich darin nicht nur, aber auch ein ökonomischer Nutzen ausdrücken kann, bestätigt die in einem Beitrag für Palliative Medicine [5] von Corinna Klingler, Jürgen in der Schmitten und Georg Marckmann aufgeworfene Frage nach einer möglichen Kostenersparnis durch ACP. Diese wird dort nicht mit einem eindeutigen Ergebnis beantwortet, wiewohl entsprechende Untersuchungen in den USA positiv bestätigen, daß Beratungsprozesse am Lebensende durch Therapieverzicht kostensenkend wirken [6]. Doch allein der Vorschlag, Sicherungen gegen die Korrumpierung der Patientenautonomie durch ACP aufgrund des allgemeinen Kostendrucks im Gesundheitswesen einzuführen, belegt, daß der Einfluß von Kosten-Nutzen-Kalkulationen auf Beratungsprozesse keineswegs auszuschließen ist.

Das lassen auch die vorläufigen Ergebnisse der Rahmenvereinbarung zur Implementierung des ACP ahnen. So wollen die Krankenkassen und der Gesetzgeber unter der Annahme, daß 85 Prozent der Versicherten das Programm in Anspruch nehmen, 50 Versicherte mit jeweils einer Achtel-Stelle versorgen. Die Leistungserbringer wiederum möchten ganz pauschal auf 400 Versicherten eine Vollzeitstelle finanziert bekommen, wobei Sachkosten und die Gesprächsführung mit Rettungsdienst, Hausarzt und anderen Beteiligten außer dem Patienten extra vergütet werden sollten, während diese Koordinierungskosten im Finanzierungsmodell der Krankenkassen bereits enthalten sind. Man kann sich vorstellen, wie wenig Zeit im Endeffekt dafür bleibt, die Ängste und Nöte der betroffenen Menschen auf eine Art und Weise aufzugreifen, mit der nicht nur die ohnehin häufig anzutreffende Befürchtung, der sozialen Umgebung zur Last zu fallen, zur Konsequenz eines vorzeitigen Ablebens getrieben wird.

Je besser die Vereinheitlichung bislang verwendeter Rechtsdokumente und ihre Einbindung in bürokratische Routinen gelingt, je regulierter und lückenloser die Gesprächsberatung vollzogen wird, desto stärker ist die daraus erwachsende Legitimation erwünschter Therapiebegrenzung. Mit dem Unterzeichnen der verschiedenen Vorsorgevollmachten für den Fall nicht mehr vorhandener Entscheidungsfähigkeit wird die Selbstverständlichkeit des Ergreifens aller möglichen medizinischen Maßnahmen nicht nur für den Sterbefall relativiert. Sie betreffen auch medizinische Indikationen außerhalb der Sterbephase, für die erfolgversprechende Therapien zur Verfügung stehen. So gelangt die "(Haus-)Ärztliche Anordnung für den Notfall (HAnNo)" [7] in einer lebensbedrohlichen Notfallsituation zur Anwendung, auch wenn die betroffene Person nicht einwilligungsfähig ist. Der Notfallbogen soll nicht nur für die konkrete Umgebung, sondern für die gesamte Versorgungskette vom Hausarzt über den Rettungsdienst bis zum Krankenhaus handlungsleitend sein.


Erika Feyerabend mit Projektion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Vorstellung des Notfallbogens HAnNo
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Haben der oder die Betroffene, der dazu ermächtigte Bevollmächtigte oder die dazu bestellte Betreuerin sowie die zuständige Gesprächsbegleiterin das im Ampeldesign zwecks schneller Identifikation des mutmaßlichen Patientenwillens gehaltene Dokument unterzeichnet und ist darauf die Option C für "Linderung (Palliation), nicht Lebensverlängerung" angekreuzt, dann wird ein dementer Mensch, der noch eine unbestimmte Zeit zu leben hätte, an den ansonsten ohne weiteres therapierbaren Folgen eines Verkehrsunfalles oder einer Infektion umkommen. Man läßt ihn sterben, weil er zu einem Zeitpunkt vor Eintreten des Notfalls in einer ganz anderen Situation als der Konfrontation mit einer akuten Krise einem Therapieverzicht zugestimmt hat, ohne daß irgend jemand garantieren könnte, wie valide die Basis dieser Entscheidung überhaupt war.

Es liegt auf der Hand, so Erika Feyerabend, daß pflegebedürftige, dementiell veränderte, vom Schlaganfall gezeichnete, komatöse sowie geistig und körperlich behinderte Menschen durch diese Vorkehrungen in besonderer Weise betroffen sind. Je mehr die Umstände ihres Lebens und Sterbens in die Hände ihrer Angehörigen oder BetreuerInnen gelegt werden, desto ungeschützter ist ihr Leben auch allen Einflüssen gegenüber, die den um sie betriebenen Aufwand der vorherrschenden gesellschaftlichen Zweck- und Nutzenratio nachordnen. Die Initiatoren von "beizeiten begleiten" streben nicht umsonst einen umfassendenden Kulturwandel an, der die Planbarkeit des Todes im Endeffekt nicht auf das absehbare Lebensende begrenzt, sondern auch Menschen ab dem 60. Lebensjahr abverlangt.

Vorstellbar ist, das belegen auch im angloamerikanischen Raum erhobene Forderungen, die Ausweitung des Planungsprozesses auf jedes Lebensalter, um die Inanspruchnahme bislang verpflichtender lebenserhaltender Maßnahmen zu relativieren, die dem bioethischen Konzept der Medical Futility gemäß als "medizinisch nutzlos" qualifiziert werden. Nicht auszuschließen ist weiterhin, daß eine solche Relativierung im Kontext der Diskussion um die Aufgabe der Tote-Spender-Regel in der Transplantationsmedizin und die Legalisierung der Organspende durch sogenannte Non-Heart-Beating-Donors, wie unter anderem in Spanien praktiziert, sich als Einfallstor für Wünsche ganz anderer Art erwiese.

Für die Referentin verstärkte der geplante tiefgreifende kulturelle Wandel im Sinne einer durchgreifenden patientenorientierten Behandlung mit nondirektiven Gesprächsprozessen in Form einer relationalen Autonomie, die eine individuelle pflegerische psychosoziale seelsorgerische und medizinische Versorgung in der letzten Lebensphase ermöglichen soll - so ihre zusammenfassende Zitation aus den Materialien der ACP-Programme -, die Selbst- und Fremdentwertung, die im Diskurs um Patientenverfügungen ohnehin stattfindet, um ein weiteres. Menschen brauchen in solchen Situationen Zuspruch und Wertschätzung, mehr Personal, mehr alltägliche Gesprächszeit, bessere hausärztliche Versorgung und soziale Sicherungssysteme, die besonders im Alter löchrig werden, schlägt Feyerabend statt dessen vor.

Die durch ACP-Programme bewirkte Bekräftigung der ohnehin vorhandenen Haltung, man wolle andern nicht mehr zur Last fallen, verändere nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Wahrnehmung und Einstellung von ÄrztInnen, Pflegekräften, BetreuerInnen und GesprächsbegleiterInnen, gibt die Referentin zu bedenken. Die Interessen derjenigen, die betreut werden und derjenigen, die betreuen, seien nun einmal nicht identisch. Wenn die Kliniken und Heime an einer standardisierten Informationsmöglichkeit vor allem ihre haftungsrechtliche Absicherung schätzen, bleiben die Betreuten mit ihren Sorgen um ihre Zukunft und die Frage, wie sie das Sterben oder die längere Pflegebedürftigkeit erleben werden, allein. Das Versprechen auf Selbstbestimmung in der letzten Lebensphase werde für ihre Begriffe mit Vertreterverfügungen, die auch für den Notfall gelten, ad absurdum geführt. Die Entscheidung über Leben und Tod liege dann gänzlich in den Händen von HausärztInnen, BetreuerInnen und Gesprächsbegleitung, was sie dennoch nicht einfacher mache, meint die Referentin unter Verweis auf ihre Vorrednerin Karin Michel.

Das Gesetz zu und den Diskurs um ACP versteht Feyerabend als Einübung in den Verzicht auf Behandlungen bei besonders verletzlichen Menschen. Gewollt sei der "Entscheidungstod" durch Verzicht auf Sondenernährung und Behandlung von therapierbaren Begleiterkrankungen weit vor dem Eintreten prinzipiell nicht vorstellbarer Lebensumstände. Was der Gesetzgeber als "Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase" anpreist, wäre mit der Bezeichnung "Ressourcenplanung für die letzte Lebensphase - institutionenkompatibel und ohne Zeitverluste" treffender benannt. Sei die Kritik am medizinischen Imperativ des Machbaren auch berechtigt, so sei es mehr als fragwürdig, ob ihm durch rein individuelles Entscheiden beizukommen sei. Gerade ACP-Programme seien vom Anspruch der Steuer- und Handhabbarkeit getragen - unter Beibehaltung all jener kritikwürdigen Strukturen und kulturellen wie ökonomischen Orientierungen, die diesen Imperativ hervorbringen, so die Referentin.

Anstatt die Sicht der Institutionen der Alten- und Behindertenhilfe auf medizinisch verengte Behandlungsweisen zu richten, sei der Blick für eine sozial orientierte Gestaltung des Alltags, die sich aus Kenntnis der Person und Biographie ergibt, zu weiten. Entscheidungssituationen in hochmodernen Gesellschaften blieben stets schwierig und müßten dies auch sein, um nicht Versuchungen und vorgeprägten Selbstverständlichkeiten zu erliegen wie denjenigen, Gestalten nur noch als Vorabplanen zu verstehen, gewissenhaftes Urteilen durch Formulare, Dokumentationen und haftungsrechtliche Absicherungen zu ersetzen sowie Sterben als Managementaufgabe zu banalisieren.


Außensicht Katholische Hochschule NRW in Münster - Foto: © 2017 by Schattenblick Außensicht Katholische Hochschule NRW in Münster - Foto: © 2017 by Schattenblick Außensicht Katholische Hochschule NRW in Münster - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kritische Einlassungen in einer christlichen Bildungseinrichtung Foto: © 2017 by Schattenblick

Im Voraus planen, was nachher nicht mehr bereut werden kann

Eine "Behandlung im Voraus planen (BVP)", so die nun häufig für Advance Care Planning verwendete Bezeichnung, kann im Grunde genommen niemand, der nicht erlebt hat, wie es ihm in einer lebensbedrohenden Situation geht. Eine solche Entscheidung zu treffen verlangt den PatientInnen nicht nur eine Abstraktionsfähigkeit ab, über die sie möglicherweise nicht verfügen, weil sie von den Herausforderungen des alltäglichen Existenzkampfs völlig in Anspruch genommen werden. Sie überhaupt treffen zu müssen, bevor etwa eine Demenz die eigene Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt, konfrontiert den Menschen damit, selbst als Homo oeconomicus ausgedient zu haben und zu einem bloßen Kostenfaktor geworden zu sein. Indem auch auf diejenigen Bereiche des Lebens zugegriffen wird, in denen der Mensch als gesellschaftliches Wesen allmählich verschwindet, wird die Totalität staatlicher Ein- und Ausschlußkriterien ein letztes Mal bestätigt und allen nachkommenden Menschen mit hinreichender Deutlichkeit vor Augen geführt.

Die biopolitische Zurichtung der Bevölkerung auf die Bewirtschaftung des zusehends privatisierten und unter Finanzierungsvorbehalten stehenden Gesundheitswesens zeichnet sich bereits in disziplinierenden Angeboten wie der Gewähr von Boni bei der Einhaltung bestimmter Formen der Lebensführung ab. Keine Genußgifte zu konsumieren, die Gewichtszunahme zu begrenzen oder Sport zu treiben mag für sich genommen sinnvoll sein. Gekoppelt an die Überprüfung durch die Krankenversicherung etwa mit Hilfe der an diese weitergeleiteten Daten des Selftracking [8] verfallen individuelle Praktiken dem Imperativ einer Selbstoptimierung, in der das Selbst zum Platzhalter eines sozialpolitischen Kommandos gerät, das bislang noch als unberührbar vermutete Potentiale subjektiven Lebens zur weiteren Ingebrauchnahme erschließt.

Wie schon die 2012 Gesetz gewordene "Entscheidungslösung" in der Transplantationsmedizin zeigt, mit der die Krankenkassen und die privaten Krankenversicherungsunternehmen ermächtigt werden, die Versicherten in regelmäßigen Anschreiben dazu aufzufordern, eine Entscheidung zur Organ- und Gewebespende zu treffen, wird die individuelle Leiblichkeit tendenziell als kollektive Ressource vergemeinschaftet. Dies innerhalb einer von ganz unterschiedlichen bis antagonistischen Interessen bestimmten Klassengesellschaft zu tun kann dem Anspruch sozialer Gerechtigkeit niemals genügen. So wie wohlhabende PatientInnen jederzeit in ein Land des Südens fliegen können, um sich ein Ersatzorgan zu kaufen, so entbindet sie eine privat finanzierte Pflege bis ans Lebensende auch davon, sich durch die vermeintlich illegitime Inanspruchnahme von Ressourcen materieller wie sozialer Art genötigt zu fühlen, um von Unterschieden bei der Qualität der Pflege gar nicht erst zu reden.

Menschen unter diesen Umständen gesellschaftlicher Ungleichheit Entscheidungen wie im Rahmen der ACP-Programme abzuverlangen bedarf daher eines sozialen und strukturellen Druckes, der die Not, in der sich Menschen in besonderer Abhängigkeit von ihrer Umgebung befinden, nicht aufhebt, sondern ihr zutiefst entspricht. Diese Not ist nicht gegenstandslos, wie etwa der Ausschluß von Flüchtlingen oder Obdachlosen von wesentlichen Ansprüchen und Rechten der bürgerlichen Gesellschaft belegt. Die Gefahr, als der Gemeinschaft der Menschen aus Gründen körperlicher wie kognitiver Einschränkungen nicht mehr zugehörig stigmatisiert zu werden, ist nicht imaginär, sondern in den materialistischen Vergesellschaftungskriterien der auf Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation ausgerichteten Gesellschaft angelegt.

Die heute favorisierte Abwesenheit staatsautoritärer Programme wie etwa dem der systematischen Ermordung Behinderter im NS-Staat ist mit dem Verzicht auf herrschaftliche Verfügungsgewalt nicht gleichzusetzen. Heute wird, wie beim Nudging des liberalen Paternalismus [9], mit sanfter Hand manipuliert und auf elegante Weise reguliert, um im Ergebnis vorzeitigen Ablebens [10] bei den AdressatInnen dieser Form des Social engineering den Eindruck zu erzeugen, souverän und selbstbestimmt sogar gegen das eigene Lebensinteresse zu handeln. So wurde 2013 in einem Artikel der renommierten US-Zeitschrift Health Affairs, in dem das Nudging von PatientInnen als ethisch wertvoller propagiert wird als eine ausgeglichene und ergebnisoffene Beratung, auf die Verantwortung von BeraterInnen für eine Ressourcenverwendung hingewiesen, "bei der keine inakzeptablen Opportunitätskosten erzeugt werden, indem die Konsumption von Ressourcen in Anspruch genommen oder in eine Richtung getrieben wird, die als klinisch nicht nutzbringend beurteilt wird, weil dieser Gebrauch den Zugang zu Ressourcen blockiert, der klinisch nutzbringender bei anderen Patienten eingesetzt werden könnte" [11].

So kann der Inhalt der Entscheidung zum planbaren Tod auch die Option enthalten, sich nicht auf eine Therapiebegrenzung festzulegen, solange sie überhaupt getroffen und damit die Gültigkeit der Instanz anerkannt wird, die das menschliche Leben immer lückenloser in ein Verlaufsdiagramm vorgeprägter Möglichkeiten preßt. Daß sich diese immer weiter verengen, ist nicht nur eine Folge biologischen Alterns, sondern vor allem der Maßregelung des Individuums als Produzent der eigenen Lebenswirklichkeit von der Kommandohöhe des übergeordneten Interesses aus, diese beherrschbar und kontrollierbar zu machen. Es geht um die Verfügbarkeit des Menschen in allen Lebens- und Sterbenslagen, denn nur so läßt sich der Übertrag der sozialdarwinistischen Logik auf die ganze Gesellschaft als Akteur im globalen Wettbewerb vor dem Horizont anwachsender Mangelkrisen bewerkstelligen.


Gesteck mit Blumen, Kastanien und Äpfeln im Vortragssaal - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Ernst Bloch - Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/Main 1961, S. 172

[2] Megan-Jane Johnstone: Alzheimer's Disease, Media Representations and the Politics of Euthanasia: Constructing Risk and Selling Death in an Ageing, Society, Ashgate Publishing 2013, Routledge 2016

[3] http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl115s2114.pdf

[4] http://www.bioskop-forum.de/media/bioskop_49.pdf

[5] http://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/0269216315601346

[6] S. 141 "Does Advance Care Planning Affect Health Care Costs?"
Institute of Medicine: Dying in America, Washington D.C. 2015

[7] http://www.beizeitenbegleiten.de/assets/hanno(r)-bb-5-2016_muster.pdf

[8] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0067.html

[9] Liberaler Paternalismus - kein Widerspruch in sich ...
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1710.html

[10] "Soziale Indikation" für ärztliche Sterbehilfe?
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0979.html

[11] Decision Aids: When 'Nudging' Patients To Make A Particular Choice Is More Ethical Than Balanced, Nondirective Content.
http://www.healthaffairs.org/doi/full/10.1377/hlthaff.2012.0761


26. Oktober 2017


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