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INTERVIEW/026: Inklusionsportale - Opfer hört die Signale ...    Lul Autenrieb im Gespräch (SB)


Unterentwickelte Sozialkultur in einem wirtschaftlich reichen Land

Interview am 19. Oktober 2014 in Münster



Lul Autenrieb wurde 1960 in Somalia geboren und mit 17 Jahren zwangsverheiratet. Sie arbeitet seit 1984 unter anderem als Übersetzerin in Deutschland und lebt im Bonner Stadtteil Tannenbusch, wo sie die Deutsch-Somalische Gesellschaft im Arbeitskreis Vielfalt vertritt. Die Mutter von drei Kindern hat ihre eigene Lebensgeschichte im Gedichtband "Ich breche das Schweigen" thematisiert und setzt sich seit langem für Migrantinnen mit Gewalterfahrungen wie auch für Menschen mit Behinderungen ein.

Bei der Tagung "Inklusion in der Kommune" am 19. Oktober in Münster trug Lul Autenrieb mit ihren Beiträgen im Workshop und Plenum zu einer lebendigen Diskussion bei. In einer Pause der Konferenz beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu den Gründen ihres Engagements, ihren Erfahrungen in Deutschland und der Unterstützung für Menschen mit einer Behinderung in politischen Parteien.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Lul Autenrieb
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Lul, könntest du erzählen, auf welche Weise du dich in deinem Bonner Umfeld engagierst?

Lul Autenrieb: Ich bin zum einen Integrationslotsin bei der Stadt. Dabei begleite ich Menschen, die in Not sind, und versuche, mit ihnen gemeinsam Auswege in bessere Lebensverhältnisse zu finden. Außerdem bin ich in Angelegenheiten von Menschen mit einer Behinderung aktiv und unterstütze über einen Förderverein heilpädagogische Kindergärten. So engagiere ich mich auf verschiedenen politischen Ebenen in der Stadt.

SB: Wie kam es, daß du auf diesen verschiedenen Feldern tätig bist und andere Menschen unterstützt?

LA: So etwas lag mir immer schon am Herzen. Ich finde es selbstverständlich, daß man andere Menschen sozial unterstützt, zumal ich selbst Mutter von drei Kindern bin und daher weiß, mit welchen Problemen man jeden Tag zu kämpfen hat.

SB: Du unterstützt insbesondere auch Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Könntest du etwas darüber berichten?

LA: Ich habe eine Gruppe für Frauen mit Gewalterfahrungen gegründet. In den meisten Fällen haben diese Frauen einen Migrationshintergrund. Mir war es wichtig, ihnen das Zurechtkommen in der neuen Heimat zu erleichtern, sowohl in gesundheitlichen wie auch behördlichen Fragen.

SB: Wie wird diese Hilfe angenommen und gibt es noch weitere Projekte und Anlaufstellen für diese Frauen?

LA: Die Frauen sind sehr dankbar für die Unterstützung. Sie sind in der neuen Heimat mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert und leiden auch an seelischen Problemen. Unsere Projekte sollen den Frauen gerade in diesen Bereichen helfen. Ich habe die Gruppe zwar ins Leben gerufen, aber bei uns arbeiten mehrere Frauen ehrenamtlich, die auch verschiedene Sprachen sprechen. Darunter ist auch eine Anwältin, die in Fragen des Aufenthaltsrechts berät. Wir helfen mit Rat und Tat. Träger ist der Paritätische Wohlfahrtsverband.

SB: Deutschland ist eigentlich ein reiches Land, aber wie erlebst du die Art und Weise, wie mit Migrantinnen und Migranten, die aufgrund persönlicher Schwierigkeiten, aber auch wegen drückender Armut hierher gekommen sind, umgegangen wird?

LA: Was ich sehe, macht mich manchmal sehr traurig. Deutschland ist zwar in wirtschaftlicher Hinsicht ein reiches Land, aber menschlich gesehen doch ein armes Land. Die Sozialkultur ist hier sehr schwach entwickelt. Man hat das Gefühl, daß sich die Menschen nur für sich selbst interessieren. Das ist dann wie eine Mauer: Hauptsache mir geht es gut, die anderen kümmern mich nicht. Ich wünschte mir, daß die Gesellschaft auch einmal Verantwortung für die Mitmenschen übernehmen würde. Wenn es einem gutgeht, sollte er versuchen, etwas davon an andere abzugeben, damit die Menschen etwas Wärme bekommen und ein Licht im Dunkeln sehen. Dann würde auch die Welt schöner werden.

Wie kann es sein, daß man in einem reichen Land wie Deutschland so viel Trauer erlebt? Wenn man in dieser Gesellschaft hört, wie oft Menschen das Leben nicht mehr ertragen können, ist nicht nur der Staat gefordert, eine Besserung herbeizuführen. Der Staat allein ist nichts, es müssen schon die hier lebenden Menschen etwas ändern und versuchen, gemeinsam die Welt nach ihren Interessen zu gestalten. Das wünsche ich mir von der Gesellschaft, daß man tatsächlich zu der Überzeugung gelangt, jeder könne seinen Teil dazu beitragen, die sozialen Verhältnisse zu verbessern und auf diese Weise anderen Menschen das Leben leichter zu machen.

SB: Du bist in der Partei Die Linke organisiert?

LA: Ja, ich bin seit vergangenem Jahr bei Der Linken. Vorher war ich in einer anderen Partei, deren Namen ich hier nicht nennen möchte. Ich war dort unzufrieden, weil ich mich ein bißchen ausgegrenzt gefühlt habe. Deshalb bin ich ausgetreten und habe mich der Linkspartei angeschlossen. Hier bin ich weiterhin sehr aktiv und versuche, auf politischer Ebene etwas zu bewirken. Ich habe selbst einen Migrationshintergrund, aber trotzdem ist inzwischen hier in Deutschland meine Heimat. Und ich wünsche mir, daß alle hier lebenden Menschen gemeinsam ihre Heimat gestalten können. Deshalb versuche ich, über die Partei mit vielen Leuten in Kontakt zu kommen.

SB: Mußt du, wenngleich Die Linke jetzt auch deine politische Heimat ist, mitunter deinen Parteigenossinnen und -genossen ein wenig auf die Sprünge helfen? Du hattest ja vorhin in der Diskussion angesprochen, daß das Engagement der Politikerinnen und Politiker das eine sei, man aber andererseits auch viel stärker dafür Sorge tragen müsse, daß die Menschen mit Behinderungen selbst gehört werden.

LA: Ja, das ist wichtig. Man muß auf allen Ebenen dafür sorgen, daß stets die Betroffenen an Bord geholt werden. Nur wenn sie selber mit ihren Anliegen Gehör finden, kann man in Erfahrung bringen, was es zu verbessern gilt und wie eine Veränderung politisch in der Gesellschaft umgesetzt werden könnte. Erst wenn die Menschen mit einer Behinderung eine Stimme in der Partei bekommen, läßt sich etwas im Sinne ihrer Interessen verändern.

SB: Was wäre aus deiner Sicht wichtig bei Begegnungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen und was sollte in dieser Hinsicht verbessert werden?

LA: Für mich ist es wichtig, daß Behinderte genauso angesehen werden wie alle anderen Menschen auch. Daß wir nicht immer das Gefühl haben, unausgesprochen gefragt zu werden, was bist du oder was suchst du hier? Das führt zwangsläufig zu einem Minderwertigkeitskomplex. Man sollte Menschen mit einer Behinderung glaubwürdig vermitteln, daß sie nicht weniger wert als die anderen sind und in jeder Hinsicht akzeptiert werden. Jeder Mensch hat irgend etwas Gutes, so daß man von ihm lernen kann, wobei es keine Rolle spielt, ob er behindert oder nicht behindert ist. Das sollte die Gesellschaft meines Erachtens begreifen.

SB: In der Diskussion vorhin war der Vorschlag gefallen, daß die Behinderten viel mehr in die Offensive gehen und öffentlich in Erscheinung treten sollten. Teilst du diese Auffassung?

LA: Auf jeden Fall. Ich bin politisch aktiv und der Überzeugung, daß wir als Betroffene diesen Schritt tun und sagen müssen: Leute, so geht das nicht! Wir wollen auch ernst genommen werden. Und wie sich dank solcher Initiativen behinderter Menschen allmählich zeigt, werden wir langsam, aber sicher tatsächlich ernst genommen. Das wünschen wir uns, das wollen wir erreichen.

SB: Wir sind noch nicht ganz am Ende der Tagung angekommen. Dennoch möchte ich dich abschließend fragen, welchen Eindruck du bisher von der Konferenz und dem Umgang miteinander hast.

LA: Ich habe einen sehr guten Eindruck von dieser Tagung. Ich habe heute viele Menschen mit und ohne Behinderung kennengelernt und fühle mich wirklich sehr gut angenommen. Das gibt mir Hoffnung, daß wir in unserer Partei auf jeden Fall vieles verbessern können. Sehen dann andere Leute, daß in der Partei Die Linke eine Politik im Interesse der Menschen mit Behinderungen für wichtig erachtet wird, ist ein Übertrag in die Gesellschaft möglich. Es gibt zwar genug andere Parteien, aber ich erlebe und fühle es als Betroffene hier, daß man uns wirklich für voll nimmt. Dafür bin ich der Partei sehr dankbar. Es ist außerordentlich wichtig, daß man als Mensch seine Bedürfnisse und Anliegen in einem politischen Kontext offen ansprechen kann und dabei die Erfahrung macht, daß man am selben Strang zieht. Wenn wir erleben, wie viele Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen hier zusammengekommen sind und gemeinsam an Verbesserungen arbeiten, ist es genau das, was wir uns wünschen.

SB: Lul, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Tagung "Inklusion in der Kommune" in Münster im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/020: Inklusionsportale - Dschungelfreiheit ... (SB)
BERICHT/021: Inklusionsportale - Klassen- und barrierefrei ... (SB)
INTERVIEW/025: Inklusionsportale - Keine Freiheit von Gnaden ...    Maik Nothnagel im Gespräch (SB)

10. November 2014