Schattenblick → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT


INTERVIEW/030: Sterben nach Plan - die Zange der Wahl ...    Karin Michel im Gespräch (SB)


Dr. phil. Karin Michel ist Dozentin für Ethik an der Evangelischen Hochschule Bochum und der Universität Trier. In ihrer Arbeit als gesetzliche Betreuerin begleitet sie Menschen in der Endphase ihres Lebens und ist auch ganz praktisch mit der Frage konfrontiert, wie die Autonomie nicht mehr entscheidungsfähiger Patientinnen und Patienten sicherzustellen ist. Auf der Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen", die am 23. September 2017 an der Katholischen Hochschule (KatHO) Nordrhein-Westfalen in Münster stattfand, referierte sie in ihrem Vortrag "Vorsorgediagnose" über die juristischen, institutionellen und sozialen Wirkungen von Patientenverfügungen. Dem Schattenblick beantwortete sie einige weiterführende Fragen zum gesellschaftlichen Umgang mit der Freiheit des Willens in finalen Situationen.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Karin Michel
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Bei der Patientenverfügung geht es im Grunde um eine Willensfeststellung. Einmal an Sie als Philosophin die Frage gestellt: Inwiefern kann in einer Gesellschaft, in welcher der Mensch vielen Kräften und Interessen ausgesetzt ist, überhaupt von einem autonomen Willen gesprochen werden?

Karin Michel (KM): Philosophisch gesehen ist der freie Wille natürlich ein Konstrukt oder eine ideale Annahme, die im Zusammenhang der Zurechenbarkeit von Handlungen steht. Wer nicht frei ist, kann auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. In einem Staat aus freien Bürgern, die für ihre Taten verantwortlich sind und demzufolge auch bestraft werden können, ist der freie Wille ein wichtiges Konstrukt, um unser Konzept von Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Als Idee kann man den freien Willen jedoch weder sehen noch messen, aber auf der Basis dieses idealen Konstruktes ist der Mensch im rechtlichen Sinne für sein Handeln verantwortlich, kann aber als Rechtsperson auch Ansprüche geltend machen.

SB: Als Rechtsperson gilt allerdings nur, wer mündig ist. Menschen, die entmündigt werden, sind in diesem Sinne keine Rechtspersonen mehr.

KM: Das ist ein drastischer Begriff, aber ja, er ist dann nicht mehr rechtsfähig.

SB: Heißt das in der Konsequenz nicht auch, daß die Freiheit des Willens relativ ist, nämlich insofern, als einem Menschen zuerkannt wird, nach bestimmten Kriterien als mündig zu gelten?

KM: Ja, aber Entmündigung gibt es ja so nicht. Das Betreuungsrecht geht von einem Menschenbild aus, das natürlich auch Menschen mit Beeinträchtigungen Rechte zumißt. Die rechtliche Betreuung ist im Prinzip dafür gedacht, diese Rechte durchzusetzen oder einzufordern bzw. dafür Unterstützung zu leisten. Die Stellvertretung soll möglichst wenig passieren, also daß Betreuerinnen und Betreuer für jemand anderen entscheiden, der nicht entscheidungsfähig ist. Man kommt immer auf das Konzept des natürlichen Willens zurück, was Betroffene wünschen, was sie gerne wollen, wie sie leben möchten. Das ist auch ganz wichtig und bindend für die rechtliche Betreuung, die sozusagen eine Stellvertreterfunktion für die Rechtsperson einnimmt. Natürlich ist das ein schwieriges Verhältnis. Man muß sehr aufpassen, daß man nicht in Bevormundungssituationen oder Machtverhältnisse hineinkommt, aber es ist machbar, wenn man es als Assistenzverhältnis versteht.

SB: In dieses Problemfeld spielt auch die Abgrenzung zum Tier insofern mit hinein, als einige Menschen Grundrechte für Primaten einfordern, weil bei ihnen eine bestimmte kognitive Ebene unterstellt wird. Was als Norm festzustehen scheint, bewegt sich offenbar in einem freien Feld, weil sie sich je nach dem Blickwinkel der Beurteilung verändert.

KM: Ja, das ist wohl richtig. Nun ist das Konzept des freien, selbstbewußten und selbstbestimmten Bürgers natürlich ein Konzept der Aufklärung, ein Konzept des sich Wehrens gegen Fremdbestimmung durch den Feudalismus. Dort heißt es, jeder könne seine Vernunft gebrauchen und selber beurteilen, was richtig ist und was nicht, ohne es von oben gesagt bekommen zu müssen. Aufklärung ist der Ausgang aus der Unmündigkeit, aber es ist eben ein ideales Konstrukt. Wir alle sind mehr oder weniger mündig und entscheidungsfähig bzw. nicht entscheidungsfähig.

Die strikte Abgrenzung gegen das Tier ist natürlich eine schwierige Frage. Ist das Tier eine Person oder nicht? Sind nur Menschen Personen? Dimensionen dieser Art werden damit berührt. Natürlich sind die Unterschiede fließend, aber wenn man ein Rechtssystem etablieren will, kann man ein Schwein nicht vor Gericht stellen, weil es irgend etwas falsch gemacht hat.

SB: Die Grundrechte gelten als unveräußerlich, enthalten jedoch in Artikel 2 Absatz 2 die Klausel, daß in diese garantierten bürgerlichen Rechte nur "aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden" kann. Handelt es sich dabei nicht wieder um eine fragwürdige Relativierung?

KM: Richtig, es wird relativiert. So ist das Strafrecht auch der Eingriff in ein Grundrecht aufgrund eines Gesetzes, daß also Grenzüberschreitungen von Freiheiten nicht geduldet werden. Desgleichen kann auch in Betreuungsverhältnisse aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, aber im Grunde hat dieses vom Gesetzgeber erlassene Gesetz eine Schutzfunktion und soll dazu dienen, Hindernisse der Freiheit der Autonomie aus dem Weg zu räumen, also Leute aus untragbaren Verhältnissen herauszuholen, damit sie wieder zu sich kommen, ihr Leben gestalten können und nicht in einer Abhängigkeit oder im Chaos einer Psychose versinken. Hinter dem Gesetz steht also der Gedanke der Selbstermächtigung. In der Praxis kann das aber umkippen, was für den Betroffenen gefährliche Folgen hätte. Es ist richtig, daß die rechtliche Betreuung sehr starke Eingriffsmöglichkeiten bietet. Deshalb braucht man auch Kontrollen, was genauso wichtig ist.

SB: Sie sind in Ihrem Vortrag auch auf die moderne Idee der Selbstoptimierung und Eigenverantwortung zu sprechen gekommen, obwohl aus einer politischen Sicht ziemlich klar ist, daß es sich bei der Eigenverantwortung um einen Vorwandsbegriff des neoliberalen Denkens handelt, um Menschen daran zu hindern, die Gesellschaft in Verantwortung zu nehmen. Wie wenden Sie das auf die Patientenverfügung an?

KM: Indem ich sage, daß die Patientenverfügung das ist, was die Agenda 2010 im Sozialsystem ist, daß Eigenverantwortung und Selbstentscheidung gefordert werden, aber man im Gegenzug auch die Konsequenzen tragen muß, daß sozusagen unter dem Deckmantel des Autonomiediskurses im Prinzip Therapiebegrenzungsempfehlungen öffentlich diskutiert werden und dieses Instrument eigentlich dafür vorgesehen ist, von gesellschaftspolitischen Kollektivlösungen abzulenken. Ja, das war jetzt ein langer Satz, aber es ist doch ganz klar, was mit der Individualisierung erreicht werden soll. Da braucht man nicht auf den Pflegenotstand zu schauen. Dann sagt die Oma, nein, ein Pflegeheim möchte ich nie von innen sehen, deshalb schreibe ich jetzt erst einmal auf, daß ich das und das nicht möchte, wenn mir etwas passiert.

Man beachte nur die Videoclips von Roger Kusch auf Youtube. Das sind lauter Autonomie-interessierte Damen, die sterben wollen, weil sie nicht abhängig sein und ins Pflegeheim möchten. In diesem Sinne geht der Neoliberalismus natürlich wunderbar auf. Diejenigen, die schwach werden, Schwierigkeiten bekommen, Fürsorge und die Gemeinschaft brauchen, können sich auf diese Weise dann selber den Sorgeverhältnissen entziehen. Supersache, kann man einen Strich drunterziehen, die ethisch verantwortliche Selbstbestimmung spart auch noch Kosten, wie schön!

SB: Es gibt den bekannten Fall des ehemaligen MDR-Chefs Udo Reiter, der für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eintrat und Suizid beging, um nicht pflegeabhängig zu werden. Inwiefern könnte man das im politischen Sinne als Klassenproblem oder, modern gesagt, als Elitenproblem bezeichnen, daß Menschen, die immer die Kontrolle über ihr Leben besaßen, nicht einmal eine Pflegesituation ertragen wollen, während andere Menschen niemals die Freiheit liberaler Privilegien genossen haben und ganz anders mit ihrer Notlage umgehen müssen?

KM: Das mag schon sein. Ich sage es einmal so: Wenn solche Beispiele eines selbstbestimmten Todes in die mediale Öffentlichkeit gehen, können damit natürlich auch Schichten erreicht werden, die lebensweltlich nicht immer diese Selbstbestimmungserfahrung hatten und sich jetzt sagen, ich muß eine Patientenverfügung machen, weil sich das heute so gehört und ich außerdem nicht an die Schläuche möchte. Solche Zusammenhänge gibt es. Sicherlich ist selbstbestimmtes Ableben ein großer Wunsch von sehr aufgeklärten, an Führungssituationen gewöhnten Persönlichkeiten.

SB: Wäre, sich aus eigenem Antrieb das Leben zu nehmen, ehe man zum Pflegefall wird, demnach auch sozial determiniert?

KM: Ja, ich kenne selber Beispiele, in denen sich Unternehmer beispielsweise über einen assistierten Suizid das Leben genommen und vorher ganz klar gesagt haben, nicht in eine Abhängigkeit geraten zu wollen. Wenn diese Art, aus dem Leben zu gehen, als Urbild des modernen Sterbens propagiert wird, kann dies dazu führen, daß dadurch natürlich auch Klassengrenzen übersprungen werden, zumal man von einer Internalisierung neoliberaler Werte reden kann. Es ist doch nicht schön, wenn man nichts mehr selber machen kann. Dann kommt ein Herr in der Schmitten und fragt den Herrn im Pflegeheim: Na, leben Sie gern? Darauf sagt dieser erst einmal Ja, aber irgendwann sagt er dann doch, daß das hier eigentlich nur ein Dahinvegetieren sei. Daraus kann man ersehen, daß das auch so eine Reflexion auf Werte ist, die aktuell in den Köpfen herumspuken und nicht so greifbar in der Atmosphäre liegen.

SB: In einem Vortrag heute kam die Rede darauf, daß Menschen nicht loslassen können und so möglicherweise einen langen Leidenskampf aus Angst vor dem Tod führen. Könnte es nicht auch sein, daß Menschen aus purem Interesse am Leben nicht sterben wollen und daher bis zum letzten Moment kämpfen? Wie sehen Sie das als Philosophin?

KM: Das Feld ist zu weit, um jetzt auf anthropologische Fragestellungen eingehen zu können, aber interessant in diesem Zusammenhang ist doch die Frage, wie entwickelt der Selbsterhaltungstrieb ist. Meine Mutter ist eine Kämpferin, die sich sicher nicht vorzeitig verabschieden würde. Es gibt aber auch Menschen, die es anders machen. Wie im Einzelfall mit dem Lebensende umgegangen wird, ist sicher sehr unterschiedlich. Indes kann man auch gesellschaftlich bedingte Strömungen in den Individuen beobachten. Das Problem beim Sterben oder beim Tod ist, daß dieses Moment bis kurz vor dem Schluß, wo sich vielleicht das Loslassen oder Kämpfen abspielt, nicht aus erster Hand allgemeingültig beschrieben werden kann. Das sind hypothetische Fragen, auf die immer wieder Normen projiziert werden. Den Tod erlebt man nicht, wir haben immer nur Interpretationen davon.

SB: Frau Michel, vielen Dank für das Gespräch.

23. Oktober 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang