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BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)


NS-Euthanasie - ein blinder Fleck im deutschen Geschichtsbewußtsein

Workshop am 7./8. Februar 2014 in Hamburg-Alsterdorf und Neuengamme



Der unterschiedliche Umgang mit verschiedenen Opfergruppen des NS-Staats sticht ins Auge. So gehört die "Euthanasie" in Gestalt der Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen nach wie vor zu den weithin verdrängten und ausgeblendeten Greueltaten des NS-Regimes. Unter den Gründen für diesen blinden Fleck im deutschen Geschichtsbewußtsein kommt der Rolle der Institution Psychiatrie eine zentrale Bedeutung zu, hat ihr repressiver Zugriff auf die Insassen doch lange vor dieser Diktatur begonnen, wie er auch nach deren Ende nahezu ungebrochen fortbestand.

Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erörterten Ärzte und Gesundheitspolitiker nicht nur in Deutschland mögliche Maßnahmen zur Gesundung des "Volkskörpers" mittels "Rassenhygiene" und Eugenik. Auch die Sterilisation psychisch Kranker und geistig behinderter Menschen sowie der "Gnadentod" unheilbar Kranker standen bereits im Raum. Das systematische Hungersterben in der Psychiatrie begann im Ersten Weltkrieg. Wie die anderen kriegführenden Mächte hatte auch das Deutsche Reich keinerlei Vorsorge für einen länger andauernden Krieg getroffen. In den ersten beiden Kriegsjahren war die Ernte schlecht, ab 1916 gab es nur mehr wenig Getreide und kaum noch Kartoffeln. Dies führte zum katastrophalen Steckrübenwinter für eine ohnehin schlecht ernährte Bevölkerung.

Der Nahrungsmangel traf die Insassen psychiatrischer Anstalten noch wesentlich härter als die Allgemeinbevölkerung, da ihre Rationen im Zuge eines Vernichtungsprogramms bis unter das Existenzminimum eingeschränkt wurden. Da zudem Kohlemangel herrschte, wurden die Unterkünfte dichter mit Patienten belegt, um Heizkosten zu sparen. Dadurch stieg die Anfälligkeit für übertragbare Erkrankungen, die sich in erster Linie in einer erschreckenden Zunahme der Tuberkulosetoten zeigte. Bakterielle Ruhr und, während der großen Epidemie im Oktober 1918, Grippe rafften die Menschen dahin. Vergleicht man die Sterbezahlen der Anstalten vor und während des Krieges, so ergibt sich, daß während der Kriegsjahre zusätzlich über 70.000 Anstaltsinsassen zu Tode gebracht wurden.

Die erhöhte Sterblichkeit endete nicht mit dem Krieg, denn erst 1921/22 sank die Rate wieder auf das Vorkriegsniveau, um dann infolge staatlicher Sparmaßnahmen erneut anzusteigen. Die deutschen Psychiater und Anstaltsverwalter verschwiegen das Hungersterben oder verschleierten es als kriegsbedingt. Wenn überhaupt Schuld zugewiesen wurde, dann der Blockade der Alliierten.

Die Diskussion über den Lebenswert sogenannter Geisteskranker nahm in der Folge an aggressiver Schärfe zu. Sozialdarwinistische, völkische und ökonomische Stoßrichtungen verschmolzen zu der Forderung, sich der "Ballastexistenzen" zu entledigen. Im Kontext steigender Sozialausgaben der Weimarer Republik fanden diese Spardebatten schon vor der Weltwirtschaftskrise statt, ab 1931 kam es zu massiven finanziellen Kürzungen im Etat der Anstalten. Die Sparmaßnahmen wurden dann in der Vorkriegszeit von den NS-Machthabern forciert, indem man die Nahrung für die Anstaltsinsassen ab 1937 auf das Allernotwendigste beschränkte.

Das Protokoll der Sitzung der Anstaltsdezernentenkonferenz des Deutschen Gemeindetages vom 11. Dezember 1931 hielt fest, daß sich angesichts der einschneidenden Sparmaßnahmen auf allen Gebieten des täglichen Lebens die Frage aufdränge, in welchem Umfang man noch die Verwendung öffentlicher Mittel zur Erhaltung der "kranken oder stark gefährdeten Erbmasse" verantworten könne. Diese ökonomisch gefärbte Argumentation sollte beim "Euthanasie"-Programm im NS-Staat eine maßgebliche Rolle spielen.

Die neuen Machthaber griffen mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 auf einen preußischen Gesetzesentwurf aus der Weimarer Zeit zurück. Der Zwangscharakter des Gesetzes und die Radikalität seiner Umsetzung machten zugleich die rassenpolitische Dimension deutlich. Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, erblichen Formen von Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Mißbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden mehr als 360.000 Menschen sterilisiert, wobei über 6.000 zu Tode kamen.

Seit 1939 plante das Hauptamt II der "Kanzlei des Führers" die euphemistisch "Euthanasie" genannte Mordaktion an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten. Ärztlicher "Euthanasie-Beauftragter" wurde Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt. Der Würzburger Psychiater und Neurologe Prof. Werner Heyde übernahm die medizinische Leitung des Tötungsprogramms; zu seinem Stellvertreter wurde Prof. Hermann Paul Nitsche, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, ernannt. "Legalisiert" wurde der Mord durch ein Ermächtigungsschreiben Hitlers vom Oktober 1939, das auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatiert war.

Von der Berliner Zentraldienststelle aus, die seit April 1940 in einer Villa in der Tiergartenstraße 4 residierte, woher das erst nach 1945 für die dort organisierten Krankenmorde verwendete Kürzel "T4" rührt, wurden an sämtliche Anstalten Meldebogen versandt, die von den Psychiatern vor Ort ausgefüllt und schließlich von etwa 40 von der Zentrale bestimmten Ärzten begutachtet wurden. Sie entschieden über Leben und Tod, ohne die Kranken persönlich gesehen zu haben. Mit den "Grauen Bussen" wurden die zur Ermordung bestimmten mehr als 70.000 Patientinnen und Patienten aus den Heimen abgeholt und zwischen Januar 1940 und August 1941 nach einem kurzen Aufenthalt in "Zwischenanstalten" in den sechs Tötungszentren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hadamar durch Gas ermordet. Zudem wurden bis zu 10.000 physisch und psychisch kranke Kinder getötet.

Nach Protesten von Angehörigen und einzelnen Vertretern der katholischen Kirche wurde das "Euthanasie"-Programm im August 1941 beendet. Das Leiden und Sterben der Insassen setzte sich dennoch fort, da bis Kriegsende etwa 30.000 weitere Menschen verhungerten oder mit Medikamenten getötet wurden. Die Auswahl trafen nicht mehr die "T4-Gutachter", sondern Ärzte und Anstaltsleiter vor Ort. Insgesamt fielen der "Euthanasie"-Aktion 250.000 bis 300.000 Menschen zum Opfer. Das bei der Tötung in den "Euthanasieanstalten" eingesetzte Personal und die verantwortliche Abteilung der "Kanzlei des Führers" setzten in den Konzentrationslagern ihr Todeswerk fort. Mehr als hundert der in der "Euthanasie" ausgebildeten Akteure stellten das Fachpersonal für die Durchführung der "Endlösungs"-Maßnahmen.

Von Beginn an hatten sich Psychiater bereitwillig in den Dienst der NS-Politik gestellt. Der Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie Ernst Rüdin war Mitverfasser des Kommentars zum "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" im Juli 1933. Ärzte zeigten die "Erbkranken" bei den Behörden zur Sterilisation an. Prof. Werner Heyde leitete die "Aktion T4". Psychiater füllten die Meldebogen aus, um nur einige Beispiele zu nennen. Ohne die Initiative und Unterstützung von Psychiatern und anderen Ärzten hätte das nationalsozialistische "Euthanasie"-Programm nicht in die Tat umgesetzt werden können. [1]

Inschriften: 'Den gewaltsam Getöteten 1938-1945', 'Der nach Blutschuld fragt, gedenkt der Elenden und vergisst nicht ihr Schreien' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gedenkstein zur Erinnerung an die Euthanasieopfer in den damaligen Alsterdorfer Anstalten.
Foto: © 2014 by Schattenblick

Rechtsprechung im Dienst der neuen Machtverhältnisse

Im Nürnberger Ärzteprozeß vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947, dem ersten der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, mußten sich Karl Brandt, Hitlers ärztlicher "Euthanasie"-Beauftragter, und Viktor Brack, Organisator in der "Kanzlei des Führers", für ihre Verbrechen verantworten. Beide wurden zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg am Lech gehängt. In den frühen Nachkriegsprozessen stellte man diejenigen, die "Euthanasie-Morde" befohlen oder veranlaßt hatten, strafrechtlich den unmittelbaren Tätern gleich. Der Verteidigungsstrategie, man habe die Rechtswidrigkeit seinerzeit nicht erkannt, hielt das Gericht entgegen, daß die Tötung offenkundig naturrechtswidrig sei. Man wertete die Taten als Mord und verhängte harte Strafen bis hin zu Todesurteilen.

Ab 1948/49 wird in Urteilen jedoch eine geänderte Rechtsauffassung deutlich. Tätern wurde nun ein "möglicherweise unvermeidbarer Verbotsirrtum" zugebilligt. Als "Gehilfen ohne eigenen Willensentschluß" erhielten Angeklagte mildere Strafen. So endeten "Euthanasie-Prozesse" der 1950er Jahre häufig mit geringen Strafen oder Freisprüchen. 1965 leitete Fritz Bauer ein Ermittlungsverfahren gegen sechzehn hochrangige Juristen ein, die am 23./24. April 1941 an einer Besprechung in Berlin teilgenommen hatten. Dort hatten sie offiziell von der Tötung Geisteskranker erfahren und danach widerspruchslos die Anordnung befolgt, Strafanzeigen unbearbeitet ans Reichsjustizministerium abzugeben. Die Voruntersuchungen Bauers wurden 1970 eingestellt.

Viele Prozesse folgten erst spät in den 1970er/1980er Jahren. Etliche wurden wegen Verhandlungsunfähigkeit wieder eingestellt oder die Täter erhielten nur geringe Haftstrafen, wurden freigesprochen oder sind nach kurzer Haft begnadigt worden. Einige wenige entzogen sich durch Suizid einer Strafverfolgung. Von 438 "Euthanasie"-Strafverfahren, die bis 1999 eingeleitet wurden, endeten nur 6,8 Prozent mit rechtskräftigen Urteilen, darunter zahlreichen Freisprüchen.

Wie diese Entwicklung dokumentiert, wich der Impetus einer strengen Siegerjustiz bereits wenige Jahre nach Kriegsende einer ideologischen Neuausrichtung. Die Bundesrepublik, zum antikommunistischen Bollwerk auserkoren und dafür alimentiert, bedurfte einer ungebrochenen Kontinuität der maßgeblichen Berufsstände und Institutionen zum Aufbau der Ökonomie und zur Etablierung innovativer Herrschaftssicherung. Dazu gehörten auch Psychiater und andere Ärzte, politisch Verantwortliche, Juristen und Verwaltungsfachleute sowie zahlreiche weitere Handlanger, die wissentlich an der Tötung von Psychiatrie- und Heiminsassen beteiligt waren. Wenngleich man mit Fug und Recht sagen kann, daß das finsterste Kapitel der deutschen Psychiatrie in die Zeit des Nationalsozialismus fällt, sollte man sich der Frage nicht verschließen, ob sich der NS-Staat nicht in der ihm eigenen Brachialgewalt eines von Grund auf repressiven Charakters und Instrumentariums bedienen konnte, die der institutionalisierten Psychiatrie immanent sind und auch heute noch fortwirken.

Stehend beim Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. Michael Wunder vom Beratungszentrum der Evangelischen Stiftung Alsterdorf führt in den Workshop ein
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im NS-Staat

Am 7./8. Februar 2014 fand in Hamburg der Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" statt [2]. Veranstalter war die KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Kooperation mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Die Tagung bildete den Abschluß einer Ausstellung zu den "Euthanasie"-Verbrechen in der Hansestadt, die vom 18. Januar bis zum 7. Februar 2014 im Hamburger Rathaus zu sehen war. Bei dem zweitägigen Workshop in Alsterdorf und Neuengamme wurden aktuelle Forschungen zu diesem Thema, Fragen des Umgangs mit diesen Verbrechen in der deutschen Gesellschaft nach 1945 und Aspekte der gegenwärtigen Erinnerungskultur mit regionalgeschichtlichen Bezügen zu Norddeutschland referiert und diskutiert.

Das erste Panel stellte neuere Forschungsergebnisse zum Ablauf der "Euthanasie"-Verbrechen sowie den an ihr beteiligten Akteuren vor. Auch die Zusammenarbeit staatlicher und militärischer Stellen mit den Krankenhäusern und Wohlfahrtsanstalten sowie die Beteiligung von niedergelassenen Ärzten an den Melde- und Gutachterverfahren wurde behandelt. Des weiteren kamen die Möglichkeiten von Familien, ihre Angehörigen in den Anstalten zu schützen und die Verbrechen zu verhindern, zur Sprache.

Im zweiten Panel richtete sich der Blick stärker auf bisher vernachlässigte Gruppen von Betroffenen: die Situation von zwangseingewiesenen Sicherungsverwahrten und "Asozialen" in den Anstalten und ihre Überstellungen in die Konzentrationslager sowie die Psychiatrisierung von Menschen, die im Nationalsozialismus als nicht angepaßt, als "Querulanten" oder "Sonderlinge" galten und ebenfalls in Anstalten eingewiesen wurden, wie auch die "Euthanasie" in den deutsch besetzten Gebieten.

Im dritten Panel wurden Kontinuitäten und Brüche nach Kriegsende in der BRD und der DDR sowie Aspekte der Erinnerungskultur am Beispiel der in den letzten Jahren realisierten oder geplanten Gedenkorte und Gedenkformen thematisiert.

Ein öffentliches Podiumsgespräch zum Abschluß des ersten Konferenztages ergänzte den Workshop. Darin wurde thematisiert, auf welche Weise die Erinnerung an die nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen aktuelle medizin-ethische Diskussionen beispielsweise in der Präimplantationsdiagnostik oder Sterbehilfe beeinflußt.

Projektion des Eröffnungsbildes zum Vortrag von Claudia Schaaf - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Psychiatrisierung sogenannter Querulanten - Der Fall "Ernst P."

Claudia Schaaf ist wissenschaftliche Volontärin an der Gedenkstätte Hadamar. In ihrem Vortrag zum Thema der Psychiatrisierung von sogenannten Querulanten stellte sie das Fallbeispiel "Ernst P." vor. Um die abstrakte Zahl von 15.000 Getöteten allein in Hadamar wirklich verstehen zu können, sei es wichtig, Einzelschicksale zu beleuchten und den Opfern dadurch ein Gesicht zu geben, sie aus der Anonymität zu holen und so dem Verdrängen und Vergessen entgegenzuwirken. Wie zutreffend diese Einschätzung ist, belegte der eindrückliche Vortrag, in dessen Verlauf Ernst P. zunehmend an Kontur gewann und nahezu Gestalt annahm. Die Rekonstruktion seines Schicksals wurde dadurch begünstigt, daß die von ihm gezeichneten Karikaturen und seine von der Anstaltsleitung zurückgehaltenen Briefe in der Krankenakte das Kriegsende überdauerten. Die Referentin dokumentierte ihren Vortrag mit zahlreichen Bild- und Textbeispielen, die Ernst P. als einen Menschen charakterisieren, der mit scharfer Kritik an dem herrschenden Regime nicht hinter dem Berg hielt und sich seiner verhängnisvollen Situation bewußt war.

Ernst P. kam ursprünglich wegen seines chronischem Rheumatismus in die Anstalt und stand nach dem ersten Aufenthalt in der Psychiatrie sechs Jahre unter Beobachtung des Gesundheitsgerichts. Er war in den Augen der Nationalsozialisten nicht nur arbeitsunfähig, sondern auch ein Querulant, so daß diese doppelte Bezichtigung wiederum zu seiner Festnahme und Überstellung in eine psychiatrische Anstalt führte. Es sind Briefe überliefert, in denen Ernst P. von einer Abmachung mit der Gestapo schreibt, er würde in Zukunft seinen Mund halten und dürfe die Anstalt bald verlassen. Er sieht sich dennoch in seinen Briefen als Todeskandidat mit geringer Aussicht auf Rettung. Auch diese Briefe wurden nie abgeschickt.

Projektion einer Postkarte mit Propagandaaufdruck - Foto: 2014 by Schattenblick

Ein Lebenszeichen, das seine Adressatin nie erreichte
Foto: 2014 by Schattenblick

Als die Landesheilanstalt Neumünster, in der er sich befand, wegen der Einrichtung eines SS-Lazaretts geräumt wurde, verlegte man ihn am 29. September 1944 nach Hadamar. Seine Mutter erhielt zunächst keine Besuchserlaubnis, die dann aber am 8. Januar 1945 plötzlich doch erteilt wurde, da ihr Sohn Ernst an einer Lungenentzündung mit hohem Fieber schwer erkrankt und angesichts seiner Herzschwäche Lebensgefahr nicht ausgeschlossen sei. Dieser Brief wurde zur Täuschung der Mutter abgeschickt, denn der Tod ihres Sohnes war bereits beschlossen worden. Einen Tag später verstarb er angeblich an Lungenentzündung.

Auch in der Nachkriegszeit existierten von Ernst P. noch Dokumente in der Krankenakte. Die Mutter, Maria P., erbat von der Anstalt Hadamar eine Sterbeurkunde, um Rentenansprüche geltend machen zu können. Im Jahr 1948 erkundigte sich ein Mitarbeiter bei der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar und fragte ganz direkt, ob die Einlieferung des Ernst. P. aus politischen Motiven geschah, von wem sie angeordnet wurde und woran er verstarb. Ende Oktober 1948 traf eine ausführliche Antwort ein, in der es hieß, daß aufgrund der Krankenakte kein Zweifel daran bestehe, daß Ernst P. wegen einer Geisteskrankheit in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. Er habe an Paranoia gelitten und sei bereits 1935 anstaltsbedürftig gewesen.

Unerwähnt blieben der chronische Rheumatismus als ursprünglicher Grund der Einweisung wie auch die darauf folgende Beobachtung durch das Gesundheitsgericht. Mit keinem Wort erwähnte der damalige stellvertretende Direktor Dr. Köster, daß sich in der Akte neben politischen Karikaturen auch etliche Briefe mit regimekritischen Aussagen befanden, die nicht abgeschickt worden waren. Er schrieb in seinem Bericht lediglich, Ernst P. sei an Lungenentzündung gestorben. Dabei ist hervorzuheben, daß Dr. Köster nur aus der Patientenakte zitierte und verschwieg, daß Ernst P. Opfer des Krankenmords geworden war.

Mit diesem Bericht wurde Ernst P. ein zweites Mal diffamiert, und sein politischer Ungehorsam gegenüber dem NS-Regime blieb ungewürdigt. Daß in der Nachkriegszeit am Ort der Tötungsanstalt Hadamar die dort verübten Verbrechen verschwiegen und die früheren Täuschungsmanöver fortgesetzt wurden, unterstreicht zum einen, wie wichtig es im Sinne der Aufklärung ist, noch auffindbare Patientenakten aufzuarbeiten. Vor allem aber dokumentiert dieser Vorgang die nahezu ungebrochene Kontinuität der beteiligten Berufsstände und Institutionen auch über das Ende Hitlerdeutschlands hinaus.

In der dem Vortrag folgenden Diskussion wurde insbesondere die Nichtoffenlegung des vollen Namens kritisiert, da es sich dabei doch um eine erneute Anonymisierung handle, die den Opfern die Identität nehme. Claudia Schaaf stimmte diesem Einwand voll und ganz zu, doch verwies sie auf die ihr abverlangte Abkürzung des Familiennamens. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen, für den sie arbeitet, erlege ihr auf, Opfernamen nicht publik zu machen. Sie lehne dies entschieden ab und rege an, sich mit einer Beschwerde an diesen Landeswohlfahrtsverband zu wenden.

Daraufhin kam zur Sprache, daß Nichtoffenlegung nicht nur gängige Praxis des Landeswohlfahrtsverbands Hessen ist. Auch das Bundesarchiv verbiete die Nennung der vollen Opfernamen und mache der deutschen Psychiatervereinigung zur Vorgabe, die Genehmigung der Angehörigen einzuholen. Diese lehnten jedoch in der Regel eine Veröffentlichung des vollen Namens ab. Bislang sind lediglich in der ehemaligen Tötungsanstalt Sonnenstein die vollen Namen der Opfer an einer großen Wand aufgelistet, was nur unter Rückgriff auf die dort vorhandenen eigenen Archive möglich war.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Claudia Schaaf
Foto: © 2014 by Schattenblick

Täterschutz damals wie heute?

Wie diese aufschlußreiche Diskussion zeigt, legt man dem Bestreben, die Opfer der NS-Euthanasie in ihrem Schmerz und Tod zu würdigen, auch heute noch Steine in den Weg. Verschweigt man ihre Identität schon im rudimentärsten Ansatz, macht man sie dauerhaft zu namen- und gesichtslosen Opfern, deren Schicksal auf eine bloße Zahl reduziert wird und niemanden berührt. Da von einem Schutz der Opfer und ihrer Persönlichkeit offensichtlich keine Rede sein kann, drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wer mit dieser Vorgehensweise tatsächlich geschützt werden soll. Soweit Persönlichkeitsrechte der Angehörigen vorgehalten werden, ist zwar nachvollziehbar, daß diese es möglicherweise vorziehen, einen Mantel des Schweigens über die tatsächlichen Todesumstände zu decken. Allerdings steht zu befürchten, daß auf diese Weise ein neuerlicher und endgültiger Akt der Distanzierung von den Opfern und gewissermaßen ihre nachträgliche Überantwortung an die Vernichtung vollzogen wird.

Insbesondere aber bleibt bedenkenswert, daß staatliche Institutionen und andere Protagonisten einer Aufarbeitung der Vergangenheit bei opportun gelagerten Konstellationen nicht im geringsten zögern, Identitäten zu erschließen und preiszugeben, indem sie ein öffentliches Interesse an Aufklärung geltend machen, wo sie Staatsräson und ideologische Zurichtung meinen. So erweist sich Vergangenheitsbewältigung zumeist als Prozeß einer interessengeleiteten Interpretation der Geschichte zugunsten einer Rechtfertigung und Konsolidierung herrschender Verhältnisse der Gegenwart.

Es bleibt festzuhalten, daß sich die Geschichte der Psychiatrie durch finsterste Zwangsmaßnahmen auszeichnet. Auf die Vernichtung sogenannter Geisteskranker im NS-Staat folgte die nahezu ungebrochene Weiterführung psychiatrischer Anstalten mit demselben Personal in der Nachkriegszeit. Menschenunwürdige Bedingungen und folterähnliche Behandlungen waren an der Tagesordnung. Die wachsende Kritik an dieser Psychiatrie löste zwar in den 1970er Jahren eine Reformbewegung aus, doch blieb die mit der Psychiatrie-Enquete eingeleitete Verbesserung auf halbem Weg stecken. Auch die Reformmaßnahmen der 1980er Jahre verlieren zunehmend ihre Wirkung. Während 1996 rund 20.000 Menschen zwangsweise in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden, waren es 2008 bereits 110.000.

Auf dem Foucault-Tribunal, das 1998 die Lage in der Psychiatrie untersuchte, wurde die weithin vorherrschende Ausblendung dieser gravierenden Mißstände in der Gesellschaft festgestellt. Zwang sei in der Psychiatrie nach wie vor weit verbreitet, wobei vielfach die Zwangsmedikation an die Stelle der physischen Gewalt getreten ist. Was die aktuelle Entwicklung betrifft, muß man davon ausgehen, daß in Folge der beschlossenen Verordnung über die pauschalierten Entgelte in Psychiatrie und Psychosomatik der repressive Umgang mit den Insassen der Psychiatrie weiter zunehmen wird. Für die Opfer gilt damals wie heute: Die im Schatten sieht man nicht.

Gebäude mit Turm aus rotem Klinker - Foto: © 2014 by Schattenblick

Veranstaltungsort "Alte Küche" der ehemaligen Alsterdorfer Anstalten
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.dgppn.de/dgppn/geschichte/nationalsozialismus.html

[2] http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/?id=3335

30. März 2014