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BUNDESTAG/3135: Heute im Bundestag Nr. 140 - 19.03.2012


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 140
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Montag, 19. März 2012 Redaktionsschluss: 17:40 Uhr


1. Steuersenkung unter Sachverständigen stark umstritten
2. Experten: Internet hat nur eingeschränkte Wirkung auf politische Teilhabe
3. Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention diskutiert


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1. Steuersenkung unter Sachverständigen stark umstritten

Finanzausschuss (Anhörung)

Berlin: (hib/HLE) Die Finanzierbarkeit des von der Bundesregierung geplanten Abbaus der "Kalten Progression" bei der Einkommensteuer ist unter Sachverständigen völlig umstritten. Bei einer öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses am Montag zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz zum Abbau der Kalten Progression (17/8683) und zum Achten Existenzminimumbericht (17/5550) erklärte die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände (Deutscher Städtetag, Deutscher Landkreistag, Deutscher Städte- und Gemeindebund), "dass seitens der Kommunen angesichts der äußerst prekären Haushaltslage insbesondere der letzten Jahre und der hiermit verbundenen kommunalen Schuldenlast Steuererleichterungen nicht befürwortet werden können". Es gebe auch grundsätzlich keine Notwendigkeit zu weitergehenden, über die verfassungsrechtlich gebotene Erhöhung des Grundfreibetrags hinausgehenden Tarifänderungen. Auch die Deutsche Steuer-Gewerkschaft lehnte "die Hauptlinien des Gesetzentwurfs ab, denn mit diesen sind in den kommenden Jahren Steuerausfälle von jährlich rund sechs Milliarden Euro verbunden, die weder die Haushalte des Bundes, der Länder noch der Gemeinden mittelfristig verkraften können".

Ziel des Gesetzentwurfs ist der Abbau inflationsbedingter und "nicht gewollter Steuerbelastungen". Zur Begründung heißt es, im System des progressiv gestalteten Einkommensteuertarifs profitiere der Staat von systembedingten Steuereinnahmen, die über den Effekt der kalten Progression entstehen würden. Es solle jedoch verhindert werden, "dass Lohnerhöhungen, die lediglich die Inflation ausgleichen, zu einem höheren Durchschnittssteuersatz führen".

Daher ist eine stufenweise Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags in zwei Schritten zum 1. Januar 2013 auf 8.130 Euro und zum 1. Januar 2014 auf 8.354 Euro (insgesamt plus 350 Euro) vorgesehen. Die Anhebung orientiert sich an der voraussichtlichen Entwicklung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums. Auch der Tarifverlauf soll prozentual wie der Grundfreibetrag um 4,4 Prozent angepasst werden. Ohne Anpassung des Tarifverlaufs käme es durch die alleinige Anhebung des Grundfreibetrags bei konstantem Eingangssteuersatz zu einer nicht gewollten "Stauchung" des Tarifs innerhalb der ersten Progressionszone und damit zu einem Anstieg der Progression, wird erläutert.

Von anderen Sachverständigen wurden die geplanten Steuersenkungen positiv bewertet. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft begrüßten in einer gemeinsamen Stellungnahme das Vorhaben, erklärten aber auch: "Hierdurch werden die tatsächlichen Steuermehreinnahmen aus der kalten Progression bis 2014 jedoch nicht vollständig ausgeglichen. In puncto Rückgabe der Steuermehreinnahmen aus der kalten Progression an die Steuerbürger wird so allenfalls der erste Schritt umgesetzt." Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung wies darauf hin, dass das gesamte Steueraufkommen im Jahre 2014 um knapp 100 Milliarden Euro höher als 2010 ausfallen werde. Es zog die Schlussfolgerung: "Auf Einkommensteuereinnahmen, die allein aus der kalten Progression entstehen, sollte der Staat somit verzichten können."

Der Bund der Steuerzahler widersprach der von einigen Sachverständigen geäußerten Ansicht, es handele sich um Steuersenkungen. De facto handele es sich bei der kalten Progression um Steuererhöhungen, deren Abbau überfällig sei. Auch warnte die Organisation davor, nur den steuerlichen Grundfreibetrag zu erhöhen, weil das aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten sei. Es müsse auch zu einer Senkung des Steuertarifs kommen, weil sonst die Steuersätze gerade im Anfangsbereich extrem steil ansteigen würden. Zur Anhebung des Grundfreibetrages bereits im kommenden Jahr um 126 auf 8.130 Euro erklärte die Organisation, diese Erhöhung sei folgerichtig und zwangsläufig: "Die Höhe orientiert sich eher an der unteren Grenze dessen, was verfassungsrechtlich geboten ist".

Während das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung an die in den letzten Jahren deutlich zurückgegangene Steuerbelastung von Spitzenverdienern erinnerte, wies Professor Giacomo Corneo (Freie Universität Berlin) auf einen Effekt durch die seiner Ansicht nach unzureichende Anpassung des Spitzensteuersatzes hin. "Im Jahr 1958 musste man in der Bundesrepublik Deutschland etwa das 23-fache des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf verdienen, um dem Spitzensteuersatz zu unterliegen. 2005 reichte schon aus, gut das Doppelte des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zu verdienen. So mussten Mittelschichthaushalte 2005 den gleichen Grenzsteuersatz wie Bankiers und Industriemagnaten zahlen."


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2. Experten: Internet hat nur eingeschränkte Wirkung auf politische Teilhabe

Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" (Anhörung)

Berlin: (hib/HAU) Das Internet hat in Bezug auf die politische Partizipation bisher nur eingeschränkt seine Wirkung entwickelt. Diese Ansicht vertrat die Mehrheit der Sachverständigen bei der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" zum Thema "Strukturwandel der politischen Kommunikation und Partizipation" am Montagnachmittag. Nach wie vor machten knapp 50 Prozent der Deutschen "einen weiten Bogen um jegliche politische Kommunikation", sagte der Medienwissenschaftler Professor Gerhard Vowe von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zwar habe sich das Internet als Informationsmedium etabliert, doch werde es als Medium aktiver politischer Partizipation nur von einer kleinen Anzahl der Internetnutzer genutzt, urteilte der Politikwissenschaftler Markus Linden von der Universität Trier. Professor Christoph Neuberger von der Ludwig-Maximilians-Universität München machte auf eine mögliche digitale Spaltung aufmerksam. Es bestehe die Gefahr, dass "die üblichen Verdächtigen" sich das Medium zu Eigen machten, sagte er.

Der Kommunikationswissenschaftler Neuberger betonte zugleich die wichtige Vermittlerrolle des Journalismus beim Strukturwandel der politischen Kommunikation. Statt einer Konkurrenz, so Neuberger, gebe es eine Ergänzung zwischen Journalismus und "Social Media". "Journalisten werden nicht überflüssig", machte er deutlich. Die e-Partizipation kranke am gleichen Problem wie andere Reformversuche der Teilhabe, sagte Politikwissenschaftler Linden. "Je anspruchsvoller die politische Aktivität, desto größer ist die soziale Disparität der Beteiligten." Bildungsgrad und Einkommen seien neben dem Alter und dem Geschlecht starke Einflussgrößen für e-Partizipation. Linden warnte zudem davor, dass durch die Reform der Beteiligung der Einfluss der Parlamente gegenüber der Exekutive verloren geht. Die Treiber der Veränderung bei der politischen Kommunikation und Partizipation seien die "Digital Citizens", sagte Professor Gerhard Vowe. Diese Gruppe umfasse 16 Prozent der Bevölkerung und sei "wesentlich jünger und wesentlich gebildeter als der Durchschnitt".

Auf die Ergebnisse einer Nutzerbefragung der Adhocracy- Beteiligungsplattform der Internet-Enquete ging Daniel Reichert, Vorstandsvorsitzender des Vereins Liquid Democracy, der diese Plattform entwickelt hat, ein. Danach seien mehr als 70 Prozent der Ansicht, dass sie mit ihrer Beteiligung keinen Einfluss auf die Politik nehmen könnten. "Es muss besser dargestellt werden, dass dies nicht so ist", forderte Reichert. Ein weiterer Kritikpunkt der Nutzer sei die fehlende Rückmeldung der Kommissionsmitglieder bei der Diskussion auf der Beteiligungsplattform.

Die Stellung der Beauftragten für Informationsfreiheit müsse gestärkt werden, forderte Stefan Wehrmeyer - Software-Entwickler bei der Open Knowledge Foundation Deutschland und Leiter des Projektes: FragdenStaat.de. Er kritisierte zugleich die Eingrenzung des Auskunftsanspruchs auf Informationen der Verwaltung sowie die zahlreichen Ausnahmeregelungen in den gesetzlichen Regelungen zur Informationsfreiheit. Die Vertraulichkeit von Regierungs- und Parlamentsarbeit dürfe sich nicht bloß aus Tradition und Bequemlichkeit ergeben, sondern müsse vor dem Hintergrund des Informationsinteresses der Gesellschaft neu begründet und diskutiert werden, sagte Wehrmeyer.

Die Nutzung der neuen Kommunikationsmöglichkeiten müsse weiter erkundet werden, sagte Christoph Kappes, Geschäftsführer der Fructus GmbH. "Das kann noch dauern", betonte er. Was man heute vorfinde sei noch lange nicht der Endzustand der Technik. Vielmehr müsse mit einer Serie an Innovationen gerechnet werden, die den heutigen Zustand erheblich verändern würden. Politische Akteure, so Kappes, könnten sich zu einem Massenmedium entwickelt, weil sie direkt und unvermittelt mit dem Publikum kommunizieren könnten. "Das löst Fragen nach dem Rollenverständnis der politischen Akteure aus", sagte er.


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3. Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention diskutiert

Ausschuss für Arbeit und Soziales (Anhörung)

Berlin: (hib/TYH) Gut sieben Monate, nachdem das Kabinett den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (NAP) beschlossen hat, haben die Sachverständigen bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschuss für Arbeit und Soziales den Fortschritten ein gemischtes Zeugnis ausgestellt. Grundlage für die Veranstaltung am Montagnachmittag waren vier Oppositionsanträge (17/7942, 17/7872, 17/7889, 17/7951), die sich mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland beschäftigen.

Die NAP sei ein wichtiges Instrument, sagte Peter Bartmann von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Jedoch müssten die darin enthaltenen Maßnahmen verbindlich festgelegt werden und über das staatliche Engagement hinausgehen. Valentin Aichele vom Deutschen Institut für Menschenrechte kritisierte, dass das Problem bei der Umsetzung des NAP unter anderem darin liege, dass die verantwortlichen Stellen nicht hinreichend mit Personalmitteln ausgestattet seien. Ulrich Hellmann von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung bedauerte, dass "bei Weitem nicht alle Anregungen von Menschen mit Behinderung in den NAP Eingang gefunden haben". Er forderte eine Intensivierung der Diskussion darüber, wie der NAP verbessert werden könne.

Kritik an einzelnen Aspekten äußerte Ingo Nürnberger vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Er sah unter anderem Handlungsbedarf beim Persönlichen Budget, das 2001 eingeführt wurde und Leistungsempfängern die Möglichkeit gibt, anstelle von Dienst- oder Sachleistungen zur Teilhabe ein Budget zu wählen. Der Einzelsachverständige Detlef Eckert forderte eine Neufassung des Behinderungsbegriffs. In Deutschland werde Behinderung meist als Defizit gesehen, kritisierte er. Michael Conty, ebenfalls Einzelsachverständiger, bemängelte, dass das Sozialgesetzbuch (SGB) IX, wo das Leistungsrecht von Menschen mit Behinderung geregelt wird, nur für Leistungen zur Teilhabe gelte, sofern sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergebe. Dies seien faktisch Schlupflöcher für Leistungsträger. Die Einzelsachverständige Verena Göppert bedauerte, dass Länder von kommunaler Seite eine eigenfinanzierte Umsetzung der Inklusion an Schulen verlangten.

Positiv äußerte sich dagegen Raimund Becker von der Bundesagentur für Arbeit. Die Situation von Menschen mit Behinderung habe sich auf dem Arbeitsmarkt verbessert, sagte er. Anna Robra von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände wies darauf hin, dass viele Behinderte über gute Qualifikationen verfügten. Diese zu nutzen sei vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels eine zentrale Aufgabe. Ebenfalls positiv äußerte sich Marion Götz vom Deutsche Rentenversicherung Bund. Bei den Leistungen zur Teilhabe würde auf die individuellen Wünsche der Betroffenen eingegangen. Das umfasse unter anderem Alter, Geschlecht oder Familie.

Der Vorschlag der SPD-Fraktion, zu prüfen, wie Leistungen zur sozialen Teilhabe einkommens- und vermögensunabhängig gezahlt werden könnten, stieß ebenfalls auf Kritik. Dies könne Kosten in Höhe von 300 Millionen bis eine Milliarde Euro bedeuten, sagte Matthias Münning von der Bundesgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Er schlug daher die Realisierung des Bundesteilhabegeldes als "realisierbaren und schnelleren Schritt" vor. Kritik an den Oppositionsanträgen kam auch von der Sozialrechtlerin Minou Banafsche. Viele Fragen blieben offen, vor allem die sozialrechtliche Schnittstelle sei problematisch, sagte sie.


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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 140 - 19. März 2012 - 17:40 Uhr
Herausgeber: Deutscher Bundestag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2012