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PRESSEKONFERENZ/1056: Flüchtlinge - Statements von Merkel und Gabriel, 07.09.2015 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Berlin - Montag, 7. September 2015
Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und Bundeswirtschaftsminister Gabriel am 7. September 2015


BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, guten Morgen!
Wir möchten Sie heute unterrichten über die Ergebnisse des gestrigen Koalitionsausschusses, und tun dies ausdrücklich auch im Namen von Horst Seehofer, der heute aus Gründen einer Veranstaltung oder besser gesagt einer Beerdigung, hier verhindert ist.

Wir haben gestern eine sehr konstruktive und, wie ich finde, auch sehr erfolgreiche Koalitionsausschusssitzung gehabt.

Wir legen zum ersten Mal ein Gesamtkonzept vor für die Herausforderungen, die vor uns stehen im Zusammenhang mit den Ereignissen der Flüchtlinge und der Flucht von Menschen vor Not und Verfolgung. Und dies ist unsere Antwort - ich sage jetzt einmal, der Bundesebene - auf die gemeinsame nationale Herausforderung.

Ich will aber vorweg sagen, dass wir ein bewegendes, ja zum Teil atemberaubendes Wochenende hinter uns haben. Und ich möchte mich bei allen bedanken, die in dieser außergewöhnlichen Situation angepackt haben, bei den Bundesbehörden, bei den Landesbehörden, bei den vielen Ehrenamtlichen, bei den Kommunen, bei der Bahn, bei der Bundeswehr und bei den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die durch ihre Begrüßung der Flüchtlinge auch ein Bild von Deutschland gezeichnet haben, das uns ein Stück weit auch stolz machen kann auf unser Land.

Jetzt müssen wir allerdings eine Vielzahl von Maßnahmen auch ergreifen, damit wir diese Herausforderung bewältigen können. Und ich will vorweg sagen, das war unsere gemeinsame Meinung: Wir brauchen hier auch eine Kraftanstrengung der Europäischen Union.

Nur mit gemeinsamer europäischer Solidarität werden wir diesen Kraftakt meistern. Und wir sind ein Europa der Werte. Wir sind ein Europa, das hier auch sein Gesicht in vernünftiger Weise zeigen muss. Und wir müssen natürlich in der internationalen Staatengemeinschaft auch an der Bekämpfung der Fluchtursachen, an der Überwindung von Bürgerkriegen, an der Überwindung der terroristischen Gefahren gemeinsam arbeiten.

Deshalb ist dies auch unser erster großer Punkt; und die Bundesregierung wird ihr Engagement für die Krisenbewältigung und -prävention ausbauen. Das betrifft das Auswärtige Amt, das betrifft Schwerpunktsetzung auch innerhalb des Entwicklungsministeriums.

Der zweite Punkt ist folgerichtig dann auch die europäische Herausforderung. Die Werte- und Rechtsordnung Europas muss uns Maßstab sein. Ich will hier noch einmal betonen, dass trotz der Entscheidungen am Wochenende Dublin III gilt. Ich habe darüber auch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten gesprochen. Und Dublin III gilt für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Wir werden auf dem bevorstehenden Treffen der Justiz- und Innenminister hoffentlich weitere Entscheidungen bekommen. Vorher wird auch der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch in seiner Rede an die Europäische Union die Vorschläge der Kommission vortragen, die, soweit wir das kennen, sehr eng auch übereinstimmen mit dem, was François Hollande und ich dem Kommissionspräsidenten mitgeteilt haben, d.h. hier gibt es ein großes Maß an Gemeinsamkeit, das mich ermutigt, dass wir vielleicht auch bei den noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten ein Stück weit vorankommen.

Wir werden auch in einer Task Force unter Luxemburgischer Präsidentschaft bis zum Justiz- und Innenministerrat bereits mit den betroffenen Ländern über den Bau von Hotspots sprechen. Das eilt. Das drängt.

Denn eins will ich auch sagen: Deutschland ist ein aufnahmebereites Land. Aber Flüchtlinge können in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union so aufgenommen werden, dass sie Schutz vor Verfolgung und Schutz vor Bürgerkrieg finden können.
Deshalb ist eben eine solidarische, faire Verteilung wichtig. Und alle Länder in der Europäischen Union müssen die Standards für humanitäre Bedingungen auch wirklich erfüllen.

Jetzt kommt es dann natürlich auf die nationale Kraftanstrengung auch an. Bund, Länder und Kommunen - das haben wir bereits im Juni gesagt - stehen hier in einer Verantwortungsgemeinschaft. Deshalb haben wir uns auch finanziell verpflichtet, dass sowohl der Bund seine Ausgaben um drei Milliarden erhöhen wird und Ländern und Kommunen weitere drei Milliarden zur Verfügung stellen wird. Wie und an welchen Stellen die ausgegeben werden, werden wir noch im Einzelnen bis zum 24. September besprechen.

Wir werden dann einen sehr anspruchsvollen Zeitplan haben. So jedenfalls die Vorstellung des Bundes. Wir wollen noch im Oktober alle notwendigen gesetzlichen Maßnahmen beschließen.

Wir wissen, dass wir schnell waren, als es darum ging, Banken zu retten. Und ich finde, wir müssen jetzt genauso schnell sein, wenn es darum geht, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit Kommunen und Länder entlastet werden und die richtigen Rahmenbedingungen bekommen, um diese Herausforderung zu bewältigen.
Worum geht es? Wir werden vonseiten des Bundes noch einmal in einer Task Force zusammen mit den Ländern alles tun, um beim BAMF die Verfahren zu beschleunigen. Wir werden 3.000 zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei einrichten in den nächsten drei Jahren. Und wir werden die Bedingungen für die Asylverfahren so gestalten, dass sie auch beschleunigt ablaufen können.

Es geht im Kern neben der Arbeitsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge auch um menschenwürdige Erstaufnahmeeinrichtungen. Hier wird sich der Bund beteiligen an der Schaffung solcher Erstaufnahmeeinrichtungen, einerseits durch Bundesliegenschaften, aber auch durch finanzielle Zuschüsse für solche Erstaufnahmeeinrichtungen. Wir brauchen 150.000 nach unseren Berechnungen. Die haben wir noch nicht. Und da wird der Bund unterstützen.

Ein wichtiger Punkt war gestern, noch einmal klarzumachen: Schutzbedürftige sollen Schutz bekommen. Diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, müssen unser Land auch wieder verlassen. Und deshalb haben wir darüber gesprochen, Fehlanreize zu beseitigen. Das heißt, Bargeldbedarf in Erstaufnahmeeinrichtungen soll soweit wie möglich durch Sachleistungen ersetzt werden.

Sichere Herkunftsstaaten ist eines der Stichworte. Die Geldleistungen sollen maximal einen Monat im Voraus ausgezahlt werden, und Sozialleistungen für vollziehbar Ausreisepflichtige werden reduziert. Wer vollziehbar ausreisepflichtig ist, muss unser Land auch verlassen.

Die Integration muss verbessert werden. Hier haben wir die ersten Aspekte bestimmt. Ich glaube, hier werden wir in den nächsten Monaten noch viele weitere Diskussionen haben.

Wir haben uns auch dafür ausgesprochen, bei den sicheren Herkunftsstaaten des westlichen Balkan, dass wir auch Alternativen zum Asylweg schaffen. Wer einen Arbeitsplatz oder Ausbildungsvertrag nachweisen kann, soll auch aus diesen Staaten bei uns arbeiten können.

Der soziale Wohnungsbau wird eine große Rolle spielen. Auch hier müssen wir noch die Einzelheiten ausarbeiten. Und wir werden das freiwillige Engagement unterstützen. Wir haben jetzt so viele Freiwillige. Aber wir werden lange Zeit Engagement brauchen. Und deshalb wollen wir bis zu 10.000 neue Stellen beim Bundesfreiwilligendienst schaffen. Ich bin ganz sicher, dass ganz viele in jedem Alter, junge, aber auch ältere Menschen, bereit sein werden, hier sich auch langfristig oder mittelfristig zu engagieren.

Denn was wir jetzt erleben, das ist etwas, was unser Land schon in den nächsten Jahren auch weiter beschäftigen wird, verändern wird. Und wir wollen, dass es sich zum Positiven verändert. Und wir glauben, das können wir schaffen.

BM Gabriel: Ja, meine Damen und Herren, ich glaube auch, dass das gestern in der Tat vielleicht eines der wichtigsten Treffen im Koalitionsausschuss gewesen ist. Wir haben vorhin noch mal darüber geredet, dass wir bei der Verabschiedung des Koalitionsausschusses über vieles geredet haben, aber in der Zwischenzeit Entwicklungen eingetreten sind, die niemand vorher ahnen konnte. Das begann mit der Ukraine-Krise, ISIS, die Frage der Entwicklung in Griechenland, aber jetzt eben eine der größten Herausforderungen, vor dem unser Land, aber, glaube ich, auch ganz Europa steht.

Und ich finde, es zeigt sich, dass wir miteinander sehr schnell und, glaube ich, auch sehr tragfähige Lösungen erarbeitet haben. Ich würde das, was wir verabschiedet haben oder überhaupt die Art, wie wir an diese große Herausforderung - sicher die größte seit der Wiedervereinigung -, wie wir dort herangehen, meine Überschrift wäre: mit Zuversicht und Realismus.

Zuversicht, weil uns die Menschen unseres Landes derzeit jeden Tag zeigen, wie großartig und wie solidarisch sie versuchen, Menschen in Not zu helfen. Und wie sehr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - das will ich heute auch mal sagen - des öffentlichen Dienstes derzeit jeden Tag jedes Vorurteil über den öffentlichen Dienst widerlegen, mit Arbeits- und Einsatzbereitschaft dort gearbeitet wird, dass Pensionäre zurückkommen - und ich stimme zu: Deutschland zeigt wirklich ein Bild, auf das es stolz sein kann.

Und dafür sind wir dankbar. Und das macht uns zuversichtlich, übrigens auch, dass wir natürlich ein Land sind, das wirtschaftlich stark ist. Es ist ja manchmal in den letzten Monaten öffentlich die Debatte darüber geführt worden, ob wir denn hätten nicht ein bisschen warten können mit der Haushaltskonsolidierung oder langsamer auf die schwarze Null zusteuern. Eine der Gründe, warum wir zuversichtlich sind, dass wir diese Aufgabe jetzt stemmen können, ist die wirtschaftliche Stärke unseres Landes und übrigens auch die soliden Finanzen dieses Landes.

Die beiden Dinge darf man ruhig mal erwähnen, wenn es jetzt darum geht, doch relativ umfangreiche Milliardenbeträge zu stemmen. Denn zu den Mitteln, die die Bundeskanzlerin gerade erwähnt hat, kommen ja die Eigenmittel, die Länder zum Beispiel einsetzen müssen für Schulen, für Lehrerausbildung, für vieles andere mehr. Realistisch, weil ich glaube, dass wir von Anfang an nicht so tun sollen, als sei das eine kleine Aufgabe.

Realistisch, weil wir schon auch sagen müssen: Na klar, schaffen wir, in diesem Jahr 800.000 Flüchtlinge aufzunehmen, unterzubringen, auch zu integrieren. Aber genauso klar ist, glaube ich, jedem, dass das nicht auf Dauer sich jedes Jahr wiederholen kann. Wir brauchen eine andere europäische Flüchtlingspolitik. Deutschland, Österreich und Schweden können nicht die einzigen Länder sein, die sich namhaft an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen.

Aber wir müssen auch etwas dafür tun, dass sozusagen der Zustrom aus den Krisengebieten nicht so dramatisch anwächst, wie es in den letzten Wochen und Tagen der Fall gewesen ist. Und realistisch auch, weil es uns auch in unserem Land herausfordern wird, herausfordern durch die schiere Zahl, durch eine Vielzahl von Aufgaben, aber natürlich auch - das sage ich ganz offen -, weil es auch Konflikte geben wird.

Ich finde, je offener man auch darüber spricht, dass es auch Sorgen von Menschen gibt, dass es Ängste gibt im Land, dass wir auch Konflikte haben können, das, glaube ich, wird uns helfen, von Anfang an realistisch damit umzugehen und auch Enttäuschungen zu vermeiden und sich auch der Realität zu stellen. Ich glaube, dass Zuversicht und Realismus die beiden sozusagen Pole sind oder Leitplanken sind, mit denen wir uns hier bewegen sollen.

Ich bin sehr dankbar, dass wir bei der Frage, wie gehen wir mit Europa um, was wollen wir dort tun von Hot Spots bis gemeinsamer Finanzierung der Länder oder Finanzierungshilfen der Länder, die besonders betroffen sind, bis hin zu der Frage, was tun wir in den Herkunftsländern und vor allen Dingen in den Nachbarländern, sehr schnell einig gewesen sind.

Wir haben in Deutschland eine große Zahl an Flüchtlingen. Aber viel, viel mehr Menschen sitzen in Flüchtlingslagern mit schrecklichen Bedingungen in den Nachbarländern der unmittelbaren Krisenstaaten: im Libanon von fünf Millionen Einwohnern 1,2 Millionen Flüchtlinge, in Jordanien. Und es ist - darüber haben wir gestern Abend auch gesprochen - eine große Schande, dass die Welternährungsorganisation die Mittel kürzen muss und dass der Hohe Flüchtlingskommissar nicht genug Geld hat zur Unterstützung.

Deutschland will mit einem eigenen Beitrag - wir haben gestern darüber gesprochen - dort nochmals in den Nachbarländern der Krisenstaaten helfen. Aber das müssen auch andere tun. Das muss die Weltgemeinschaft tun. Das muss Europa tun. Aber wir wollen vor allen Dingen in den Nachbarländern der Krisenregionen, dort, wo die großen Flüchtlingscamps sind, wo Menschen in Armut und Elend leben, dazu beitragen, dass die nicht auch noch so hoffnungslos werden, dass sie sich auch in Bewegung setzen.

Der zweite große Block ist die Frage des Aufbaus einer nachhaltigen Infrastruktur für Flüchtlinge in Deutschland. Natürlich haben wir das nicht, weil niemand erwarten konnte, dass wir in kurzer Zeit auf diese Größenordnungen steigen. Aber wir haben hier die wesentlichen Voraussetzungen dafür gelegt - die Bundeskanzlerin hat es eben geschildert - , 150.000 zusätzliche Erstaufnahmeplätze.

Übrigens, der Bund wird selbst seine Liegenschaften zur Verfügung stellen, mietfrei, wird sie auch selber herstellen und herrichten, sodass man da wohnen kann. Und dort, wo das nicht geht, wollen wir den Ländern angemessene Finanzierungshilfen dafür geben. Das kommt auf die drei Milliarden Entlastung für Länder und Gemeinden noch obendrauf. Das ist Aufbau einer nachhaltigen Flüchtlingsinfrastruktur.

Das ist einmal baulich gemeint und einmal vom Verfahren, dass wir schneller in den Verfahren werden, dass wir die Menschen nach Möglichkeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen halten, bis die Entscheidung über ihren Asylantrag gelaufen ist, und dann erst diejenigen, die Asyl bekommen oder geduldet werden, auf die Kommunen verteilen und die anderen aus der Erstaufnahme bitten, unser Land wieder zu verlassen - also, nachhaltige Flüchtlingsinfrastruktur.

Und dazu zählt natürlich die Entlastung. Das Volumen von drei Milliarden ist dreimal so hoch wie das, was wir bisher verabredet haben. Dazu zählen 3.000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte des Bundes, die wir auch brauchen, übrigens auch, um die Alltagskriminalität zum Beispiel an Bahnhöfen weiter bekämpfen zu müssen und nicht das gesamte Personal an anderer Stelle einzusetzen.

Und ich glaube, dass wir da gestern wirklich ein gutes Paket geschnürt haben. Und wir werden darüber hinaus uns natürlich darum kümmern müssen, dass die Integrationsaufgaben in unserem Land geleistet werden, Integration übrigens in doppelter Hinsicht: Integration der Flüchtlinge natürlich, Sprachausbildung, Qualifizierung, Berufsausbildung, Arbeit. Die beste Integration ist Arbeit.

Und die Integration unseres eigenen Landes. Wir müssen das Land auch zusammenhalten. Und dazu gehört, dass wir den Menschen, die Sorgen und Ängste haben, diese Sorgen und Ängste nehmen, dass wir klarmachen, dass wir hier nicht Konkurrenzen schaffen, dass wir uns genauso engagiert wie bisher auch um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres Landes kümmern, um die kulturelle, um die ökologische. Das, glaube ich, gehört auch dazu.

Über all das haben wir gestern geredet. Und ich finde, gute Entscheidungen getroffen sodass, glaube ich, auch bei uns Zuversicht und Realismus herrscht über das, was vor uns liegt.

Vielen Dank.

Frage: Die FAS hat gestern geschrieben, man gehe von ungefähr 10 Milliarden Gesamtkosten für Deutschland im nächsten Jahr für die Bewältigung der (Flüchtlings)krise aus. Sie stellen jetzt zweimal 3 Milliarden zur Verfügung, einmal im Bundeshaushalt, einmal für die Länder. Reicht das denn dann wirklich?

BK'in Merkel: Ich kann die Zahl, ehrlich gesagt, nicht bestätigen. Aber wenn Sie das mal, sagen wir mal, sich anschauen, Länder, Kommunen, dann, was der Bund tut für die Länder und Kommunen und was er selber hat, dann ist ja die Größenordnung irgendwo getroffen. Die Länder und die Kommunen haben ja auch eigene Anstrengungen, und zwar - da hat Herr Gabriel auch gerade drauf hingewiesen - eine Vielzahl von eigenen Anstrengungen.

Und insgesamt sind wir natürlich in einer sehr guten Lage, weil auch gerade die Steuereinnahmen sich in diesem Jahr recht positiv entwickelt haben. Und das gilt ja auch nicht nur für den Bund, sondern auch für die Länder und Kommunen. Also, von der Größenordnung her erscheint mir das nicht völlig unplausibel, aber die Zahl als solche kann ich nicht genau bestätigen.

BM Gabriel: Das ist so, wir übernehmen ja nicht sämtliche Kosten. Alleine die Lehrereinstellung, wo Länder gedacht haben, sie könnten Personal abbauen wegen des demographischen Wandels, und stattdessen jetzt - ich glaube, in Niedersachsen geht es um 30.000 Kinder und Jugendliche, die in kurzer Zeit dazukommen - das müssen Sie ja auf die 6 Milliarden Euro drauf rechnen.

Wir reden ja über eine gesamtstaatliche Aufgabe, das heißt Bund, Länder und Gemeinden leisten ihre Beiträge, und dann nähern sie sich mit Sicherheit solchen Größenordnungen.

Frage: Sie sind in den vergangenen Monaten oft kritisiert worden im Ausland für den Griechenland-Kurs. Da haben Sie gesagt, das müssen Politiker mal aushalten, das ficht Sie nicht an. Nun gibt es Transparente mit Ihrem Portrait - "Merkel please help me", "Mama Alemania", "Germany" -, was löst das in Ihnen aus?

BK'in Merkel: Ich habe ja letzte Woche schon gesagt, dass ich mich freue, dass Deutschland auch ein Land geworden ist, mit dem viele Menschen außerhalb Deutschlands Hoffnungen verbinden. Und das ist etwas sehr Wertvolles, wenn man einen Blick in unsere Geschichte wirft, und das drückt sich darin aus. Also, ich finde das schon durchaus bewegend.

(Zwischenfrage unverständlich) Das gilt ja dem ganzen Land, und das ist schön. (Weitere Zwischenfrage unverständlich) Unheimlich nicht, das muss seinen Ausdruck finden, aber ich bilde mir nicht ein, dass es nur um mich geht, sondern dass es um das Land geht, um die Menschen hier, um die vielen, die am Bahnhof stehen, um die vielen, die begrüßen. Und das ist es.

Frage: Sie sprachen beide davon, dass auch die anderen europäischen Länder ihrer Verantwortung nachkommen müssen. Wie wollen Sie die, die das nicht freiwillig tun, dazu anhalten, das zu tun? Ist daran gedacht, mal zu reden - öffentlich oder nichtöffentlich - über den Entzug von EU-Fördergeldern oder andere Argumente? Oder stützt sich das auf Hoffnung?

BM Gabriel: Keiner kann erwarten, dass Europa sich so weiterentwickelt wie bisher, wenn wir das hier nicht gemeinsam schultern.

Die Erfahrung in Europa ist allerdings, dass alles eher über Verhandlungen und Kompromisse geht und man relativ wenig Chancen hat, den Versuch zu unternehmen, europäische Mitgliedsstaaten zu etwas zu zwingen. Allerdings kann man auch Deutschland - und ich sag jetzt mal Österreich und Schweden - auch nicht dazu zwingen, sozusagen alles so weiterlaufen zu lassen und diese Riesenaufgabe alleine zu schultern.

Ich glaube, dass es zwei Bereiche gibt, wo es ein großes Interesse derjenigen geben muss, die jetzt zurückhaltend sind bei der Aufnahme von Flüchtlingen, ihre Haltung zu überdenken.

Erstens: Der große wirtschaftliche Vorteil, insbesondere auch der Osteuropäer, besteht in offenen Grenzen. Wir Deutschen haben ein großes Interesse daran, diese offenen Grenzen zu erhalten. Aber jeder muss wissen, dass auf Dauer - wenn es sich immer nur auf drei Länder konzentriert - die Debatte ganz schnell eine andere werden wird. Das wäre ein politischer, dramatischer Rückschlag für Europa, ich glaube übrigens auch ein mentaler. Aber es wäre auch ein ökonomisch schwerer Schlag gegen die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents, gerade der Staaten, die jetzt sagen: Wir machen nicht mit.

Das Zweite ist natürlich - das wissen Sie, da gibt es auch schon Debatten beispielsweise durch den österreichischen Bundeskanzler, der sagt: Wenn sich das nicht ändert, muss sich auch die Finanzplanung in Europa ändern. Es kann nicht sein, dass einige Länder das alles tragen und ansonsten Europa sein Geld weiter ausgibt wie bisher.

Alle diese Dinge werden sicher debattiert. Trotzdem lebt Europa am Ende davon, dass wir uns verständigen. Ich habe die Hoffnung, dass dies auch in anderen Mitgliedsstaaten doch deutlich die Haltung verändert, wenn sie sehen, welche Konsequenzen der europäischen Entwicklung am Ende drohen.

BK'in Merkel: Ich möchte auch von meiner Seite sagen, dass ich glaube, dass einfach auch die Dynamik des Geschehens nicht ohne Wirkung bleiben wird. Wir alle müssen uns gegenseitig unterstützen in bestimmten Situationen. Das weiß jedes Land in der Europäischen Union.

Und da, wo heute noch unterschiedliche Meinungen sind, muss man daran arbeiten, sie zusammenzuführen. Was aus meiner Sicht nicht geht, ist, dass manch einer sagt, er hat mit dieser Sache wenig zu tun. Das wird auf Dauer nicht tragen. Dann werden andere Gedanken überhand gewinnen. Das wollen wir nicht. Deshalb gehe ich davon aus, dass auch die Rede von Jean-Claude Juncker am Mittwoch eine gewisse Dynamik entfacht.

Das Wort der Kommission hat gerade auch bei den Mitgliedsstaaten, die noch nicht so lange Mitglieder der Europäischen Union sind, ein Gewicht. Und dann müssen wir Schritt für Schritt eine gemeinsame Verantwortung entwickeln. Keiner von uns in Deutschland kann sagen, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Deshalb können auch andere nicht einfach sagen, für sie steht jetzt schon fest, was sie tun und was sie nicht tun. Das muss weiter diskutiert werden. Ich werde das auch in Einzelgesprächen tun.

Wir sollten uns nicht gegenseitig an den Pranger stellen, aber die Zeit drängt, eine gemeinsame Lösung zu finden. Ich will in dem Zusammenhang vielleicht noch auf einen Satz hinweisen, der unter vielen steht: Eine grundlegende Reform der EU-Asylpolitik mit dem Ziel eines einheitlichen E U-Asylrechts - darauf haben wir uns verständigt, CDU, CSU und SPD - ist ein großer Schritt. Dafür werden wir auch arbeiten.

Die ganze Asylpolitik, so wie sie im Augenblick stattfindet in der Europäischen Union, funktioniert so nicht. Im Lissabonner Vertrag ist eine solche einheitliche Asylpolitik angelegt, und wir werden darauf hinarbeiten, dass das eines der großen Projekte der Europäischen Union für die nächsten Jahre sein wird. Herzlichen Dank.

Montag, 7. September 2015

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Quelle:
Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und Bundeswirtschaftsminister Gabriel am 7. September 2015
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/09/2015-09-07-merkel-gabriel.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2015

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