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EUROPA/1681: Europa braucht einen Rettungsschirm für den Rechtsstaat


FDP-Pressemitteilung vom 20. April 2020

BESCHLUSS DES FDP-BUNDESVORSTANDS: Europa braucht einen Rettungsschirm für den Rechtsstaat


Der Bundesvorstand der Freien Demokratischen Partei hat auf seiner digitalen Sitzung am 20. April 2020 den folgenden Beschluss gefasst:


Europa braucht einen Rettungsschirm für den Rechtsstaat

Die Corona-Krise fordert ganz Europa heraus. Menschen haben Angst um ihre Gesundheit. Die wirtschaftliche Entwicklung bricht ein. Die Stabilität der Eurozone ist einmal mehr in Gefahr. Und in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten mit Blick auf die Bekämpfung der Infektionsausbreitung Sondermaßnahmen oder Sondergesetze, mit denen das öffentliche Leben stillgelegt wird und die Bürgerrechte eingeschränkt werden.

Ein Hauptaugenmerk der politischen Akteure in den einzelnen Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union liegt neben der unmittelbaren Bekämpfung des Virus auf der Wirtschaftspolitik. Ohne eine rasche Erholung der europäischen Volkswirtschaften lassen sich die Kosten der Krise kaum schultern. Der politische Diskurs auf nationaler und europäischer Ebene wird noch lange von den unterschiedlichen Vorstellungen geprägt sein, welche Instrumente, etwa in den Bereichen Währung, Arbeitsmarkt und Konjunktur, die richtigen sind.

Daneben haben die Entwicklungen während der Corona-Krise in einigen Mitgliedstaaten aber auch zu einer Gefährdung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geführt. In Zeiten einer Pandemie muss die Regierung in den jeweiligen Mitgliedstaaten schnell und pragmatisch agieren können, um die Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Maßnahmen dürfen jedoch nicht zu einem allgemeinen Abbau des Rechtsstaats in der EU führen. Die aktuellen Entwicklungen in Ungarn und Polen bieten Anlass zu großer Sorge. Kurzfristige Wahlrechtsänderungen, umfassende Rechtssetzung per Dekret, die Behinderung der Opposition oder immer weitergehende Einschränkungen der Pressefreiheit sind negative Begleiterscheinungen der beschlossenen Sondergesetze.

Dieser Weg ist die Fortsetzung einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit, die die europäische Rechts- und Wertegemeinschaft seit Jahren in einigen Mitgliedstaaten beobachten muss. Wenn Europa und die EU stärker aus dieser Krise hervorgehen sollen, braucht es neben einem Rettungsschirm für Gesundheitssysteme, Wirtschaft, Währung und Arbeitsmarkt auch einen Rettungsschirm für den Rechtsstaat in Europa.

Dazu sind folgende Maßnahmen erforderlich:

• Die Bundesregierung muss sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU 2021-2027 die Möglichkeit geschaffen wird, Zahlungen von EU-Mitteln auszusetzen, wenn Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen.

• Die deutsche Bundesregierung muss das Thema Rechtsstaat zu einem Schwerpunkt ihrer EU-Ratspräsidentschaft erklären und eine europäische Grundwerteinitiative zu einem verbesserten Schutz von Rechtstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechten anstoßen. In diesem Zusammenhang muss die EU-Grundrechtecharta in allen Mitgliedstaaten volle Geltung erhalten, der Rechtsprechung durch den EuGH unterliegen und den Bürgerinnen und Bürgern einklagbare Rechte verleihen.

• Der bestehenden EU-Rechtsstaatsmechanismus muss durch die Veröffentlichung jährlicher Rechtsstaats- und Korruptionsevaluierungen erweitert werden. Diese sollen in Kooperation zwischen der Europäischen Grundrechteagentur, der Europäischen Staatsanwaltschaft und dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung erstellt werden.

• Die Europäische Kommission muss künftig auch "systemische" Vertragsverletzungsverfahren vorantreiben können, indem sie einzelne Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat bündeln kann, die in ihrer Gesamtschau ein Muster der schwerwiegenden Verletzung der Werte der Europäischen Union, wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, erkennen lassen.

• Die Europäische Union muss bis zur nächsten Neuwahl des Europäischen Parlaments und der Kommission ihrer im Vertrag von Lissabon niedergelegten Verpflichtung nachkommen und der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten.

• Im Rahmen der geplanten Konferenz über die Zukunft Europas muss eine Reform des Rechtsstaatsverfahrens erarbeitet werden. Die Entscheidungs- und Sanktionsmechanismen nach den europäischen Verträgen müssen auf einem unabhängigen, rechtsstaatlichen Verfahren beruhen und so ausgestaltet werden, dass sie nicht durch eine kleine Minderheit von Mitgliedstaaten blockiert werden können, insbesondere durch jene Mitgliedstaaten, gegen die bereits ein ähnliches Verfahren läuft, indem diese von der Stimmabgabe ausgeschlossen werden.

• Die Abbautendenzen des Rechtsstaats in einzelnen Mitgliedstaaten der EU und die Rhetorik der entsprechenden Protagonisten stehen auch in einem Zusammenhang mit unterschiedlichen Vorstellungen einer gemeinsamen Migrationspolitik. Eine Einigung über ein neues Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) erhöht die Wahrscheinlichkeit, auch im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu einer neuen Gesprächsgrundlage zu kommen. Die Reform des GEAS muss daher auch im Sinne der Rechtsstaatlichkeit ein weiterer Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sein. Darüber hinaus müssen die Beeinträchtigung des Asylrechts und die Kontrolle an den Schengen-Binnengrenzen im Zusammenhang mit der Corona-Krise so schnell wie möglich beendet werden.

Ohne eine Stärkung der Zivilgesellschaft, der unabhängigen Justiz, der freien Medien und der demokratischen Akteure in den betroffenen Mitgliedstaaten werden die benannten Maßnahmen nicht erfolgreich sein. Aus diesem Grund müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten darüber hinaus folgende Maßnahmen ergreifen:

• Im Rahmen von ERASMUS+ muss ein neues Stipendienprogramm für den Bereich der Rechtsstaatlichkeit aufgelegt werden. Angehörige von Polizei, Justiz- und Strafverfolgungsbehörden sowie Vertreter aus Wissenschaft und Journalismus müssen dabei mit einem spezifischen Fokus auf das Thema Rechtsstaat bei Praxis- und Forschungsaufenthalten gefördert werden.

• Die Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsministerien von Bund und Ländern und in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die akademische Selbstverwaltung sind aufgerufen, die bestehenden Programme an der Schnittstelle von Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Osteuropastudien und entsprechenden Fremdsprachen zu evaluieren und, wenn möglich und sinnvoll, auszubauen. Entsprechende Programme müssen besonders bei ausländischen Studieninteressierten aktiv beworben werden.

• Die bestehenden Austauschprogramme für Diplomaten und Beamte, etwa zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, müssen personell ausgedehnt, auf mehr Mitgliedstaaten ausgeweitet und stärker beworben werden. Die Justizverwaltungen von Bund und Ländern sind aufgerufen, nach dem Vorbild der Austauschprogramme für Diplomaten und Beamte eigene Austauschprogramme für den Bereich der Justiz ins Leben zu rufen.

• Im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU 2021-2027 müssen Mittel für einen unabhängigen europäischen Pressefonds bereitgestellt werden, mit dem journalistische Projekte in EU-Regionen gefördert werden können, in denen die Medienfreiheit bedroht ist. Ferner müssen Mittel bereitgestellt werden, um Publikationen und Forschungsergebnisse über das Thema Rechtsstaat verstärkt in die in den betroffenen Mitgliedstaaten gesprochenen Sprachen zu übersetzen.

• Neben dem Rechtsstaatsverfahrenund dem Vertragsverletzungsverfahren muss dem Vorabentscheidungsverfahren, bei dem nationale Gerichte dem EuGH eine Rechtsfrage zur Entscheidung vorlegen, eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung der Grundrechte von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern zukommen. Es ist zu prüfen, inwiefern Vorabentscheidungsverfahren aus Mitgliedstaaten, gegen die bestimmte Vertragsverletzungsverfahren anhängig sind, in der Binnenorganisation des EuGHspriorisiert werden können.

• Zwischen dem Europäischen Parlament und den Parlamenten aller Mitgliedstaaten müssen vermehrt interparlamentarische Treffen und Debatten über das Thema Rechtsstaat stattfinden.

• Die Arbeit der deutschen und europäischen politischen Stiftungen soll beim Thema Rechtsstaat, insbesondere innerhalb der Europäischen Union, ausgebaut, stärker anerkannt und finanziell gefördert werden.

Die Europäische Rundfunkunion sowie der jeweilige Auslandsrundfunk der EU-Mitgliedstaaten sollten prüfen, inwiefern mehr Formate im Fernsehen und im Internet, in denen das Thema Rechtsstaat in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union problematisiert wird, in mehr Amtssprachen der EU angeboten werden können.

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Quelle:
Presseservice der Liberalen
FDP-Bundesgeschäftsstelle
Reinhardtstraße 14, 10117 Berlin
Telefon: 030 - 28 49 58 41, Fax: 030 - 28 49 58 42
E-Mail: presse@fdp.de
Internet: www.fdp.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2020

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