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NORDRHEIN-WESTFALEN/1939: Fraktionschefs reagieren auf die Erklärung der Ministerpräsidentin (Li)


Landtag intern 9/2012
Informationen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen

Kursvorgabe in der Kritik
Fraktionschefs reagieren auf die Erklärung der Ministerpräsidentin

Von Christoph Weißkirchen, Daniela Braun & Jürgen Knepper



13. September 2012 - Einen Tag nach der Regierungserklärung von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft haben sich die fünf Fraktionen im NRW-Landtag einen Schlagabtausch über den Regierungskurs geliefert. Während insbesondere CDU und FDP der Landesregierung mangelnden Sparwillen vorwarfen, stellten sich SPD und GRÜNE voll hinter Krafts Präventionspolitik. Die PIRATEN kündigten an, genau zu prüfen, ob Rot-Grün seine Versprechungen auch umsetze.


Kraft habe kein "stimmiges Bild" aufgezeigt und keine Antworten auf wesentliche Fragen der kommenden Jahre geliefert, bemängelte Karl-Josef Laumann als Vorsitzender der CDU-Fraktion. Sein zentraler Kritikpunkt: Die Regierung weigere sich, den Haushalt in Ordnung zu bringen - das sei "Diebstahl" an der Zukunft. Rot-Grün wisse, dass gespart werden müsse, sage aber nicht, wo dies passieren solle. So flössen die Neuschulden quasi komplett als Schuldendienst auf die Konten des internationalen Kreditmarkts. Damit verkaufe Rot-Grün das Land an die Finanzmärkte, meinte Laumann. Statt Wachstum über Schulden zu finanzieren, sei es notwendig, den Staat so einzustellen, dass er mit dem erwirtschafteten Geld auskomme. Er dürfe keine Ausgaben mehr übernehmen, ohne alte in Frage zu stellen, forderte der CDU-Sprecher.

Nach seinem Verständnis von "Privat vor Staat" müsse zudem jeder, der einen Vollzeitjob habe, ohne staatliche Hilfe leben können. Was die Wirtschaft betreffe, konterkarierten Vergabe-, Klimaschutz- und Nichtraucherschutzgesetz jegliche Fortschritte des angestrebten Bürokratieabbaus. Neben der Wirtschafts- zog der CDU-Abgeordnete auch die Sozialkompetenz der Regierung Kraft in Zweifel. So fehle bei der Inklusion für viele der rund 120.000 behinderten Schülerinnen und Schülern eine geeignete Schule, die gemeinsames Lernen mit Nicht-Behinderten anbiete. Für rund 30.000 Kinder gebe es keinen Platz bei der U3-Betreuung, worauf die Regierung mit einem "Offenbarungseid" antworte, indem sie einfach größere Gruppen vorschlage. Und der doppelte Abiturjahrgang werde im kommenden Jahr keine verantwortbaren Studienbedingungen vorfinden - auch weil den Hochschulen nun das Geld der Studiengebühren fehle, die Rot-Grün als Wahlgeschenk abgeschafft habe.

Die CDU solle sich nicht an der Koalition abarbeiten, sondern an den Problemen der Menschen im Land, entgegnete der SPD-Fraktionsvorsitzende Norbert Römer. Dazu habe er bei seinem Vorredner aber nichts gehört. Anders die Regierungserklärung der Ministerpräsidentin: Deren Leitlinien einer vorbeugenden, nachhaltigen und gerechten Politik werde die SPD "solide, beharrlich und zielorientiert" verfolgen, versprach der Abgeordnete. Er könne nachvollziehen, dass sich die CDU mit ihren 26 Prozent bei der letzten Wahl so machtlos fühle wie nie zuvor, sagte Römer. Er hoffe nur, dass dies nicht umschlage in "Fundamentalopposition". Die Einladung an die Opposition gelte weiter: Sie könne vernünftige Vorschläge machen, über die etwa in Sachen Schuldenabbau zu reden wäre. Dies sei sie allerdings bislang schuldig geblieben.

Unabhängig davon mahnte Römer einen Beitrag des Bundes an, um dem Ziel der solidarischen Gesellschaft näher zu kommen. So sei es etwa nicht Aufgabe der Kommunen, die Lasten der Eingliederungshilfe allein zu tragen. Der Bund müsse die Hälfte der Lasten übernehmen, forderte der SPD-Sprecher. Bei der Versorgung mit Kita-Plätzen befinde sich das Land in einer großen Aufholjagd: "Wir strengen uns an und tun alles, was wir machen können." Größere Kindergruppen kämen aber nur in Frage, wo Raum und Personal es zuließen, betonte er und fuhr fort: "Wir werden keine Qualitätsminderung zulassen."

In Sachen Energiewende, bei der sich die Koalitionäre in Berlin gegenseitig im Weg stünden, sehe Rot-Grün in NRW eine große Chance, Umwelt und Arbeit miteinander zu versöhnen. Zudem sprach sich Römer für einen gesetzlichen Mindestlohn aus: Wer den sozial Bedürftigen nicht helfe, könne letzten Endes auch nicht für den Schutz der Wohlhabenden garantieren. Erst Schuldenabbau, dann neue staatliche Leistungen: 80 Prozent der Menschen im Land befürworteten laut einer aktuellen Studie dieses Vorgehen, betonte der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner in Richtung Kraft - und kritisierte: "Das ist das genaue Gegenteil Ihrer Politik." Dabei müsse doch die große Lehre aus der EU-Schuldenkrise sein, Staaten mit Hochdruck aus ihren Schulden herauszuholen. Zwar habe Kraft Gesprächsbereitschaft bezüglich einer Schuldenbremse in der NRW-Verfassung signalisiert. Er hoffe aber, dass dahinter nicht nur ein rhetorischer Trick, sondern echte Sparbereitschaft stecke: "Die können wir bei Ihnen aber bislang nicht erkennen."

Auch in anderen Bereichen hagelte es Kritik von Lindner: ein übermächtiger grüner Umweltminister, ein ökologisch "völlig unwirksames" Klimaschutzgesetz, zu wenig neue Straßen samt drohendem "Verkehrsinfarkt", Kita-Beitragsfreiheit zulasten von Qualität und Ausbau der U3-Betreuung, vernachlässigte Gymnasien und Realschulen sowie rot-grünes Unverständnis für den Mittelstand angesichts der Koalitionspläne zur Vermögenssteuer. Zudem gehe das verdrehte Motto der Regierung Kraft "Verteilen vor Erwirtschaften" nicht auf, befand Lindner - was nicht da sei, könne nicht verteilt werden. Auch warnte er vor einer "Überdehnung" des Solidaritätsbegriffs.

Insbesondere bei den Kommunalfinanzen sowie der Kultur- und Integrationspolitik gebe es zwar Berührungspunkte zwischen FDP und Rot-Grün, doch sei die Regierungserklärung insgesamt zu vage: Kraft habe zwar angekündigt, alle mitnehmen zu wollen. Doch: "Sie haben nicht gesagt, wohin." Für ihn hingegen sei die Zielrichtung klar, so der FDP-Sprecher: "Nordrhein-Westfalen ist ein soziales Land und soll es bleiben. Aber es braucht dringend liberale Impulse."

Auf die Wirtschafts- und Energiepolitik konzentrierte sich der Grünen-Fraktionsvorsitzende Reiner Priggen. Notwendig seien langfristige und verlässliche Ansätze, mit denen die ehrgeizigen Klimaschutzziele sowie der Ausbau der erneuerbaren Energie bis hin zur Vollversorgung zu erreichen seien. Als Kernpunkte nannte Priggen die Respektierung des Atomausstiegs und speziell für NRW den sozialverträglichen Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau. Vor diesem Hintergrund gehe die rot-grüne Landesregierung etwa beim Ausbau hochmoderner Gaskraftwerke, der Kraft-Wärme-Kopplung, der Fernwärme sowie der Windkraft schrittweise voran. Gerade bei letzterer hätten CDU und FDP mit der Regierungsübernahme im Jahr 2005 mögliche Investoren verschreckt. Gleiches geschehe heute durch eine "konfuse" Politik der Bundesregierung bei der Umsetzung der Energiewende. Die Landesregierung bündle dagegen die Kompetenzen in den Bereichen Bauen, Verkehr, Wissenschaft, Wirtschaft, Energie und Klimaschutz. Entscheidend sei ein Ansatz, der die Innovationsfähigkeit des Standorts NRW stärke.

Mit Blick auf die Schulpolitik verteidigte der Grünen-Sprecher die Beilegung des "Stellungskriegs" Gymnasium gegen Gesamtschule. Der Kompromiss zwischen Rot-Grün und CDU werde jetzt vertragstreu umgesetzt, versprach er. Für parteiübergreifende Zusammenarbeit warb Priggen auch beim Thema Inklusion, das deutlich mehr umfasse als nur die Schulpolitik. Zusammenstehen müsse man ebenfalls bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Und ein gemeinsames Vorgehen könne er sich genauso hinsichtlich der Folgenbewältigung bei Standortaufgaben von deutschem und englischem Militär vorstellen. In Sachen Nichtraucherschutz plädierte er für klare Regelungen, die die Menschen auch verstehen könnten.

Vieles in der Regierungserklärung sei zustimmungsfähig, erklärte Dr. Joachim Paul für die Piratenfraktion. Man werde genau prüfen, dass den Ankündigungen auch Taten folgten. Wenn also in die Zukunft investiert werde, dann müsse dies vor allem in eine bessere Beschäftigungslage, die Kinderbetreuung, den diskriminierungsfreien Zugang zur öffentlichen Infrastruktur und gute Bildung geschehen. Weil zur Teilhabe auch Mobilität gehöre, müsse der öffentliche Nahverkehr fahrscheinlos werden.

Für seine Fraktion sei Nachhaltigkeit eines der Leitbilder für gesellschaftliche Entwicklung. Hier seien auch die Bürgerinnen und Bürger Antriebsmotoren für Veränderungen. Paul forderte mehr Eigeninitiative des Landes bei der Energiepolitik, eine Bundesratsinitiative für eine Finanztransaktionssteuer sowie verstärkte Investitionen in die Bildung. Noch hänge der Erfolg des Einzelnen zu sehr von der sozialen Herkunft ab. "Wir sprechen uns für eine flüssige Schullaufbahn aus" - mit frei wählbaren Kursen und somit flexiblem, individuellem Lernen. Sobald wie möglich sei ein Rechtsanspruch auf inklusives Lernen zu verankern. Zudem plädierte Paul für eine landesweite "IT-Initiative Bildungsinnovation".

Bei den Hochschulen sei mehr Autonomie durch Abschaffung oder Umgestaltung der Hochschulräte notwendig. Zur Verbesserung der bürgerschaftlichen Teilhabe und Weiterentwicklung der Demokratie schlug Paul vor, Möglichkeiten digitaler Beteiligungsprozesse verstärkt zu nutzen. Bezüglich der Schuldenbremse warnte er vor "weitreichenden Folgen" des europäischen Fiskalpakts. Dieser beziehe nicht nur Bund und Länder, sondern auch Gemeinden und Sozialversicherungsträger in die Verschuldungsquote von maximal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ein. Dadurch entstehe zusätzlicher Sparzwang.

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Quelle:
Landtag intern 9 - 43. Jahrgang, 28.09.2012, S. 4-5
Herausgeberin: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen,
Carina Gödecke, Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2012