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RHEINLAND-PFALZ/5344: Homosexuelle im Dritten Reich - Das Leiden endete nicht mit dem Krieg (Landtag Rheinland-Pfalz)


Landtag Rheinland-Pfalz - Pressemitteilung vom 27. Januar 2020

Gedenksitzung des Landtags zum 27. Januar

Das Leiden endete nicht mit dem Krieg


Der rheinland-pfälzische Landtag hat aus Anlass des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar in diesem Jahr an die Verfolgung der Homosexuellen im Dritten Reich erinnert. "Ihr Leidensweg war jedoch mit dem Kriegsende vor 75 Jahren nicht zu Ende", betonte Landtagspräsident Hendrik Hering bei der Gedenksitzung des Parlamentes in der Gedenkstätte KZ Osthofen.

Seit über zwei Jahrzehnten erinnert der rheinland-pfälzische Landtag am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus und stellt jedes Jahr ein anderes Thema in den Mittelpunkt seines Gedenkens. Erstmals wende sich der Landtag einer Opfergruppe zu, "die in der perfiden Hierarchie, die im nationalsozialistischen Lagersystem herrschte, ganz unten stand: den verfolgten Homosexuellen", sagte Hendrik Hering. Mehr als 50.000 Männer seien nach dem nationalsozialistisch verschärften Strafrecht in der NS-Diktatur und ebenso viele auch noch in der Nachkriegszeit bis 1969 verfolgt worden.

"Ein falscher Blick konnte schon genügen, um denunziert zu werden, in Gefängnisse, Zuchthäuser oder ins KZ verschleppt zu werden", führte der Landtagspräsident aus. Tausende dieser Männer wurden ermordet. Hendrik Hering erinnerte an das Schicksal Otto Scheuerbrands aus Ludwigshafen. Dessen Leidensweg führte ihn durch drei Konzentrationslager, er wurde zwangssterilisiert, ins Gefängnis geworfen und wurde schließlich im Alter von 27 Jahren im KZ Mauthausen von den Nazis ermordet. Nach Kriegsende habe der Vater versucht, seinen Sohn als Opfer des Faschismus anerkennen zu lassen. Vergebens. "Die unerbittlichen Moralvorstellungen, das konforme Familien- und Weltbild der Nationalsozialisten, dies alles wirkte auch nach 1945 allzu lange fort", sagte Hendrik Hering. Homosexuelle Opfer der NS-Diktatur hätten lange keine Stimme gehabt. Die junge Bundesrepublik hatte das Verbot sexueller Handlungen unter Männern in der verschärften Version des NS-Regimes bis 1969 unverändert übernommen. Erst 1994 wurde der berüchtigte Paragraf 175 endgültig abgeschafft.


Hering: Mechanismen der Verdrängung ergründen

"Wie kann es sein, dass nach den Gräueln der NS-Zeit ganze Gruppen von Menschen weiter verfolgt und ausgegrenzt wurden? Wieso wurde das Unrecht nicht gestoppt? Welche Mechanismen wirkten da fort?", fragte Landtagspräsident Hendrik Hering. Aus seiner Sicht sei es notwendig, diese Kontinuitäten und Mechanismen des Verdrängens, wissenschaftlich aufzuarbeiten. "Ich setze mich deshalb nachdrücklich dafür ein, hierzu eine Studie in Auftrag zu geben", sagte Hendrik Hering. Er forderte: "Das dahinter stehende Denken - das Denkmuster, dass als minderwertig gilt, wer nicht in das Schema passt, wer anders ist als die Mehrheit, wer nicht konform geht mit einer sogenannten "Leitkultur" - dieses Denken muss aufgebrochen und als das entlarvt werden, was es ist: menschenverachtend, diskriminierend und undemokratisch".


Schwartz: Systematisch missachtete Opfer

Professor Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin thematisierte in seiner Gedenkansprache die Verfolgung der Homosexuellen während des Dritten Reiches. Er zeichnete die Kontinuität dieser Verfolgung im Strafrecht und im Alltag der jungen Bundesrepublik nach. Sowohl unter der NS-Diktatur als auch in den ersten beiden Jahrzehnten der westdeutschen Demokratie wurden jeweils rund 50.000 Männer auf der Basis von Nazi-Strafrecht verurteilt. Ein reformiertes, aber weiterhin diskriminierendes Strafrecht existierte in Deutschland sogar bis 1994. Im NS-Staat habe es jedoch besonders schlimm jene 5.000 bis 6.000 Männer getroffen, die ausdrücklich als Homosexuelle in Konzentrationslagern inhaftiert und mit einem "Rosa Winkel" stigmatisiert worden seien. Ihre Todesrate werde zwischen 50 bis 80 Prozent geschätzt.

In der KZ-Lagerhierarchie und später auch in der gesellschaftlichen Hierarchie der jungen Bundesrepublik hätten Homosexuelle ganz unten gestanden. Sie gehörten noch lange nach 1945 zu den systematisch missachteten Opfern. Homosexuelle Männer wurden weiterhin strafrechtlich verfolgt, homosexuelle Männer und Frauen wurden gesellschaftlich diskriminiert, ausgegrenzt, unsichtbar zu machen versucht. Trotz aller Fortschritte in Richtung Gleichstellung und Akzeptanz gebe es auch heute noch homophobe und transphobe Vorurteile. Diesen könne man letztlich nur mit inhaltlicher Aufklärung und dem Einüben von Empathie und tolerantem Verhalten begegnen.

"Unser heutiges Gedenken an die Verfolgung homosexueller Menschen erinnert daran, dass nicht nur die menschenverachtende Diktatur Hitlers, sondern dass auch ein demokratischer Rechtsstaat wie unsere Bundesrepublik in die Irre gehen konnte", sagte Michael Schwartz. Unsere Demokratie habe sich aber selbst korrigieren können. Er appellierte an eine "Kultur der Achtsamkeit" und des gegenseitigen Respekts."


Dreyer: "Beschämende Kontinuitäten"

Ministerpräsidentin Malu Dreyer betonte: "Die Geschichte der verfolgten Homosexuellen macht einmal mehr deutlich: 1945 gab es keine Stunde Null. Die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen wurde in der Bundesrepublik und der DDR nahtlos fortgesetzt. Erlittenes Unrecht wurde weder anerkannt noch entschädigt. Statt einer Zäsur gab es erschreckende und zutiefst beschämende Kontinuitäten. Hier gibt es nichts zu beschönigen: die fortgesetzte Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer auch in Rheinland-Pfalz war bitteres Unrecht. Denn auch damals lautete der erste Satz unseres Grundgesetzes schon: "Die Würde des Menschen ist unantastbar"". Malu Dreyer verwies auch darauf, dass sich in manchen Kreisen selbst heute noch die Vorstellung von Homosexualität als Krankheit gehalten habe. "Es gehört zur grundgesetzlich garantierten Freiheit, dass jeder Mensch über seine eigene sexuelle und geschlechtliche Identität bestimmen darf. Wer das bestreitet - aus welchen Gründen auch immer - stellt sich in Widerspruch zur Werteordnung unseres Grundgesetzes", so Ministerpräsidentin Malu Dreyer.

Im Umfeld der Gedenksitzung wurden auch Teile der Ausstellung des Familienministeriums "Verschweigen - Verurteilen" zur Verfolgung von Homosexualität in Rheinland-Pfalz von der Nachkriegszeit bis 1973 gezeigt.


Hintergrund "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus":

Seit über zwei Jahrzehnten erinnert der rheinland-pfälzische Landtag am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Die erste Sondersitzung des Landtags fand 1998 in der damals neu eingerichteten "Gedenkstätte ehemaliges KZ Osthofen" statt. Damit gehört der Landtag Rheinland-Pfalz zu den ersten Landesparlamenten in Deutschland, welche die Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1996 aufgriffen und den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als Gedenktag begehen.

Jedes Jahr stellt der Landtag ein anderes Thema in den Mittelpunkt seines Erinnerns und Gedenkens. In diesem Jahr erinnert er an die Verfolgung der Homosexuellen im Dritten Reich. Im vergangenen Jahr stand die Verfolgung und Entrechtung der Juden in Deutschland und Europa nach den Novemberpogromen vor 80 Jahren und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1.September 1939 im Mittelpunkt, 2018 erinnerte der Landtag an die Opfer der NS-Justiz.

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Quelle:
Pressemitteilung vom 27. Januar 2020
Landtag Rheinland-Pfalz
Herausgeber: Staatskanzlei Rheinland-Pfalz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2020

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