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SCHLESWIG-HOLSTEIN/2238: Missbrauch in Heimen und Kliniken (Der Landtag)


Der Landtag - Nr. 04 / Dezember 2018
Die Parlamentszeitschrift für Schleswig-Holstein

Opfer berichten von Schlägen und Elektroschocks
Missbrauch in Heimen und Kliniken


Tausende Menschen wurden in deutschen Kinderheimen, psychiatrischen Kliniken und Behinderteneinrichtungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg misshandelt - unter staatlicher und kirchlicher Obhut. Im Norden geschah dies beispielsweise in Schleswig und Glückstadt. Das Schicksal der Opfer blieb lange unbeachtet. Ende November boten Sozialausschuss und Sozialministerium den Betroffenen ein Forum, um einer breiten Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen zu berichten und um Forderungen an Politik und Gesellschaft zu formulieren.


Sieben ehemalige Heimkinder und Patienten ergriffen im Plenarsaal das Wort, und ihre Schilderungen schockieren. Sie berichteten von sexuellen Übergriffen, von Faustschlägen ins Gesicht und Tritten in den Magen durch Pflegr und Jugendamtsmitarbeiter, von Elektroschocks, vom Untertauchen in eiskaltes oder kochend heißes Wasser, von Fesselungen, von Isolation im "Besinnungsstübchen", von verschimmeltem Essen. Einige Kinder überlebten die Misshandlungen nicht. Medikamente, etwa hochdosierte Beruhigungsmittel, seien gewaltsam verabreicht worden, als Test für die Pharma-Industrie.

Bund, Länder und die großen Kirchen haben Anfang 2017 die Stiftung "Anerkennung und Hilfe" gegründet. Betroffene können bis zu 9.000 Euro Entschädigung beantragen. Weitere 5.000 Euro können gezahlt werden, wenn Heimbewohner arbeiten mussten, ohne dass dafür Rentenbeiträge entrichtet wurden. Ansprechpartner in Schleswig-Holstein ist das Landesamt für soziale Dienste in Neumünster. Die Stiftung stieß bei mehreren Geschädigten auf Kritik: Es sei entwürdigend, dass komplizierte Formulare ausgefüllt und Zeugen benannt werden müssten. Zudem sei die Antragsfrist zu kurz. Betroffene müssten sich bis Ende 2019 melden, sonst verfalle ihr Anspruch. Dieser Termin müsse um drei Jahre verlängert werden, so eine Forderung. Auch sei die Entschädigungssumme eine "Verhöhnung" der Opfer, die "ein zerstörtes Leben" führen müssten. Der Staat, die Kirchen und die Pharma-Konzerne kämen billig davon und müssten keine tiefgreifenden Konsequenzen fürchten.

Sozialminister Heiner Garg (FDP) kündigte die wissenschaftliche Aufarbeitung der Medikamentenversuche in Schleswig-Holstein an. Eine Studie der Uni Lübeck soll 2020 vorliegen. "Wir können durch die öffentliche Aufarbeitung dazu beitragen, dass Betroffene Gehör und Wertschätzung finden", so Garg. Werner Kalinka, Vorsitzender des Sozialausschusses, wandte sich an die Opfer: "Diese Tagung wird nicht das Ende der Beratungen sein, sondern ein weiterer Anstoß, nach Wegen für mehr Gerechtigkeit zu suchen."

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Quelle:
Der Landtag, Nr. 4 / Dezember 2018, S. 13
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages
Schleswig-Holsteinischer Landtag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2019

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