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KULTUR/123: Laudatio auf Andreas Dresen anlässlich der Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises 2012


SPD-Pressemitteilung 434/12 vom 26. November 2012

Laudatio auf Andreas Dresen anlässlich der Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises 2012

Laudatio der Journalistin und Autorin Regine Sylvester zur Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises 2012 an den Regisseur und Autor Andreas Dresen



Anlässlich der heutigen Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises 2012 hält die Journalistin und Autorin Regine Sylvester die Laudatio auf den Autor und Regisseur Andreas Dresen.

Es gilt das gesprochene Wort

Vielleicht hat er Feinde, aber man kennt sie nicht. Ich glaube, dass er eher Neider im Beruf haben könnte, was menschlich verständlich wäre: Andreas Dresen erhält seit Jahren schöne Preise, die andere auch gerne hätten. Er bekommt sie überall, wo er seine Filme zeigt - sogar auf entfernten Kontinenten. Der Mann geht auf die fünfzig zu, sieht aber immer noch aus wie der jüngste Sohn aus den russischen Märchen: Ein Iwan oder Wanja, der den Bauernhof der Eltern verlassen muss und in die Welt zieht - mit nichts anderem ausgerüstet als mit blauen Augen, ungekämmten Haaren und großem Herzen.

Andreas Dresen sah immer jünger aus, aber er ist dünner geworden nach einer Reise nach Südamerika, bei der er krank wurde. Er kann seine alten Hosen nur noch auftragen, wenn er den Gürtel aufs letzte Loch zieht. Etwas Asketisches ist ihm jetzt eigen, mehr Knochen, mehr Falten, mehr Kerl, und alle sagen, wie gut ihm das steht.

Seine Schauspieler - und da kann man fragen, wen man will - erzählen von leichter, heiterer Arbeit, auch bei den schweren Themen. Und schließlich hat er, durchaus eine seltene Leistung, Menschen gefunden, die schon sehr lange sein Team sind und sein wollen. Diese Leute wissen, was eine Kameraeinstellung auslöst und aushält, wie eine Mütze, eine Wand, eine Frisur wirken, wie sich ein Geräusch anhört, damit der Zuschauer Wahrhaftigkeit spürt. Seine Freunde sind Mitarbeiter, die schreiben, rumrennen, Lebensräume möblieren, Geld sammeln und Essen kochen. Längst sind Legenden über bacchantische Feste nach ersten Drehtagen, Bergfesten und letzten Drehtagen verbreitet.

Wer hätte nicht gerne eine Wahlfamilie, die sich heftig mag, so verlässlich wie enthemmt ist, die nicht tratscht und den nicht beneidet, der am meisten im Licht steht, denn das ist nun mal der Regisseur.

Wer sich ein Bildnis machen möchte, kann bei Google auf 33 Seiten kleine Fotos ansehen, etwa zwanzig auf jeder Seite, also stehen etwa 660 Fotos von Andreas Dresen bei Google im Netz. Er lacht fast immer, er lacht mit offenem Mund, er lacht von Herzen. Und wenn er doch mal nicht ganz stark lacht, dann wartet im Gesicht ein Lächeln auf seinen Auftritt.

Andreas ist nicht cool. Allein dafür könnte man ihn lieben.

Von einem bestimmten Alter an hat jeder Mensch das Gesicht, das er verdient. Es gibt solche, von denen man den Blick nicht abwenden kann. Da bildet sich Lebendiges, Freundliches, Aufrichtiges, das den Zuhörer wie eine zweite, aber stumme Stimme erreicht.

So ist es bei Andreas Dresen, so war es bei Regine Hildebrandt.

Ich denke, dass sie glücklich wäre über diesen Preisträger. Sie passen zusammen durch Herkunft aus dem Osten, soziales Engagement und durch den Wunsch zu wissen, wie es den Leuten geht, die nicht darüber bestimmen können, wie es den Leuten geht.

Die Politikerin, der Regisseur: Die Arbeit braucht Kraft, auch tägliche Überwindung.

Regine Hildebrandt, eine studierte Biologin, sagte über die Zeit, lange bevor sie Politikerin wurde: "Um sieben Uhr heulte die Sirene beim VEB Berlin-Chemie. Dann musste man am Arbeitsplatz sein in der sozialistischen Produktion. Und ich hatte eine Stunde Anfahrt bis Adlershof. Um sechse das Haus verlassen, alles andere vorher machen, drei kleine Kinder, jedes hab ich ein Jahr lang gestillt. Wenn ich danach gegangen wäre, wie man sich so fühlt, da wäre ich zu Hause geblieben." Das war 2001 in einem Interview, das ich mit ihr führen durfte.

Bei Andreas Dresen äußert sich die Überwindung so, in einem Interview von 2005: "Ich habe vor jedem Film schlaflose Nächte, ich kann nicht richtig essen, bin furchtbar aufgeregt, fühle mich am Rande der Überforderung. Am Drehort versuche ich dann, mich zu befreien."

Regine Hildebrandt fuhr am Wochenende morgens um vier los, um den Sonnenaufgang im Kremmener Luch und die Vögel zu beobachten. Bekannt ist ihr Interesse an Pflanzen.

Bei Andreas Dresen stehen immer schöne frische Blumen, die er sich selber kauft, auf dem Wohnzimmertisch.

Regine Hildebrandt kletterte jeden Tag zu jeder Jahreszeit viele Stufen herunter und tauchte in den See vor ihrem Haus in Woltersdorf. Das macht Andreas Dresen nicht.

Vielleicht kennen nicht alle die familiären Milieus, aus denen Ermunterung für Spielerisches, sogar Tollkühnes gekommen sein könnte: Die Mutter von Andreas Dresen, Barbara Bachmann, ist Schauspielerin, sein Vater war der Theaterregisseur Adolf Dresen, sein Ziehvater ist der Regisseur und Intendant Christoph Schroth.

Regine Hildebrandts Großvater war Stehgeiger, die Großmutter spielte Bassgeige, der Vater war Unterhaltungspianist.

Die Sprache von Regine Hildebrandt hatte ein Timbre, das innerhalb der politischen Klasse ein Einzelfall war. Man kann sie leicht nachmachen, wenn man den Berliner Ton im Ohr hat: den Dialekt, das ratternde Tempo, die aufbrausende Satzmelodie, den sarkastischen Betonungsabfall am Satzende: "Na, dit war ja nu wieder wat."

An der Sprache von Andreas Dresen sei, so sagen zwei Schauspieler übereinstimmend, nichts auffällig - außer dem Lachen: Es sei ein in heftigen Luftstößen nach innen geatmetes Lachen und klinge Stoß für Stoß wie: "Üh, Üh, Üh". Bei den Dreharbeiten zu "Whisky mit Wodka" kam der lustige Vorschlag, den Schauspieler Sylvester Groth, der da einen Filmregisseur spielt, mit genau diesem Lachen auszustatten. Der Regisseur Dresen soll die Idee sofort verworfen haben, wahrscheinlich gefiel ihm das Lachen nicht. Eine Laudatio darf auch mal eine kleine Empfindlichkeit erwähnen.

Zu besichtigen ist ein Oeuvre.

Man soll mit Behauptungen vorsichtig sein, aber heutzutage fällt mir kein anderer deutscher Filmregisseur ein, der so nachdrücklich seine Geschichten in der Welt der unbeachteten, sich irgendwie durchschlagenden, sich über den Tag rettenden Existenzen erzählt und dabei eine Stilistik zwischen Improvisation, Authentizität und Metaphysik entwickelt hat.

Drehbücher können sieben Jahre und dreizehn Fassungen dauern, wie Laila Stielers "Die Polizistin". Aus einem Fabeleinfall auf sieben Seiten schnell improvisiert werden wie "Halbe Treppe": Dabei haben die Schauspieler so sehr improvisiert, dass sie plötzlich in nichtabgesprochene Räume rannten, im Affekt die Tür vor der Kamera zuknallten und drinnen minutenlang ungesehen weiterspielten. Mit Wolfgang Kohlhaase sprach Andreas Dresen im April 2005 über "Sommer vorm Balkon", da war das Buch noch unfertig, im August wurde gedreht. Drei Monate später. Alles ist möglich.

Dresen liebt die Arbeit mit verschiedenen Generationen. Jetzt bereitet er "Als wir träumten" vor, nach dem Roman von Clemens Meyer, der ist 35. Drehbuchautor ist Wolfgang Kohlhaase, der ist 81.

Einmal hat Andreas Dresen auf der Bühne einen kleinen Scherz zum Publikum gemacht - er sei ja Gottseidank viel jünger als sein Drehbuchautor. Kohlhaase reagierte schnell: "Aber ich seh' besser aus!"

In Rezensionen kann Andres Dresen, wenn nicht gleich von Anfang an, so doch später, seine Wertschätzung nachlesen. Als authentisch, erschütternd, komisch, lakonisch gilt das Ergebnis seiner Regie. Er sei "der spannendste", "der erfolgreichste" Regisseur. "Die Welt" aus dem Axel-Springer-Haus vom 13. November 2012, nennt den Mann, der aus dem Osten kam, "den philanthropischsten unter Deutschlands Filmemachern". Hoffentlich meint sie das gut.

Andreas Dresen hat den Instinkt für die Bedürfnisse einer Szene: Zum Beispiel für die aggressive Verzweiflung von Inka Friedrich in "Sommer vorm Balkon", wenn sie nachts den Vater ihres Kindes anruft. Auf sonderbaren Umwegen und mit ganz anderen Worten schreit sie ihre Einsamkeit heraus. In meiner Erinnerung bleibt das Poltern in der Dunkelheit, das ein Ehepaar bei der Flucht vor brutalen Einbrechern verursacht, das geschah in "Willenbrock". Dresen erwartet, dass ein Schauspieler den Vorgang ausreizt, wie Henry Hübchen in "Whisky mit Wodka" bei dem immer wahnsinnigeren Versuch, eine Flasche an der Tischkante kaputtzuschlagen. "Nachtgestalten" ist der einzige Film, den Andreas Dresen ganz allein geschrieben hat. Er zeigt Berlin, das wie ein Herz schlägt und tickt wie eine Bombe. "Niemand kann sich sicher fühlen", sagt der Regisseur. "Jetzt ist es vielleicht noch gut, aber es kann schlechter werden. Ja, die Figuren sind am Abgrund. Manche haben es noch nicht erkannt. Manche scharren dicht dran, andere haben schon die Klippe übersprungen."

Dresen liebt das Wagnis, und er entdeckt Themen. Warum ist kein anderer deutscher Regisseur darauf gekommen, frage ich mich, wenn ich "Wolke 9" sehe über die Liebe im Alter, oder "Halt auf freier Strecke" über eine junge Familie und das lange Sterben vor dem Tod.

Oder die Dokumentarfilme über einen unbekannten Politiker: "Herr Wichmann von der CDU" und "Herr Wichmann aus der dritten Reihe". Wenn ich was zu sagen hätte, würde ich die Filme im Unterricht oder bei der Zeugnisübergabe zeigen, an den Universitäten, bei Elternabenden, im Knast, in Botschaften, auf Langstreckenflügen. Kurz gesagt: Wo es nur geht.

Politiker haben in Deutschland kein gutes Prestige. Der Spiegel beruft sich auf Studien: Feuerwehrleute belegen seit Jahren den ersten Platz, Politiker den letzten. Der Politiker im Witz ist immer ein Tölpel, einer der noch nettesten Witze geht so: "Wie eröffnet Helmut Kohl einen Tennisplatz? Er schneidet das Netz durch." Die Filme über Herrn Wichmann zeigen, wie einer die Demokratie ernst nimmt, obwohl er allen Grund hätte, an ihr zu verzweifeln. Herr Wichmann ist ein Blutsbruder von Regine Hildebrandt.

Andreas Dresen wurde vor wenigen Tagen zum Laienverfassungsrichter in Brandenburg ernannt. Sein letzter Filmheld war ein Politiker der CDU. Für die Position am Verfassungsgericht hat ihn die Partei Die Linke vorgeschlagen. Den Regine-Hildebrandt-Preis bekommt er im Willy-Brandt-Haus, in der Parteizentrale der SPD. Selten sind sich entschieden verschiedene Meinungen so einig über einen Mann.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 434/12 vom 26. November 2012
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2012