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AFRIKA/1074: Tunesien - Zu investorenfreundlich, Koalitionspartner kritisieren Ennahdas Finanzpolitik (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Dezember 2011

Tunesien: Zu investorenfreundlich - Koalitionspartner kritisieren Ennahdas Finanzpolitik

von Jake Lippicott


Tunis, 13. Dezember (IPS) - Tunesiens verfassungsgebende Versammlung hat den 66-jährigen Menschenrechtsaktivisten Moncef Marzouki als Vertreter der größten säkularen Partei Kongress für die Republik (CPR) zum Staatspräsidenten gewählt. Doch hinter den Kulissen streiten Koalitionspartner der tunesischen Übergangsregierung - die islamistische Partei Ennahda und die linke CPR - über den von Ennahda eingeschlagenen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs. CPR kritisiert ihn als neoliberal.

Kernpunkt der Kontroverse ist die Rückzahlung der internationalen Kredite. CPR besteht auf einem vorläufigen Rückzahlungsstopp und einer gründlichen Überprüfung der Auslandsschulden. Die Partei begründet ihre Forderung mit dem Hinweis, das geliehene Geld sei nicht ausschließlich im Interesse der Tunesier verwendet worden. Einen Teil davon hätten der langjährige Diktator Ben Ali und sein mafiöser Clan in die eigenen Taschen abgezweigt.

"Für die Rückzahlung dieser Millionen Dinare kann das tunesische Volk nicht aufkommen", sagte die CPR-Abgeordnete Mabruka Embarak gegenüber IPS. "Die internationalen Geldgeber hätten wissen müssen, dass sie ihre Kredite einem Diktator überließen. Wir wollen möglichst unabhängig von internationalen Finanzinstitutionen sein. Bevor wir neue Kredite aufnehmen, müssen wir die bisherigen Schulden überprüfen", stellte die Wirtschaftsexpertin fest. "In diesem Punkt stimmen wir nicht mit Ennahda überein."

Die islamistische Ennahda-Partei war aus den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung mit der klaren Mehrheit von 90 der 217 Sitze hervorgegangen. Ihr Wahlsieg war von der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt sowie von westlichen Regierungen mit Besorgnis aufgenommen worden. In Tunesien gilt die Partei als Vertreterin der Arbeiterklasse.

Doch die international geäußerten Befürchtungen scheinen unbegründet zu sein. Im Parteihauptquartier in Tunis betonte Ennahda-Sprecher Sayed Feyjani, man sei verpflichtet, internationale Investoren ins Land zu holen. "Tunesien muss für sie attraktiv sein. Wir sollten zwar alles tun, um uns nicht international zu verschulden. Doch wir halten nach Investitionen Ausschau, woher immer sie kommen."


Einheimische Finanzwelt schlägt sich auf Ennahdas Seite

Während der von der CPR vorgeschlagene Schuldenschnitt bei Tunesiens Bürgern Zustimmung findet, sieht das tunesische Finanzgewerbe jetzt in Ennahda durchaus eine gemeinsame Basis. Er sei von Ennahdas extrem liberaler Wirtschaftspolitik beeindruckt, erklärte Fahdel Abdelkefi, Präsident der tunesischen Börse, im Gespräch mit IPS. "Es ist zu hoffen, dass sie damit einen Ausgleich zur Position ihrer eher links- orientierten Koalitionsparteien CPR und 'Ettakatol' schafft", sagte der Börsenchef.

Auch wenn er sich Sorgen mache wegen Ennahdas Sozialpolitik, setze er darauf, dass sich die islamistische Partei allen radikalen Anstrengungen ihrer Koalitionspartner widersetze, betonte Abdelkefi. Das Einfrieren der Auslandsschulden kritisierte er als Populismus.

"Für ein Land wie Tunesien wäre dies katastrophal, denn damit würde Tunesien für einige Zeit seine internationale Einschätzung als Investitionsland einbüßen. Tunesiens Schulden machen nur 20 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes aus", stellte Abdelkefi fest. Ein so drastisches Vorgehen sei nicht zu rechtfertigen. "Wir sind ein ehrbares Land und können unsere Schulden aus eigener Kraft zurückzahlen", betonte er.

Doch viele Tunesier haben dem Westen nicht verziehen, dass er jahrzehntelang den früheren Diktator Ben Ali unterstützte. Deshalb halten sie es für unmoralisch, die Schulden zu begleichen, die seine dekadente Sippe angehäuft hatte.

Nach Ansicht politischer Beobachter ist Ennahda trotz ihrer revolutionären Selbstdarstellung dabei, sich mit der Wirtschaft und der internationalen Finanzwelt zu verbünden und damit ihre Glaubwürdigkeit als Partei der Unterdrückten zu verlieren.


Tunesier auf Subventionen angewiesen

Der öffentliche Sektor spielt in Tunesien traditionell eine wichtige Rolle. Viele Tunesier könnten ohne Subventionen nicht überleben. Seit Jahren fordern der Internationale Währungsfonds (IWF) und andere internationale Gläubiger die tunesische Regierung auf, die öffentlichen Ausgaben zu senken. Doch schon Versuche der früheren Regierung, den Brotpreis geringfügig anzuheben, lösten gewalttätige Straßenproteste aus.

Seine Partei sei sich dieses Problems durchaus bewusst, versicherte Sayed Feyjani gegenüber IPS. "Ennahda wird die Wirtschaft nicht radikal liberalisieren", betonte er. "Bei Verhandlungen mit dem IWF werden wir nicht vergessen, dass wir auf den öffentlichen Sektor und seine Arbeitsplätze nicht verzichten können. Wir wollen schließlich nicht, dass Menschen hungern müssen.", bekräftigte der Ennahda-Sprecher. (Ende/IPS/mp/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2011