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AFRIKA/1122: Algerien - Arabischer Frühling abgeflaut, Reformen lösen aber nicht alle Probleme (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Juni 2012

Algerien: Arabischer Frühling abgeflaut - Reformen lösen aber nicht alle Probleme

von Giuliana Sgrena

Polizei bei einer Demonstration in Algier im Februar 2011 - Bild: © Giuliana Sgrena/IPS

Polizei bei einer Demonstration in Algier im Februar 2011
Bild: © Giuliana Sgrena/IPS

Algier, 21. Juni (IPS) - Der fortgesetzte Hungerstreik von neun algerischen Justizangestellten, deren Forderung nach einer unabhängigen Gewerkschaft von der Regierung ignoriert wird, hat eine Diskussion über die Rolle des nordafrikanischen Landes im Arabischen Frühling ausgelöst. Viele Beobachter sprechen von unzureichenden Versuchen, ein durch und durch marodes politisches und wirtschaftliches System zu überwinden.

Obwohl sich der Gesundheitszustand der sechs Frauen und drei Männer, die seit mehr als einem Monat jegliche Nahrung verweigern, rapide verschlechtert, machen Regierung und Justizministerium keine Anstalten, den Beschäftigten entgegenzukommen.

"Drei Frauen sind inzwischen im Rouiba-Krankenhaus. Alle haben ein Zehntel ihres Gewichts verloren und leiden an Muskel- und Knochenschmerzen", sagte Nassira Ghozlane, die Vorsitzende der Autonomen Nationalen Gewerkschaft von Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung (SNAPAP). Die Behörden übten jetzt Druck auf Ärzte aus, um die Folgen des Hungerstreiks in Grenzen zu halten.

Die Justizangestellten hatten mit ihrem Protest im Februar begonnen, nachdem das Justizministerium eine Übereinkunft zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht umgesetzt hatte. Überdies verbietet die Regierung den Staatsdienern, sich in freien Gewerkschaften zu organisieren.

Die neun Beschäftigten entschlossen sich trotzdem dazu, eine Interessensvertretung zu gründen, die SNAPAP angegliedert wurde. Ihr Protest ist ein Beispiel für den verbreiteten Unmut in der Bevölkerung, der sich täglich in Streiks und Demonstrationen im gesamten Land manifestiert.


Auswirkungen des Arabischen Frühlings mit Skepsis beurteilt

Analysten fragen sich, ob die Protestwelle in der Region, die Anfang vergangenen Jahres losbrach, in einem Land, das dem Widerstand einen Nährboden bietet, nicht doch ihre Wirkung verfehlt hat.

Die Selbstverbrennungen, mit denen Regimegegner in Tunesien 2011 die Massenproteste in arabischen Ländern ausgelöst hatten, fanden auch in Algerien statt. Oppositionsparteien, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und Blogger schlossen sich in der Bewegung Nationale Koordination für Demokratie und Wandel (NCDC) zusammen, die jeden Samstag Kundgebungen organisierte.

Die Demonstranten hätten sich unter dem Motto 'Weg mit dem System' versammelt, sagte Nadjet Rahmani, die an den Protesten teilnahm. Es ging nicht nur darum, Präsident Abdelaziz Bouteflika loszuwerden, erklärte sie. "Die Leute wussten, dass auch ohne den Präsidenten das korrupte System fortbestehen würde."

Die Revolte erlitt einen Rückschlag, als 30.000 Polizisten am 1. Mai 2011 brutal gegen Demonstranten vorgingen und zahlreiche Menschen festnahmen. Manche Beobachter vermuten, dass der Arabische Frühling in Algerien nicht wegen des raschen Einschreitens der Regierung gescheitert ist, sondern weil die Bevölkerung immer noch durch die Erinnerungen an die Jahre des Terrors traumatisiert ist.

"Unsere Revolution fand bereits 1988 statt. Obwohl wir von einer 'Couscous-Revolte' sprachen, da Lebensmittel damals sehr knapp waren, handelte es sich auch um eine Revolution für soziale Gerechtigkeit, gegen das Einparteiensystem und für Demokratie", sagte Cherifa Kheddar, die Vorsitzende der Organisation 'Djazairouna' (Unser Algerien), die Familien von Terroropfern unterstützt.

Kheddar erinnerte daran, dass die Proteste von Gewerkschaftsvertretern und anderen Aktivisten organisiert worden waren, die allesamt ins Gefängnis geworfen und gefoltert wurden. Daraufhin besetzten die Islamisten die Straßen, wie dies auch später bei den Aufständen in Tunesien und Ägypten der Fall war.

Bei den Wahlen nach den Unruhen 1988 zeichnete sich ein Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) ab. Die algerische Armee genoss damals in der Bevölkerung starken Rückhalt, auch bei Frauengruppen, die allen Grund hatten, die Folgen eines Wahlsiegs der Islamisten zu fürchten. Nachdem das Militär die Wahlen abbrach, folgten blutige Unruhen, in deren Verlauf etwa 200.000 Menschen getötet wurden.

Für die massiven Menschenrechtsverletzungen wurden damals sowohl die Armee als auch die radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) verantwortlich gemacht. In dieser dunklen Zeit 'verschwanden' rund 40.000 Algerier. 1992 gewann die FIS die Parlamentswahlen, wurde aber noch im gleichen Jahr von der Macht geputscht. Danach bedrohten und töteten die Islamisten weiterhin alle jene, die sie für Ungläubige hielten - Soldaten, Politiker, Frauen, Intellektuelle, Lehrer und Friseure.

Der Terror kam erst zum Erliegen, als Bouteflika ein nationales Versöhnungsprogramm ankündigte, das jedoch von einer strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen absah. Von der Gewalt zermürbt, unterstützte die Mehrheit der Algerier den Vorstoß des Präsidenten, der in den kommenden Jahren das Entstehen einer größeren Oppositionsbewegung verhinderte.

Die Spannungen, die dem Land vor einem Jahrzehnt zusetzten, sind aber auch heute noch deutlich spürbar. Islamisten und weltlich ausgerichtete Algerier leben in latenter Feindschaft zusammen. Die alten Konflikte werden durch Probleme wie Korruption, niedrige Löhne, schlechte Wohnbedingungen und hohe Arbeitslosigkeit vor allem bei Jugendlichen verschärft.


Erinnerung an Terror lähmt den Widerstand

"Die Menschen sind noch immer durch die Ereignisse der neunziger Jahre traumatisiert. Eine Rückkehr zu diesen Zuständen wollen sie nicht riskieren und daher nicht auf den Straßen demonstrieren", sagte die Lehrerin Karima Moali.

Die algerische Regierung setzt immer noch verdeckte Taktiken zur Abwehr des Volkszorns ein, vor allem dann, wenn er durch die Unzufriedenheit über die Wirtschaftslage geschürt wird.

Dabei verzeichnet das Land hohe Einnahmen aus dem Erdölgeschäft. Schätzungen zufolge werden die Deviseneinkünfte des Staates bis Ende des Jahres auf etwa 205 Milliarden US-Dollar steigen. Zurzeit produziert Algerien täglich 1,2 Millionen Barrel Öl. Wie Energieminister Youcef Yousfi am 7. Juni auf einem Treffen in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur sagte, könnte sein Land bis zu 1,4 Millionen Barrel am Tag fördern und diese Menge binnen weniger Monate auf 1,5 Millionen Barrel steigern.

Die Regierung war daher in der Lage, genügend finanzielle Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Wohnungsbau und soziale Dienstleistungen bereitzustellen, um weitere soziale Proteste zu verhindern. Staatliche Unternehmen haben so viele neue Jobs geschaffen, dass die Erwerbslosenquote laut offiziellen Statistiken von 11,3 Prozent 2008 auf 9,8 Prozent gesenkt werden konnte. Die Jugendarbeitslosigkeit hält sich jedoch beharrlich bei 20 Prozent.

Kurz vor den Wahlen am 10. Mai stellte die Regierung außerdem neue Zuschüsse für den Wohnungssektor bereit und erhöhte die Gehälter in der öffentlichen Verwaltung. "Von einer gerechten Aufteilung der Öleinnahmen kann zwar keine Rede sein", sagte der Menschenrechtsaktivist Djamal Hammoune. "Immerhin wird das Staatsvermögen dazu genutzt, eine Verschlechterung der Lage zu verhindern, die eine Revolution oder Revolte auslösen könnte." (Ende/IPS/ck/2012)


Link:

http://www.ipsnews.net/2012/06/what-is-stopping-the-algerian-spring/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2012