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AFRIKA/1201: Somalia - Soziale Ursachen der Piraterie (inamo)


inamo Heft 71 - Berichte & Analysen - Herbst 2012
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die sozialen Ursachen der Piraterie

Von Ralph Klein



Der Artikel behandelt die Ursachen der Piraterie: Dazu gehören, die dramatische Verarmung der Bevölkerung (zwei Kriege ruinierten die Ökonomie Somalias), die gigantische Staatsverschuldung rief Anfang der 1980er Jahre den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank auf den Plan. Der IWF unterwarf Somalia einem rigiden Strukturanpassungsprogramm mit den üblichen Zutaten: Privatisierung, Abwertung der Landeswährung, Zerschlagung des öffentlichen Sektors usw. Hinzu kam die Ausplünderung der Fischgründe, die im Visier waren von asiatischen und europäischen Raubfischern sowie dem Versenken von Giftmüll aller Art.


Wenn man über Somalia spricht, ist ein Territorium gemeint, auf dem heute ca. 15 Staaten bestehen. Um 1880 wurde das Territorium, auf dem Menschen leben, die sich selbst als Somalis bezeichnen, von Äthiopien, Frankreich, England und Italien kolonisiert. England gab als Grund für die Kolonialisierung an, dass es dadurch in der Lage sei, die Gewässer vor Piraten schützen zu können, denn seit der Eröffnung des Suez-Kanals 1869 nahmen die Schiffe der Britischen Ostindien-Kompanie den Weg durch die neue Wasserstraße und boten Piraten eine reiche Beute. 1960 wurden Britisch-Somalia (Somaliland) und Italienisch-Somalia (Puntland) unabhängig und schlossen sich zu einem neuen Staat "Somalia" zusammen. Doch konnte dieser Zentralstaat gesellschaftlich nie durchgesetzt werden, weshalb auch gesagt wird, Somalia als Zentralstaat sei nichts als ein kolonialer Mythos und ein Wunschgebilde westlicher Politik. Im übrigen ist es geradezu ein Alleinstellungsmerkmal der somalischen Gesellschaft, dass sie es seit jeher verstand, eine zentralisierte Herrschaft auf somalischem Territorium zu verhindern. Herrschaft wurde ausschließlich im lokalen oder regionalen Kontext akzeptiert - solange sie ihrer Aufgabe, wie die Bevölkerung sie definierte, gerecht wurde, z. B. in Bezug auf die Regelung des Zugangs zu Ressourcen wie Wasser und Weideland oder bei der Beilegung von Konflikten. Somaliland erklärte sich im übrigen 1991 für unabhängig und Puntland 1998 für autonom.

Die Bildung immer neuer regionaler Staaten während der vergangenen Jahre ging oft auf die somalische Diaspora zurück, die darüber versuchte, eine stärkere Position im Kampf um Einfluss und Ressourcen zu ergattern. Ölbohrungen in mehreren Gebieten Nord-Somalias fachten diesen Kampf an. In der Staatenbildung eine Klanisierung politischer oder sozialer Konflikte zu sehen, wäre nicht zutreffend. Es gibt in Somalia keine Identität von Staatsgebiet und Clan-Zugehörigkeit, auch wenn in bestimmten Regionen die Angehörigen bestimmter Klans in der Mehrzahl sind.

Somalia ist knapp doppelt so groß wie die BRD; seine Küste bietet mit einer Länge von 3300 km sehr viele Häfen und versteckte Buchten. Somalia ist ein dünn besiedeltes Halbwüsten-Land aus rot und gelb gefärbten Steinwüsten und kargen Savannenlandschaften. Die maritimen Ebenen und die Mittelgebirge an ihren Rändern werden wegen der dort herrschenden Hitze von den Somalis "the burnt land", das verbrannte Land, genannt. Fast das einzige, was dort gedeiht, sind Weihrauch- und Myrrhe-Bäume. Außer der nomadischen Vieh-Produktion ist nur wenig landwirtschaftliche Produktion möglich, zumal sich lediglich 13 Prozent der Fläche Somalias für die Landwirtschaft eignen.

99 Prozent der Somalis sind Sunniten, und 96 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Somalis. Die übrigen sind Nachfahren ehemaliger Kiswahili sprechender Sklaven oder von Arabern oder gehören sonstigen Minderheiten an. Von den geschätzt acht bis zehn Millionen Menschen in Somalia, genauer weiß man es nicht, sind ca. 59 Prozent Nomaden, ca. 25 Prozent Bauern, die übrigen leben überwiegend in den urbanen Gebieten und sind Handwerker, arbeiten im Dienstleistungsbereich oder in der Verwaltung oder haben sonst irgendwelche Berufe. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer liegt in Somalia bei 50 und für Frauen bei 53 Jahren, das Durchschnittsalter bei 18. Etwa die Hälfte der Bevölkerung hungert oder ist am Verhungern. Geschätzte 1,3 bis 2 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge, fast alle aus den Gebieten Zentral- und Süd-Somalias. Eine Industrie gibt es so gut wie nicht. Es werden große Öl-Vorkommen vermutet, weshalb die kanadische Aktiengesellschaft Africa Oil Company im Herbst 2011 mit Ölbohrungen in Puntland begann. Die vier großen US-amerikanischen Öl-Gesellschaften Conoco, Amoco, Chevron und Phillips sicherten sich bereits vor über 20 Jahren Lizenzen zur Ölförderung und werden in dem Augenblick mit der Ausbeutung der Ölvorkommen beginnen, in dem Somalia hinreichend befriedet sein wird. Zumindest Conoco wartete aber nicht nur passiv ab, sondern spielte mittels seines Büros in Mogadischu eine aktive Rolle in der angeblich humanitär motivierten UN-Politik der 1990er Jahre. Andere Bodenschätze wie Eisenerz, Seltene Erden, Uran, Zinn, Bauxit, Kupfer und Erdgas wurden bereits gefunden, werden aber noch nicht ausgebeutet.

In Somalia besteht keine entwickelte kapitalistische Ökonomie. Lediglich in den urbanen Gebieten gibt es kapitalistische Inseln. Dennoch gibt es zwei Wirtschaftszweige, die nach kapitalistischen Grundsätzen arbeiten und in ganz Somalia florieren: das Mobil-Telefongeschäft und das Hawala-Banking. Somalia hat das am besten ausgebaute Mobil-Telefonnetz Afrikas, die Quote der Handys je 1000 Einwohner_innen ist höher als z. B. in Ägypten. Telefonnetz und Hawala-Banking sind im Grunde technische Repräsentationen der weltweiten somalischen Diaspora.


Ursachen der Piraterie

Eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Piraterie ist die dramatische Verarmung der Bevölkerung seit den 1980er Jahren. Unter der Präsidentschaft von Siyad Barre stürzte das Land in den somalisch-kenianischen Krieg (1963 bis 1967) und 1977/78 in den Ogaden-Krieg mit Äthiopien. Diese Kriege ruinierten die Ökonomie Somalias, das bis dahin trotz immer wieder eintretender Dürreperioden niemals auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen gewesen war.

Die Aufrüstung des Militärs und der Ausbau des Repressionsapparates, mit dem Barre im Innern Krieg gegen die somalische Opposition führte, verschlangen große Summen Geldes. Die dadurch verursachte gigantische Staatsverschuldung rief Anfang der 1980er Jahre den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank auf den Plan. Der IWF unterwarf Somalia einem rigiden Strukturanpassungsprogramm mit den üblichen Zutaten: Privatisierung, Abwertung der Landeswährung, Zerschlagung des öffentlichen Sektors, Beseitigung von Export-Hindernissen für westliche Staaten. Beispielsweise wurde in den 1980er Jahren verstärkt amerikanischer Weizen nach Somalia exportiert, was den heimischen Markt für Sorghum und Mais zerstörte; die Abwertung der Währung vernichtete die Kaufkraft der städtischen Gesellschaft und verteuerte generell die nunmehr importierten Lebensmittel. Auf Kosten des Anbaus von Lebensmitteln für die eigene Subsistenz erzwang das IWF-Programm die Ausdehnung der Produktion von cash crops wie Bananen, Ölsaaten und Baumwolle, um mit den Exporterlösen die Staatsschulen bezahlen zu können. Als geradezu tödlich erwies sich die Privatisierung der tierärztlichen Versorgung. Die nomadischen Viehzüchter waren gezwungen, für Impfungen usw. nunmehr statt einer geringen Gebühr an den Staat kostendeckende Preise eines privaten Dienstleisters zu bezahlen. Da außerdem der Zugang zu Wasser kommerzialisiert und der Schutz von Wasser- und Weide-Ressourcen abgelehnt wurde, starb die Hälfte des Viehbestands und damit ungezählte Menschen der Viehhalter-Gesellschaft. Die Weltbank beabsichtigte, die Nomaden zum Verschwinden zu bringen, weil sie ihrer Meinung nach die Umwelt schädigten. Innerhalb weniger Jahre zerstörten IWF und Weltbank die landwirtschaftliche Subsistenz-Infrastruktur weitgehend, stattdessen wurde u.a. mehr und mehr Lebensmittelhilfe an die somalische Regierung geleistet. Diese verkaufte die gespendeten Lebensmittel auf den lokalen Märkten, was zur wichtigsten Einnahmequelle des Staates wurde - und außerdem die fragile Tausch-Ökonomie zwischen Nomaden und Kleinbauern endgültig zerstörte. Bis Ende der 1980er Jahre hatte der Zangenangriff von Strukturanpassungsprogramm und Nahrungsmittelhilfe große Teile der Gesellschaft dem Verhungern preis gegeben. In solch einer desolaten Situation konnte das Ausbleiben von Regen zwar den letzten Anstoß zum Ausbruch einer Hungersnot geben und die sozialen Folgen einer Dürre verstärken, aber die Ursachen sind politischer Art, was uneingeschränkt auch für die Dürre samt nachfolgender Hungersnot im vergangenen Jahr gilt.


Die regionale Tradition der Shifta

Zu ersten piratischen Akten kam es während des Kampfes gegen Siyad Barre 1990/91. Sie waren nicht ökonomisch, sondern politisch-militärisch motiviert. 2007 begann die bis heute andauernde Phase der Piraterie vor Somalia. Viele Piraten betonen, dass es ursprünglich darum ging, die reichen somalischen Fischgründe gegen europäische und asiatische Raubfischer und vor dem Versenken von Giftmüll aller Art zu schützen. Jugendliche aus den Fischerei-Communities, Angehörige von Milizen und gut ausgebildete Geistesarbeiter wie Dolmetscher und Rechtsanwälte schlossen sich zu piratischen Crews zusammen und gingen gegen die Raubfischer zu Werke. Der überwältigende ökonomische Erfolg rief Nachahmer auf den Plan, und der Wunsch, sich einen Teil des Reichtums, der auf den Schifffahrts-Straßen vor Somalia vorbei zog, anzueignen, wurde zur vorherrschenden Motivation.

Die heutigen Piraten stehen in der regionalen Tradition der "shifta" des 19. Jahrhunderts. "Shifta" bedeutet Bandit, Rebell, outlaw, Gangster oder Revolutionär - je nach Standpunkt. Ein shifta zu werden, war eine sozial akzeptierte Handlungsweise, mit der Missstände in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt werden konnten, um auf diese Weise Unterstützung und Zustimmung für den Kampf gegen Autoritäten zu organisieren, die die üblichen Rechte verletzt oder es versäumt hatten, Gerechtigkeit walten zu lassen. Durch ihren rebellischen Kampf gegen die Herrschaft wurden shifta zu Champions der Unterdrückten und manchmal zu Repräsentanten der Armen, die die Reichen beraubten und die Armen beschenkten. Sie wurden als banditische Helden und Versorger des Sozialverbands gesehen, die die traditionelle soziale Ordnung aufrecht erhielten. Ein shifta zu sein, besitzt einen gewissen Rebellen-Mythos sowie einen Aspekt skrupellosen patriarchalischen Gangstertums. Dasselbe gilt für die heutigen Piraten, die diese Ianus-Köpfigkeit mit den historischen Piraten der Karibik gemeinsam haben.

Die ersten somalischen Piraten-Shifta der Gegenwart handelten oft als spontane Kollektive - man suchte sich ein paar unternehmungslustige Freunde, besorgte sich ein Skiff mit leistungsstarkem Außenbordmotor, Gewehre gehörten sowieso zur männlichen Grundausstattung, schließlich wurden noch ein paar Kanister Benzin, Qaat und Lebensmittel eingepackt und los ging's. Je mehr Nachahmer es gab, umso organisierter wurden die piratischen Unternehmungen. Nach Auskunft des Piraten Hasan Shukri wurde 2009 in Xharadhere jeden Morgen ein Piraten-Plenum abgehalten, auf dem Berichte über die letzten Geschehnisse auf dem Meer und alle möglichen Informationen ausgetauscht wurden. Die Versammlung beschloss, was zu tun sei: Verstärkung aussenden, ein gekapertes Schiff näher zur Küste bringen oder was auch immer. Die Börse scheint inzwischen wieder geschlossen zu sein.

Die Piraten-Shifta bilden eine paramilitärische Bruderschaft mit einem strengen und komplexen System von Regeln und Strafen. Sie sind als Multitude Dutzender heterogener kleiner Zellen mit exzellentem Kommunikationssystem entlang der somalischen Küste organisiert und an ein globales informelles Netzwerk somalischer Emigranten angeschlossen. Manche Piraten-Crews sind bestens organisiert, handeln geradezu professionell, andere sind eher Spontis, die mal eben mit ein paar Freunden und einem Skiff losziehen, um etwas Beute zu machen. Manche Crews sind hierarchisch organisiert, andere wieder kollektiv, einige sind clannish, andere multi-clannish, manche sind auf Dauer angelegt, wieder andere arbeiten nur einmal zusammen. Jede Verallgemeinerung ist fehl am Platze, jede Crew ist anders organisiert, jede Gruppe und jeder Pirat hat andere Motive.


Rebellen oder ein Stück vom Kuchen?

Es gibt allerdings Anzeichen, dass es eine Professionalisierung geben könnte, das heißt, dass es immer weniger spontane, technisch wenig aufwändige "pirate action groups" gibt und dass stattdessen gut vorbereitete, technisch versierte und eher nach dem Vorbild eines "normalen" Unternehmens organisierte Crews auf Kaperfahrt gehen. Weil aber der Monsun noch andauert, wird erst die im September beginnende neue Piratensaison weitere Erkenntnisse zulassen. Eins lässt sich jedoch mit Gewissheit sagen: Die Piraterie ist beileibe keine Unternehmung, die von irgendwelchen Hintermännern finanziert und gesteuert wird. Sie ist eine soziale Praxis, die auf unerträglich schlechte Lebensbedingungen reagiert und die auf piratischer Tradition, einer tief verankerten Kultur der Plünderung und auf ihrer Einbindung in die sozialen Strukturen der communities beruht. Ein Krisen-Manager, der bei Schiffsentführungen zwischen Piraten und Versicherungen vermittelt, brachte es auf den Punkt, als er in einem Interview gefragt wurde, ob es sich bei der Piraterie vor Somalia nicht schlicht um Organisierte Kriminalität handle: "Ich denke, dass die Piraten ein unorganisierter Haufen sind, aber sie haben Kontakte - Freunde, Familien, wer auch immer - und zwar auf der ganzen Welt. Und diese nehmen sie in Anspruch, aber ist kein mafiöses Netzwerk Organisierter Kriminalität."

Die Piraterie gilt vielerorts in Somalia als sozial akzeptierte Lohnarbeit, deren Bedingungen zuweilen sogar in einer Art Arbeitskontrakt schriftlich festgelegt werden. Drei, vier Monate lang wollen die Piraten auf Beutezug gehen, eine gute Einnahme von mindestens 50.000 Dollar erzielen und dann in ihr normales Leben zurückkehren. Für sie öffnet sich am Horizont des Ozeans dank der Piraterie die Aussicht auf ein schöneres, ein materiell abgesichertes Leben, mit einem Lebensstandard, den sie auf andere Weise niemals erreichen könnten. Dementsprechend hoch ist die Fluktuation innerhalb der Piraten-Crews. Angeblich sollen jährlich 200 bis 400 Piraten neu in das Geschäft einsteigen. Auf einer Konferenz des südafrikanischen Institute for Security Studies in Pretoria wurde von geschätzten 5000 Piraten gesprochen, die sich 2011 dieser Art des Einkommenserwerbs widmeten. Andere Schätzungen gehen von nur 1500 Piraten aus. Im Prinzip scheinen sich die Hoffnungen der Piraten in den vergangenen Jahren erfüllt zu haben, denn im Schnitt erzielten sie bis zu 79.000 Dollar im Jahr, bei einem Durchschnittseinkommen, das in Somalia sonst bei 500 Dollar liegt. Das "Geschäftsjahr" 2012 wird vermutlich schlechter ausfallen, denn vor allem die Tatsache, dass auf den Handelsschiffen seit einigen Monaten bewaffnete private Söldner mitfahren, hat die Zahl der erfolgreichen Kaperungen deutlich sinken lassen. Der Monat Juli 2012 war der erste Monat seit fünf Jahren ohne piratische Attacken vor Somalia.

Viele Piraten sehen ihre Arbeit als notgedrungene und bloß vorübergehende Alternative zur Arbeit als Fischer. Andere kommen aus den Städten des Landes an die Küste, um Pirat zu werden. Die piratische Arbeit wird von manchen als Subsistenz-Piraterie, als Feierabend-Piraterie oder als Piraterie auf Kommission nach dem Motto "no prey, no pay" betrieben. Der Monsun macht sie zur Saisonarbeit. Manche wechseln zwischen dem Beruf eines Piraten, eines Polizisten oder eines Handelsmatrosen hin und her oder stocken ihr übliches Einkommen mit etwas Piraterie auf. Sie lässt sich als prekäre Lohnarbeit charakterisieren, die hochgradig arbeitsteilig organisiert ist. Interessanterweise bewerten westliche Analysten und Piraten-Bekämpfer die Piraterie nicht als Lohnarbeit, sondern als unternehmerische Tätigkeit - ein Hinweis darauf, dass die Piraten-Crews nicht notwendigerweise egalitär organisiert sind. Die somalischen Piraten sind keine antikapitalistischen Rebellen, sie wollen schlicht und einfach ein Stück vom Kuchen abhaben und halten sich dabei an gängige ökonomische Prinzipien: Kosten und Risiken minimieren, effizient handeln, Gewinn maximieren.

Welche Folgen die Piraterie für die Sozialstruktur in den Piratengebieten hat, ist kaum abzusehen. Tatsächlich lösten die aus den Schatzkisten reicher globaler Versicherungsunternehmen in das verhungernde Somalia transferierten Lösegelder einen Wirtschafts-Boom in den Regionen um Xharadhere (Mudug), Hobyo (Galmudug), Eyl, Garoowe, Boosaaso (Puntland) und anderswo aus. Eine Reihe von Ortschaften lebt inzwischen von einer auf der Piraterie basierenden Ökonomie. Das piratisierte Geld wird mit vollen Händen verprasst, gemeinsam mit dem Sozialverband des Sub-Clans, des Geschlechts, der Familie und dem Freundeskreis. Händler arbeiten mit den Piraten zusammen, es gibt neue Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten auch für Nicht-Piraten. Manche Leute beten für die Piraten. Piraten besitzen Prominenten-Status, genießen ein süßes Leben, stehen nie vor 12 Uhr auf, weil dann erst eine frische Qaat-Lieferung eintrifft, kaufen große Mengen von Lebensmitteln für die Familie, erwerben Land und bauen neue Häuser, fahren die amerikanische SUVs, amüsieren sich mit den neuesten TV-Flachbildschirmen, heiraten die attraktivsten Frauen - und davon gleich zwei oder drei. Anab Jama, Mutter zweier Kinder, ließ sich sogar scheiden, um einen Piraten zu heiraten, der in Garcad, "arbeitet", wie sie sagte. Manche Piraten gehen mit Anfang 20 in Rente, andere finanzieren das Auslandsstudium ihrer Kinder mit dem piratisierten Geld oder nutzen es, um ihre Auswanderung zu finanzieren. Man könnte auch sagen: Sie verschaffen sich den Lebensstandard der westlichen Mittelschicht und verwirklichen den Traum vieler weißer Männer.

Andere Folgen der Piraterie sind eher moralischer Art - oft wird den Piraten ein unislamischer Lebenswandel vorgeworfen, der die religiöse Fundierung der somalischen Gesellschaft untergrabe. Negative finanzielle Auswirkungen könnten örtliche Preiserhöhungen für bestimmte Güter des alltäglichen Bedarfs sein, weil die Piraten bereit sind, jeden Preis zu zahlen. Andererseits haben sich die Einkommensverhältnisse der Fischer gebessert: zum einen werden die Raubfischer von der Küste ferngehalten, wodurch sich die Fischbestände erholten und die Fischer wieder mehr fangen können. Zum andern erlaubt die gestiegene Kaufkraft in den piratischen Gebieten einen höheren Fischkonsum.


Robin Hood von Somalia

Zumindest einige Piraten-Crews aus dem Warsangeli-Clan vergesellschaften einen großen Teil ihrer Einnahmen als kollektive Infrastruktur und sind dadurch zu regelrechten Robin-Hood-Piraten geworden. Sie, deren Clan-Name auf Deutsch in etwa "Die Überbringer guter Nachrichten" bedeutet, bringen den Armen tatsächlich nicht nur gute Nachrichten, sondern auch gute Dinge. Diese Piraten geben an, sie würden das Lösegeld zum Aufbau von Infrastruktur im Bereich von Gesundheit und Sicherheit einsetzen und an lokale karitative Einrichtungen geben. Manche communities bauen eine Schule von dem Geld oder eine Moschee oder schaffen sich einen Diesel-Generator an, so dass erstmalig elektrischer Strom zur Verfügung steht. In anderen communities erhielten Menschen mit Behinderung und Arme Teile des piratisierten Geldes. "Das Geld, das wir von den Schiffen einsammeln, ist kein Einkommen, das in die Taschen einer einzelnen Person fließt", stellt ein Pirat klar, wobei er Wert darauf legt, dass das Piratisieren kein Raub, sondern ein "Einsammeln" sei. Berühmtestes Beispiel für einen banditischen Helden ist der Pirat Ali Horhor, ein ehemaliger Fischer, der von somalischen Medien auch der Robin Hood von Somalia genannt wurde. In einem somalischen Song heißt es: "Wer sonst denkt an unsere Mühen, als Somalis, außer den Piraten?" Die 29-jährige Anab Farah, die diesen Song komponierte, erklärte: "In unseren Augen ist die Piraterie ein Weg zur Entwicklung und nicht ein Verbrechen. Wenn uns die Piraten eine Überlebensmöglichkeit bieten - warum nicht?"

Die somalischen Piraten bilden keine neue Gesellschaftsform und schon gar keine Gegengesellschaft wie die Piraten des sogenannten Goldenen Zeitalters der Piraterie (circa 1690 bis 1725). Sie sind und bleiben Produkt und Teil der somalischen clanbasierten Gesellschaft, sie leben mit und in ihr und können ohne sie nicht existieren. Die Piraten leben im Hier und Jetzt, sie haben keine politischen oder gesellschaftlichen Visionen. Sie nutzen den Augenblick. Deswegen ist es sinnlos, zu fragen, was sie tun werden, falls es den Piratenjägern gelingen sollte, sie zu besiegen. Aber es ist ebenso sinnlos, von "siegen" zu sprechen. Die somalischen Piraten sind unbesiegbar, denn sie würden einfach aufhören, zu piratisieren. Sie würden weiterhin in und mit ihren Sozialverbänden leben, ihre Handlungsmöglichkeiten sorgfältig ausloten, vielleicht wieder fischen, vielleicht Straßenräuber werden, oder LKW-Fahrer, oder zurück zu den Kamelherden gehen, oder emigrieren oder oder oder. Man darf sicher sein, dass sie die beste ihrer Handlungsalternativen wählen und sich dabei keinen Deut um irgendeinen Staat kümmern würden, sei es ein somalischer oder sonst einer.


Ralph Klein, freier Autor und Historiker.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 71, Herbst 2012

Gastkommentar:
- Somalia am Scheideweg? Von Markus V. Hoehne

Somalia:
- Sozialstruktur und Konfliktverhalten unter Somali. Von Thomas Zitelmann
- Jenseits des Staates. Von Markus V. Hoehne
- Somalia im Visier externer Mächte. Von Volker Matthies
- Al-Shabaab am Wendepunkt? Von Roland Marchal
- Drogen und Krieg: Die Bedeutung von Qaat im somalischen Kriegsgeschehen. Von Jutta Bakonyi
- Zwischen Marginalisierung und Integration - somalische Flüchtlinge in Kenia. Von Tabea Scharrer
- Soziale Ursachen der Piraterie. Von Ralph Klein
- Wechselwirkung: Herrschaft und private Sicherheit. Von Stig Jarle Hansen und Stein M. Wilmann
- Glorreiche Halunken oder Abgehängte der Welt? Der Hamburger Piratenprozess. Von Anke Schwarzer

Ägypten:
- Ägyptens zweite Präsidentenwahl. Von Florian Kohstall

Iran:
- Der "Schiitische Halbmond": (K)eine reale Bedrohung sunnitischer Macht?! Von Henning Schmidt

Israel/Palästina:
- Ein Immigrant in seinem eigenen Land. Von Sami Michael
- Der Antisemitismus, über den man nicht berichtet. Von Amira Hass
- Gegen den Prawer-Plan. Von Adalah

Libanon:
- Präzedenzfall STL. Von Jörg Tiedjen
- Hizbullah ohne Syrien. Von As'ad Abu Khalil

Syrien:
- Flucht aus Syrien. Von Susanne Schmelter
- Syrische Opposition: Who's doing the talking? Von Charlie Skelton
- Die Zerstörung Syriens. Von Patrick Seale
- FSA - Wie man die Unterstützung verliert. Von Rita

Sudan:
- Sudan und Südsudan: Vereint in der Trennung. Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar:
- Ein Megaprojekt für Ostafrika - "Das Erdöl fließt nun mal nach Norden". Von Ruedi Küng

Zeitensprung:
- 1. Juli 2009: Der Mord an Marwa el-Sherbiny in Dresden. Von Dagmar Schatz

Kritik & Meinung:
- Alexander Flores zu Thomas Bauer: Kultur der Ambiguität | Thomas Ruttig zu Afghanistan-Literatur

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 71, Jahrgang 18, Herbst 2012, Seite 35 - 38
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2013