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AFRIKA/1317: Letzte Etappe der Kolonialzeit - Namibia wurde am 21. März 1999 unabhängig (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 146/Dezember 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Letzte Etappe der Kolonialzeit

Mit der Unabhängigkeit Namibias endete 1990 ein Zeitalter

von Jakob Zollmann


Kurz gefasst: Nach langen Kämpfen wurde Namibia, Afrikas letzte Kolonie, am 21. März 1990 von Südafrika unabhängig. Nur das Ende des Kalten Krieges und der Niedergang kommunistischer Herrschaftsideologie machten dies möglich. Die namibische Verfassung von 1990 erhielt international viel Beifall auf Grund des hohen Schutzstandards für die Grundrechte und der klar verankerten Gewaltenteilung. Die 2014 von Namibias herrschender Partei mit Hilfe ihrer Zweidrittelmehrheit durchgesetzten Verfassungsänderungen stellen jedoch die demokratischen Errungenschaften der jüngsten Vergangenheit in Frage.


"Born free" nennen sich jene, die nach 1989/90 in Namibia geboren sind. Auch im südlichen Afrika markieren diese Jahre eine Zeitenwende: Afrikas letzte Kolonie wurde in die Unabhängigkeit entlassen.

Das ehemalige Südwestafrika war bis 1915 deutsche Kolonie gewesen. Im Ersten Weltkrieg von Südafrika erobert, stellte der Völkerbund die Kolonie 1920 untersüdafrikanische Mandatsherrschaft. Gegen die Pläne Südafrikas, das Mandatsgebiet als "fünfte Provinz" zu inkorporieren, richteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Proteste. 1966 entzogen die Vereinten Nationen Südafrika das "Treuhandmandat" und die südafrikanische Herrschaft galt fortan als illegal. Zeitgleich begann in Namibia der bewaffnete Unabhängigkeitskampf. Die Unabhängigkeit Namibias wurde am 21. März 1990 in Windhoeks Fußballstadiongefeiert. Neben Südafrikas Präsidenten Frederik Willem de Klerk war auch der erst kurz zuvor aus 28-jähriger Haft entlassene Anti-Apartheid-Kämpfer Nelson Mandela anwesend, als die südafrikanische Flagge eingeholt und die namibische gehisst wurde. Javier Pérez de Cuéllar, Generalsekretär der Vereinten Nationen, stand der Veranstaltung als Master of Ceremonies vor.

Der vom Präsidenten des neuen Namibischen Verfassungsgerichts, Hans Joachim Berker, vereidigte erste Staatspräsident Namibias, Sam Nujoma (*1928), betonte in seiner Ansprache den hundertjährigen Kampf seines Volkes um Selbstbestimmung, die internationale Unterstützung dafür und das staatsmännische Handeln seines (neben ihm stehenden) südafrikanischen Amtskollegen. Unter den wachsamen Augen aller maßgeblichen Parteien des Kalten Krieges, vor allem aber der Vereinten Nationen, war ein neuer Staat entstanden.


Der Kalte Krieg in Afrika

Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit Namibias waren vor allem im Kontext des Ost-West-Konflikts geführt worden. Die von den Vereinten Nationen seit 1966 als einzige legitime Vertreterin des namibischen Volkes anerkannte Befreiungsbewegung SWAPO (South-West Africa People's Organisation) stellte sich unmissverständlich ins sozialistische Lager und erhielt von dort logistische und militärische Unterstützung. Ihre Haltung zur Gewaltenteilung, zu einem Mehrparteiensystem und zu individuellen Freiheitsrechten richtete sich daher an den Verfassungsrealitäten der Ostblockstaaten aus.

Doch die ideologischen und bald auch politischen Umwälzungen der späten 1980er Jahre bewirkten auch hier einen Wandel - der allerdings erst aus dem internationalen Kontext verständlich wird. Der Kampf um Namibias Unabhängigkeit wurde nicht nur am Verhandlungstisch, sondern vorrangig auf den Schlachtfeldern des angolanischen Bürgerkriegs ausgetragen - einem der heißesten Kriege des Kalten Krieges, dem rund 500.000 Menschen zum Opfer fielen. Hier standen sich gegenüber: die Armee der kommunistischen angolanischen Regierung des Movimento Popular de Libertação de Angola (MPLA), seit der Unabhängigkeit von Portugal 1975 unterstützt von einem bis zu 50.000 Mann starken kubanischen Expeditionsheer, sowjetischen Beratern sowie der SWAPO; die Truppen der pro-westlichen Oppositionsbewegungen União Nacional para a Independência Total de Angola (UNITA), unterstützt durch bis zu 4.000 südafrikanische Soldaten.

Den zermürbenden Buschkrieg, der in den 1980er Jahren auch den Norden Namibias in Mitleidenschaft zog und zu massiven Flüchtlingsbewegungen führte, konnte jedoch keine Seite endgültig für sich entscheiden. 1988 waren die Konfliktparteien so geschwächt, dass sie, mit Wohlwollen der USA und der Sowjetunion, direkten Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zustimmten. Für die ost-westliche Entspannungspolitik war die Beilegung regionaler Konflikte entscheidend. So lag es im Interesse aller Beteiligten, nicht nur den Krieg in Angola zu beenden, sondern auch die Frage der Unabhängigkeit Namibias anzugehen.

Südafrika hatte die Präsenz seiner Truppen in Namibia immer wieder unter Verweis auf die kubanischen Truppen in Angola und die Gefahr eines um sich greifenden marxistischen Revolutionsexports gerechtfertigt. Nun aber kam es im Dezember 1988 trotz der Anwesenheit der kubanischen Truppen zu einem Verhandlungserfolg. "Die Freiheit für Namibia, das Ende des Angola-Kriegs und der Abzug der Kubaner wurden zu einem Paket verschnürt", wie es 1989 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel hieß. Zu diesem Zeitpunkt hatten die letzten südafrikanischen Truppen Angola bereits verlassen.

Doch just in dem historischen Moment, in dem nach Portugiesisch-Angola (1975) und Rhodesien (1980) mit Namibia auch die bis auf Südafrika letzte Bastion weißer Herrschaft ("the last domino" lautete der Titel einer südafrikanischen Dokumentation) zu fallen und das südliche Afrika von kommunistischen Regimes übernommen zu werden drohte, geriet der gesamte sowjetische Block mehr und mehr ins Wanken. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf die Kompromissbereitschaft der Südafrikaner, die sich in den Jahrzehnten zuvor von den Rückzugsforderungen der Vereinten Nationen wenig beeindruckt gezeigt hatten. Auch SWAPO-Politiker sahen ein, dass ihre an marxistischen Vorgaben geschulten Zukunftspläne für ein unabhängiges Namibia sich nicht länger umsetzen lassen würden.


Das Ringen um eine moderne Verfassung

Das Jahr 1989 steht für einen mentalen Wandel in Namibia. Aus den ersten freien Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung ging im November die SWAPO mit 57 Prozent als deutliche Wahlsiegerin hervor. Dennoch war die formal noch marxistische Befreiungsbewegung sich ideologisch ihrer Sache nicht mehr sicher: In die Verhandlungen um eine Verfassung brachte die SWAPO ihre älteren Entwürfe, die stark an den Verfassungen der DDR und der Tschechoslowakei angelehnt waren, nicht mehr ein. Statt ihrer wurde auf der Grundlage von Verfassungsprinzipien verhandelt, auf die sich mehrere politische Parteien in Namibia seit 1982 geeinigt hatten. Dazu gehörten freie, gleiche und geheime Wahlen, Mehrparteiensystem, Rechtsstaatlichkeit auf der Basis von Gewaltenteilung sowie Rede-, Versammlungs-, Bewegungs- und Pressefreiheit. Die aus den Wahlen mit 28 Prozent als zweitstärkste Kraft hervorgegangene DTA (Demokratische Turnhallenallianz) etwa favorisierte einen am deutschen Grundgesetz orientierten Entwurf.

In nur drei Monaten wurde die Verfassung ausgehandelt und im Februar 1990 einstimmig angenommen. Man konnte sie leicht für die Verfassung, "eine[s] in Westeuropa gelegenen Staat[es]" halten, formulierte der Völkerrechtler Christian Tomuschat 1990. Artikel 1 der Verfassung beschreibt Namibia als einen demokratischen, säkularen und einheitlichen (unitary) Staat, der auf den "Prinzipen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit für alle" begründet ist. Seit 1994 verfügt die SWAPO über eine Zweidrittel-Mehrheit, mit der sie die Verfassung ändern konnte. Die ersten beiden Verfassungsänderungen haben den grundsätzlichen Eindruck von Namibia als einem "freiheitlich-demokratischen Staat westlicher Prägung" nicht schmälern können: unter anderem eine dritte Amtszeit für Gründungspräsident Sam Nujoma, eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und die Gründung einer Antikorruptionsbehörde. Die starke Rolle des direkt gewählten Staatspräsidenten scheint durch parlamentarische Kontrolle hinreichend begrenzt. Insbesondere der Grundrechtsteil der Verfassung wurde als "höchst eindrucksvoll" beschrieben. Er übernimmt teilweise wörtlich Passagen aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) oder Bestimmungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (1976) und wurde gegen eine Absenkung des Schutzgehalts durch eine Art Ewigkeitsgarantie gesichert. Die klare Konkretisierung einzelner Rechtsätze der Verfassung lässt diese geeignet erscheinen "für eine unmittelbare Anwendung durch die Gerichte", wie Christian Tomuschat feststellte. Darüber hinaus gibt die Verfassung, die Englisch zur offiziellen Sprache Namibias erhebt (Art. 3), dem Staat Ziele vor, die er aktiv zu befördern habe, um so zur Wohlfahrt aller beizutragen (Gleichstellung der Frau, Gesundheitsvorsorge, Förderung von Gewerkschaften, Rentensystem, Anhebung des Lebensstandards, Schutz des Ökosystems); Vorgaben, die freilich ausdrücklich nicht vor Gericht durchgesetzt werden können.

Kurz nach ihrer Verkündung erkannte Völkerrechtler Tomuschat der "Schriftform" der namibischen Verfassung das "Prädikat 'ausgezeichnet'" zu. Mit dieser Verfassung war "etwas Besonderes gelungen" , wie es der Bremer Staatsrechtler Manfred O. Hinz, formulierte, der an ihrem Aushandlungsprozess beteiligt war. Und dies war durchaus auch vielen Namibiern bewusst; zumal mit ihr auch ein erstes wichtiges Symbol nationaler Einheit und Versöhnung - wie es die Präambel formulierte - geschaffen war. Die Frage ihrer Bewährung im politischen und juristischen Alltag in einem durch Kolonialismus, Apartheid, Arbeitslosigkeit und extreme soziale Ungleichheit geprägten Land stand auf einem anderen Blatt.


Namibia - eine "Erfolgsgeschichte der Vereinten Nationen"?

Im Rückblick auf die vergangenen 25 Jahre überwiegen jene Stimmen, die der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Namibias ein insgesamt positives Urteil ausstellen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, ließ bei seinem Besuch in Windhoek im Juni 2014 keinen Zweifel daran, dass Namibia eine "Erfolgsgeschichte der Vereinten Nationen" sei. Nicht zuletzt mit der Verfassung war ein stabiler Grundstein gelegt. Ein namibischer "Nation building"-Prozess hatte zwar bereits spätestens 1966 mit dem Beginn des Unabhängigkeitskampfes eingesetzt. Doch mit ihrem ausgedehnten Grundrechtsteil wurde die Verfassung zum Ausdruck einer moralischen Selbstverortung des neuen, demokratischen Systems, das sich von den illegitimen Strukturen südafrikanischer Herrschaft vor 1990 bewusst abgrenzen wollte.

Gleichwohl, Namibias Präsidialsystem macht das Staatsoberhaupt nicht nur verfassungsrechtlich, sondern vor allem realpolitisch zur alles überragenden Figur. Dies liegt maßgeblich an der dominanten Rolle des langjährigen Amtsinhabers Sam Nujoma, des "Vaters der Nation" (so sein offizieller Titel). Als Anführer der Unabhängigkeitsbewegung SWAPO seit 1960 gelang es ihm ab 1990, Partei, Regierung und Staat weitgehend an seinen Vorstellungen auszurichten. Die nach 1990 massiv ausgebaute Verwaltung geriet weitgehend unter Partei-Einfluss und gilt als korrupt und wenig effektiv. Die Legislative wurde von der Exekutive quasi kooptiert; Wahlergebnisse jenseits der 70 Prozent für die SWAPO tragen das Ihre dazu bei. Namibias 42 Minister oder Vize-Minister werden vom Präsidenten aus den 72 Parlamentariern ernannt und behalten Sitz und Stimme. Eine Kontrollfunktion gegenüber dem Regierungshandeln oder im Gesetzgebungsverfahren üben erste und zweite Kammer des Parlaments daher nur beschränkt aus. Im Parlament vertretene Oppositionsparteien prangern Missstände wie die Verschwendung öffentlicher Gelder oder Menschenrechtsverletzungen zwar an, sind aber weitgehend ohne Einfluss. Es bleibt abzuwarten, ob der am 28. November 2014 gewählte Nachfolger des nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidierenden Nujoma-Nachfolgers Hifikepunje Pohamba, Hage Geingob, das Präsidentenamt in gleicher Weise auszuüben bestrebt ist. Die Ende August kurz vor den Wahlen quasi per Akklamation im Parlament durchgepeitschten massiven Verfassungsänderungen, die vorrangig einer Sicherung und Ausdehnung der präsidialen Machtbefugnisse dienen, lassen den Beginn der neuen Präsidentschaft jedenfalls in einem trüben Licht erscheinen. Trotz deutlicher Mahnungen vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Verfassung (wenn überhaupt) erst nach den Wahlen und vor allem nach einer sorgfältigen Debatte zu ändern, ließ sich die SWAPO von diesem Vorhaben nicht abbringen, ihre Einparteienherrschaft verfassungsrechtlich zu zementieren. Aus den fast 40 Änderungen sei hier nur eine erwähnt, die eindrücklich belegt, wie die einst hochgelobte Verfassung auf die Interessen der SWAPO ausgerichtet wird: Die Zahl der gewählten Parlamentarier der zweiten Kammer wurde von 72 auf 96 und die der vom Präsidenten ernannten von sechs auf acht erhöht.

Diese vom Steuerzahler teuer bezahlte Parlamentsvergrößerung war nicht vorrangig vom Willen zur Stärkung der parlamentarischen Kontrollfunktion motiviert. Da die internen SWAPO-Regularien seit 2013 eine (international mit Beifall bedachte) Frauenquote von 50 Prozent vorsehen, hatte eine Reihe "alter Kämpfer" begründete Sorge, mit der Wahl 2014 ihr Mandat zu verlieren. Angesichts der weiterhin sicher geschätzten Wahlergebnisse jenseits der 70%, lag es daher nahe, die Sitze im Parlament derart zu erhöhen, dass sowohl der Quote wie auch den Wünschen der langjährigen SWAPO-Parlamentarier gedient war. Auch hier zeigt sich, dass die politische Kultur Namibias weiterhin von der nur langsam voranschreitenden Verjüngung des SWAPO-Partei- und Regierungsapparates geprägt wird. Auch der neue Präsident Hage Geingob (*1941), der 1989 der Verfassungsgebenden Versammlung vorsaß, gehört noch der Generation der "alten Kämpfer" an, die ihre politische Sozialisierung einer straff zentralisierten und militarisierten marxistischen Unabhängigkeitsbewegung verdanken.

So scheint es zweifelhaft, dass die dritte Verfassungsänderung dazu beitragen kann, das Zusammenspiel von Parlament, Regierung und Verwaltung effektiver zu gestalten - auch zum Nutzen jener Wählerinnen und Wähler, denen sich auch 25 Jahre nach der Zeitenwende das Verfassungsziel der Wohlfahrt für alle noch immer nicht erfüllt hat. Immerhin leben nach wie vor rund 30 Prozent der inzwischen 2,2 Millionen Namibier unterhalb der Armutsgrenze.


Jakob Zollmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsprofessur Rule of Law in the Age of Globalization. Er forscht vor allem über Rechtsgeschichte und Rule of Law.
jakob.zollmann@wzb.eu


Literatur

Christian Tomuschat: Die Verfassung Namibias, in: Die Vereinten Nationen 1990, S. 95-100.

Manfred O. Hinz: Die Verfassung Namibias (1990). Entwicklung, Hintergrund und Kontext, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 40 (1991/92), S. 653-721.

Anton Bösl / Nico Horn / André du Pisani (eds.): Constitutional democracy in Namibia: A critical analysis after two decades, Windhoek 2010.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 146, Dezember 2014, Seite 22-25
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2015

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