Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 11. August 2023
german-foreign-policy.com
Gewalt und Sanktionen
ECOWAS bedroht Niger weiter mit Invasion; ihre Sanktionen halten lebensnotwendige Güter aus Niger fern. Widerstand gegen ECOWAS-Einmarsch wächst. Berlin will mit Gesprächen Einfluss nehmen.
NIAMEY/BERLIN - Die Bundesregierung sucht mit der Entsendung von Entwicklungsministerin Svenja Schulze nach Westafrika Einfluss auf den Konflikt um Niger zu nehmen. Der Druck auf die Junta in Niamey hält an; am gestrigen Donnerstag beschloss die westafrikanische Staatengruppe ECOWAS die sofortige Aufstellung einer Eingreiftruppe, die sich bereithalten soll, nach Niger einzumarschieren, falls die Putschisten den gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum nicht wieder in sein Amt zurückbringen. Die Drohung mit einer - völkerrechtswidrigen - Invasion zur Wiedereinsetzung einer Regierung, die "extrem unbeliebt" war, wie Beobachter konstatieren, treibt wachsende Teile von Nigers Bevölkerung zur Unterstützung der Putschisten. Auch in Nigeria, das einen Großteil der Truppen stellen wird, nimmt der Widerstand zu. Die schon jetzt geltenden ECOWAS-Sanktionen verhindern sogar die Lieferung lebensnotwendiger Güter und drohen in Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, den ohnehin gravierenden Hunger zu verstärken. Berlin, Paris und die EU billigen die ECOWAS-Maßnahmen bislang; Bazoum kooperierte eng mit ihnen. Schulze wird ab Montag in Nigeria und in Mauretanien erwartet.
Die Drohung der westafrikanischen Staatengruppierung ECOWAS mit einer militärischen Intervention zur Wiedereinsetzung des gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum hatte rasch dazu geführt, dass wachsende Teile der Bevölkerung sich auf die Seite der Junta stellten. Dazu beigetragen hatte zum einen, dass die Regierung Bazoum wegen ihrer Korruption und ihrer brutalen Repression gegen jegliche Opposition "extrem unbeliebt" war, wie der am African Studies Centre der Universität Leiden tätige Politikwissenschaftler Abdourahmane Idrissa festhielt (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Mit Blick auf die Äußerung, die Demokratie in Niger müsse durch Bazoums Wiedereinsetzung gerettet werden, erklärte etwa ein Vertreter der Alliance pour la paix et la sécurité, einer Nichtregierungsorganisation: "Wir Nigrer haben [vor dem Putsch, d. Red.] nichts als das Ersticken unserer Grundrechte erlebt und die Korruption und die illegitime Bereicherung neue Gipfel erreichen sehen".[2] Der ehemalige Generalsekretär der Gewerkschaft Synaceb schilderte vor kurzem, wie im März 2020 eine von ihm organisierte Kundgebung gegen Korruption brutal aufgelöst worden war: Repressionskräfte schossen, drei Menschen kamen zu Tode, er wurde festgenommen und sechs Monate in Haft gesperrt.[3] Es gibt viele solche Berichte.
Herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung ohnehin wenig Begeisterung, dass eine korrupte, äußerst repressive Regierung wieder ins Amt gebracht werden soll, so hat die Gewaltdrohung der ECOWAS auch politische Kräfte, die den Putschisten zunächst eindeutig ablehnend gegenüberstanden, veranlasst, zur Unterstützung der Junta überzugehen. So berichtet etwa der Koordinator der Organisation Tournons la page, die den Putsch ursprünglich verurteilte, in den ersten Tagen hätten "die Leute nicht wirklich an [Juntachef] Tiani geglaubt".[4] Die "extremen Sanktionen" der ECOWAS aber sowie vor allem ihre Interventionsdrohung hätten "die Leute rings um die Junta mobilisiert". Auch Tournons la page ist davon überzeugt, ein Einmarsch der ECOWAS oder gar Frankreichs sei "kein Militäreinsatz zur Wiederherstellung der Demokratie", sondern "ein Angriff auf unseren Staat"; er müsse deshalb verhindert werden. Zudem sind Parteien wie Moden-Fa Lumana, die bedeutendste Oppositionspartei, zur Unterstützung der Putschisten übergegangen. Ihr Vorsitzender Hama Amadou war vor der Präsidentenwahl im Jahr 2016 inhaftiert worden; anschließend entzogen ihm die Behörden in Niamey das passive Wahlrecht, weshalb er bei den Wahlen im Jahr 2021 nicht kandidieren konnte - zum Vorteil von Bazoum.[5] Am vergangenen Sonntag nahmen in Niamey mehr als 30.000 Menschen an einer Kundgebung zur Unterstützung der Putschisten teil.
Für Wut auf die ECOWAS sorgen zudem die von der Staatengruppe am 30. Juli verhängten Sanktionen, die nicht nur Nigers Finanzsystem vollständig zu strangulieren drohen, sondern auch die Bevölkerung dramatisch belasten. Niger ist eins der ärmsten Länder der Welt und liegt auf dem Human Development Index (HDI) auf Platz 189 von 191. Laut Angaben der Weltbank lebten zuletzt 41,8 Prozent seiner gut 25 Millionen Einwohner in extremer Armut. 19,8 Prozent aller Nigrer leiden an Unterernährung; 44,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren weisen Wachstumsstörungen auf.[6] Die Sanktionen sehen nun vor, dass sämtliche Einfuhren, darunter auch Importe lebensnotwendiger Güter, unterbunden werden. Bislang kamen 70 Prozent des in Niger verbrauchten Stroms aus Nigeria, das seine Lieferungen nun aber eingestellt hat; Stromausfälle sind seither an der Tagesordnung. Die Lebensmittelpreise sind mittlerweile erheblich gestiegen, der Preis für Reis etwa um ein Drittel, derjenige für Speiseöl um die Hälfte.[7] UN-Vertreter weisen darauf hin, dass auch Medikamente nicht mehr eingeführt werden können. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts äußerte dazu: "Jetzt fangen die Sanktionen zu wirken an". Zwar hätten sie "schmerzhafte Auswirkungen auf die Menschen", aber eben "auch auf das Regime".[8]
Zuletzt war der Widerstand gegen eine Militärintervention nicht nur in Niger, sondern auch außerhalb des Landes deutlich gewachsen. In Nigeria, das den Großteil der Truppen stellen wird, hatte der Senat einen Einmarsch in das nördliche Nachbarland explizit abgelehnt. Da nach nigerianischer Verfassung Auslandseinsätze des Militärs nur mit Zustimmung des Parlaments erlaubt sind, müsste Präsident Bola Tinubu, um vorgeblich die Demokratie in Niger zu retten, die demokratische Verfassung seines eigenen Landes brechen.[9] Eine Invasion verstieße darüber hinaus gegen das Völkerrecht: Zulässig wäre sie ausschließlich nach einem entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrats; dieser liegt nicht vor und ist auch nicht in Sicht.[10] In Nigeria wurde in den vergangenen Tagen zudem regelmäßig darauf hingewiesen, dass ein Krieg gegen Niger jegliche Kooperation mit den Streitkräften des Landes im Kampf gegen Jihadisten beenden sowie eigene Truppen davon ablenken würde; jihadistische Milizen und kriminelle Banden hätten noch größere Freiräume als bisher.[11] Gegen einen Einmarsch nach Niger hatten sich auch das nördlich angrenzende Algerien, zudem Mauretanien und der östlich angrenzende Tschad positioniert. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, eine Invasion drohe Niger und womöglich sogar den gesamten Sahel so zuzurichten wie Libyen.[12]
Warnende Stimmen waren zuletzt auch aus Europa gekommen. Während Frankreich sich stets auf die Seite der ECOWAS stellte und keinerlei Einwände gegen einen Militäreinsatz erhob, erklärte Italiens Außenminister Antonio Tajani zu Wochenbeginn, Europa könne sich "einen Waffengang nicht erlauben".[13] Als Hintergrund gilt die allgemeine Einschätzung, bei einem Krieg gegen Niger werde es im Sahel zu einem Flächenbrand kommen, der jeden Versuch, Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten, scheitern lassen werde.
Die ECOWAS hat am gestrigen Donnerstag ihren Druck aufrechtzuerhalten versucht, indem sie die sofortige Aufstellung einer Eingreiftruppe beschloss; diese soll sich bereithalten und nach Niger einmarschieren, sollten die Putschisten sich nicht zurückziehen. Allerdings wurde gestern noch kein Zeitplan genannt; außerdem hob die ECOWAS hervor, sie bevorzuge eine friedliche Lösung des Konflikts. Die weitere Entwicklung ist unklar. Das Auswärtige Amt hatte am gestrigen Donnerstag seinen Afrikabeauftragten als Beobachter zum ECOWAS-Treffen in Abuja entsandt; zudem wird Entwicklungsministerin Svenja Schulze ab Montag in Nigeria und in Mauretanien Gespräche führen [14], um nach Möglichkeiten zu suchen, den Konflikt zu entspannen. Bislang unterstützt die Bundesregierung die ECOWAS - und damit faktisch deren Versuch, mit brutalen Sanktionen und einer Kriegsdrohung einen im Westen populären Ex-Präsidenten wieder ins Amt zu bringen.
Mehr zum Thema:
Nach uns der Flächenbrand
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9316
und Nach uns der Flächenbrand (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9320
[1] Pierre Lepidi: Niger: " Le projet visant à renverser Mohamed Bazoum
existe depuis longtemps au sein de l'armée ". lemonde.fr 28.07.2023.
S. dazu "Ein verlässlicher Partner".
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9313
[2], [3] Morgane Le Cam: Au Niger, la junte est portée par la colère contre une " démocratie malade ". lemonde.fr 09.08.2023.
[4], [5] Morgane Le Cam: A Niamey, la menace d'une intervention militaire alourdit l'atmosphère sans entraver le quotidien. lemonde.fr 07.08.2023.
[6] Niger. globalhungerindex.org.
[7] Niger food prices soar after ECOWAS imposes sanctions. dw.com 05.08.2023.
[8] Regierungspressekonferenz vom 7. August 2023. bundesregierung.de 07.08.2023.
[9], [10] Flore Monteau: Coup d'État au Niger : Bola Tinubu peut-il légalement partir en guerre ? jeuneafrique.com 05.08.2023.
[11] Nosa Igbinadolor. Niger coup: A diplomatic blow to Nigeria. businessday.ng 08.08.2023.
[12] Pour Abdelmadjid Tebboune, une intervention militaire au Niger est " une menace pour l'Algérie ". jeuneafrique.com 06.08.2023.
[13] Giovanna Loccatelli: "Russia e Wagner nuovi colonizzatori sull'Africa adesso l'UE cambi rotta". La Stampa 07.08.2023.
[14] Claudia Bröll: Nur trockener Reis für Nigers gestürzten Präsidenten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.08.2023.
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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. August 2023
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