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AFRIKA/789: Namibia - Eine Würdigung von Hendrik Witbooi (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 6, Dezember 2009 / Januar 2010

Spiritueller Führer und Staatsmann
Eine Würdigung von Hendrik Witbooi

Von Reinhart Kößler


Am 13. Oktober 2009 starb in Windhoek Hendrik Witbooi. Die Beerdigungsfeierlichkeiten, die etwas über zwei Wochen später in Windhoek, Mariental und Gibeon stattfanden, dokumentierten, dass damit vor allem in Südnamibia eine Epoche zu Ende gegangen war.


Hendrik Witbooi verband in seiner Person in einzigartiger Weise unterschiedliche Dimensionen jenes komplexen Geschehens, das kurz als "Befreiungskampf" bezeichnet wird. Wie Kaptein Dawid Frederick von Bethanien formulierte, "lässt sich die Rolle, die er als spiritueller Führer, Staatsmann und Kämpfer im Befreiungskampf spielte, gar nicht hoch genug einschätzen." Zudem wirkte er lange Jahre als Lehrer, vor allem aber mehr als dreißig Jahre lang als Kaptein der /Khowesen, besser bekannt als Witbooi. Er war seit 1983 Vizepräsident der Swapo und gehörte der ersten Regierung des unabhängigen Namibia als Arbeitsminister, den beiden folgenden als Vizepremier an. Seit seinem Rückzug aus den politischen Ämtern 2005 zwang ihn die Krankheit, der er schließlich erlag, mehr und mehr zum Rückzug aus der Öffentlichkeit. Sein Tod kam dennoch für viele überraschend und rief ein breites Echo in ganz Namibia hervor.

Sämtliche hohen Repräsentanten der Swapo mit Präsident und Altpräsident an der Spitze, aber auch alle führenden Oppositionspolitiker würdigten Hendrik Witboois Lebensleistung und nahmen an den Trauerfeierlichkeiten teil, die am Freitag, den 23. Oktober, im Parlamentsgarten in Windhoek mit einem Staatsakt begannen, in Form einer Prozession in Mariental fortgesetzt wurden, um schließlich mit der Beerdigung in Gibeon ihren abschließenden Höhepunkt zu finden. Die Hinterbliebenen hatten das Angebot der Regierung, Hendrik Witboois Verdienste durch ein Grab auf dem Heroes Acre in Windhoek zu würdigen, abgelehnt. Wie seine Vorgänger im Amt des Kaptein und seine Eltern ruht er nun auf dem Friedhof in Gibeon.


Held ohne Waffen

Darin drückt sich auch ein Spannungsverhältnis aus, das Hendrik Witbooi wie kaum ein anderer verkörperte: Ihm ging es zeitlebens darum, die Folgen der Leiden und Entrechtung zu überwinden, die /Khowesen seit der Kapitulation im Nama-Deutschen Krieg 1905 und auch während der südafrikanischen Kolonialherrschaft (1915-1990) erlitten hatten. Während der Zuspitzung der Konflikte um die Unabhängigkeit Namibias Mitte der 1970er-Jahre hatte Hendrik Witbooi zusammen mit anderen ethnischen Führern in Südnamibia erkannt, dass der Kampf um diese Ziele Teil der größeren Auseinandersetzung um die volle staatliche Unabhängigkeit und die Überwindung der Kolonialherrschaft und ihrer Folgen war und ist. Er trug wesentlich dazu bei, dass sich eine große Zahl der Nama-Führer mit der Mehrheit der von ihnen repräsentierten Gruppen der Swapo anschloss und sich gegen die unter dem Stichwort Turnhalle bekannte "interne" Lösung einer einseitigen Unabhängigkeit allein von Südafrikas Gnaden und dauerhafter Abhängigkeit vom damaligen Apartheidstaat wandten. Gibeon wurde so zum Zentrum der Befreiungsbewegung im Süden.

Ungeachtet der Anwesenheit einiger bewaffneter Kader nahm dieser Kampf im Süden Namibias freilich in erster Linie zivilen Charakter an. Dies nahm dem antikolonialen Widerstand nichts von seiner Militanz. Hendrik Witbooi wurde mehrmals, teils unter entwürdigenden Umständen, festgenommen. Noch heute ist das Lied populär, in dem seine Gefangenschaft im Lager Osire besungen wird. Hendrik Witbooi unterstützte unerschütterlich und aktiv auch den bewaffneten Befreiungskampf. Dennoch gehörte er zu jenen, die mit Recht als Helden ohne Waffen bewundert werden.

Nach der Unabhängigkeit Namibias vertrat Hendrik Witbooi als Regierungsmitglied weniger regionale oder gar ethnische als vielmehr nationale Interessen. Er artikulierte zugleich aber in seiner Eigenschaft als Kaptein die nicht eingelösten Ziele, denen führende /Khowesen seit der Katastrophe von 1905 nachgestrebt waren, nicht zuletzt den Anspruch auf Gibeon als traditionelles Zentrum der Gruppe und auf Kontrolle des durch pauschale Enteignung unter deutscher Herrschaft verlorenen Landes. Er war sich bewusst, dass die Regierung, der er 15 Jahre lang angehörte, in der Landreform eine nicht nur vorsichtige und zögerliche, sondern auch eine einseitig auf kommerzielle Landwirtschaft und damit auf Individualbetrieb und -besitz fixierte Politik verfolgte. Den Widerspruch zur Zielsetzung einer Restitution kommunalen Landes erkannte er klar, wenn er dies auch kaum öffentlich artikulierte.


Spirituelle und politische Führung

Zugleich verkörperte Hendrik Witbooi mit seinem Namen und seiner Stellung als Kaptein eine große Tradition, die ihm so etwas wie ein Familiencharisma verlieh und damit seine persönliche Überzeugungskraft noch verstärkte. Nicht allein war der legendäre, im Kampf gegen die deutschen Kolonialtruppen 1905 gefallene Kaptein Hendrik Witbooi sein Urgroßvater. Der Urenkel führte die unterschiedlichen Formen und Facetten spiritueller und politischer Führung, die nach dem Tod des alten Kaptein unter seinen Söhnen, Neffen und Enkeln verteilt gewesen waren, in seiner Person wieder zusammen. Er war Lehrer, Pfarrer der African Methodist Episcopal Church, ethnischer Führer und Politiker. Bei Festen der /Khowesen stellte er als Chorleiter, Bläser oder Organist sein musikalisches Können unter Beweis.

Sein politischer Widerstand fand eine seiner wichtigsten, überaus konstruktiven Ausdrucksformen in der Gründung der ersten unabhängigen Community School in Gibeon, der weitere im Süden Namibias, in Hoachanas, Khosis, Berseba und auch in Katutura folgten. Der Mut, mit dem diese Schulgründungen seit Ende der 1970er-Jahre betrieben wurden, kam nicht nur in der Selbstorganisation oppositioneller Lehrer - wie Hendrik Witbooi selbst - oder in der Unterstützung von Schülerinnen und Schülern zum Ausdruck, deren Streiks oft am Anfang der Schulgründungen standen. Dieser Militanz entsprach auch die Wahl der Unterrichtssprache, der Abschied vom Afrikaans und die Hinwendung zu Englisch, das damals als Sprache der Befreiung im Südlichen Afrika gesehen wurde, auch wenn weder Lernende noch Lehrende sie zunächst beherrschten. Die sich nach wenigen Jahren einstellenden Erfolge gaben ihnen recht und bezeugten ihr hohes Engagement. Umso mehr ist die vor allem durch Geldmangel bedingte Krise zu bedauern, in die diese Schulen im zweiten Jahrzehnt der Unabhängigkeit Namibias geraten sind. Dennoch bleiben die Gründung und der Aufbau dieser Schulen eine bewundernswerte Leistung, zu der Hendrik Witbooi entscheidend beigetragen hat.

Dies bedeutete zugleich eine Fortsetzung des jahrzehntelangen Kampfes führender /Khowesen und anderer Nama-Führer für die Überwindung der Bildungsschranken, die das Kolonialregime aufgerichtet hatte. Das koloniale Bildungssystem und noch deutlicher die "Bantu-Erziehung" unter der Apartheid waren darauf ausgerichtet, die Afrikaner durch die Verweigerung von Qualifikation und Wissen, aber auch durch Indoktrination unterwürfig zu halten. Die Arbeit, die der Großvater und der Vater des Verstorbenen, Klein-Hendrik, der älteste Sohn des alten Kaptein und dessen Sohn Markus, aber auch andere wie Petrus A. Jod hier zunächst im Rahmen der Rheinischen Mission und nach der Abspaltung vieler Nama-Evangelisten von der Missionsgesellschaft und dem Übergang zur African Methodist Episcopal Church leisteten, legte wichtige Grundlagen für die Entschiedenheit, mit der dann der Befreiungskampf in Gibeon und anderen Zentren Südnamibias gerade in Verbindung mit dem Bildungssektor betrieben und unterstützt wurde.

Bei alledem spielte die Tradition des antikolonialen Widerstandes eine zentrale Rolle, die für /Khowesen einen unverzichtbaren Bestandteil ihrer kollektiven Identität ausmacht und sich nach wie vor an der Gestalt des alten Kaptein kristallisiert. Dieser hatte frühzeitig, schon während der 1880er-Jahre, die Gefahren erkannt, die sich mit den Anstrengungen verbanden, die deutsche Kolonialherrschaft in Süd- und Zentralnamibia zu errichten und zu konsolidieren. Er hatte sich vergebens bemüht, führende Vertreter anderer Ethnien wie Maharero in Okahandja oder Hermanus van Wijk in Rehoboth gleichfalls zum Widerstand zu bewegen. Es gelang ihm aber, in seiner befestigten Siedlung Hornkranz am Gamsbergpass eine große Zahl Gleichgesinnter unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu sammeln. Nur durch den völkerrechtswidrigen Überfall vom 12. April 1893 wurden Hendrik Witbooi und seine Anhänger von Hornkranz vertrieben und knapp zwei Jahre später zur Unterwerfung gezwungen.

Zehn Jahre später stand der betagte Kaptein an der Spitze der Nama, die ab Oktober 1904 nach der Niederlage der Ovaherero in Zentralnamibia einen verzweifelten Kampf gegen die etablierte Kolonialmacht aufnahmen. Für die meisten /Khowesen endete dieser Krieg mit der Kapitulation wenige Wochen nach dem Tod ihres legendären Kaptein am 29. Oktober 1905.

Es folgten Jahre der Gefangenschaft in mörderischen Konzentrationslagern und für viele Überlebende die Deportationen bis nach Togo und Kamerun. Auch nach der Rückkehr der Überlebenden nach Gibeon unter südafrikanischer Herrschaft wurden die Hoffnungen enttäuscht, das Unrecht der Kolonisierung werde nun wieder gut gemacht. Die Erfahrung des alltäglichen Kampfes gegen die Demütigungen durch die Eingeborenenverwaltung trug wesentlich dazu bei, dass führende /Khowesen von Anfang an die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildende Unabhängigkeitsbewegung mitprägten.


Tradition und Moderne

Der verstorbene Hendrik Witbooi war in dieser auf seinen Urgroßvater zurückgehenden Tradition aufgewachsen und hat sie in entscheidender Hinsicht weiter entwickelt. Dies gilt nicht zuletzt für bewusste und nachdrückliche Politisierung des Gedenkens an den alten Kaptein, dessen Todestag alljährlich Ende Oktober in einem Erinnerungsfest begangen wird, das vor allem durch die Initiative und Kreativität des Urenkels die ethnische Tradition beglaubigt und zugleich den nationalen Bezug auf Namibia unterstreicht, früher unter Bezug auf das Ziel von Unabhängigkeit und Befreiung, seit 1990 auf den endlich errichteten unabhängigen Staat unter Mehrheitsherrschaft.

In dieser Weise war Hendrik Witbooi einer derjenigen, die an führender und entscheidender Stelle zwischen den unterschiedlichen und nicht immer widerspruchsfreien Ansprüchen und Zwängen des mühsam und mit großen Opfern erkämpften unabhängigen Nationalstaates und des ethnischen Kollektivs vermitteln, dessen Führung und Vertretung seine eigene Identität auch als Kämpfer für die nationale Befreiung im Kern geprägt haben. Es zeichnete ihn aus, dass er dies über viele Jahre hinweg nicht nur mit hoher Energie und unzweifelhaftem Sendungsbewusstsein tat, sondern auch mit einem wachen Sinn dafür, auf welch schwierigem Terrain er und andere ethnische Führungspersönlichkeiten agierten.

Nach Zeitungsberichten kam das Leben in Gibeon fast zum Stillstand, als sich die Nachricht von seinem Tod verbreitete. Es bleibt schwer, sich Gibeon und auch die Zukunft der /Khowesen ohne ihn vorzustellen.


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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
38. Jahrgang, Nr. 6, Dezember 2009/Januar 2010, S. 23 - 24
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2010