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ASIEN/579: "Es gibt in Afghanistan eine aktive Basisbewegung" (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 30. Mai 2009

»Es gibt in Afghanistan eine aktive Basisbewegung«

Diverse Organisationen fordern u. a. die Bestrafung aller
Kriegsverbrecher, werden aber vom Westen ignoriert.
Ein Gespräch mit Mechthild Exo

Interview von Frank Brendle


Die Friedens- und Konfliktforscherin Mechthild Exo kehrte Anfang der Woche von einer siebentägigen Reise nach Kabul zurück


Frage: Sie kommen soeben von Gesprächen für ein Forschungsprojekt aus Kabul zurück. Was haben Sie dort gesucht?

Antwort: Ich wollte wissen, welche Vorstellungen es an der Basis der Gesellschaft gibt, wie in diesem Land Frieden geschaffen werden kann. Die Positionen der Regierung, der Militärs oder gutbezahlter westlicher Organisationen sind ja bekannt. Ich wollte aber mit den einfachen Leuten dort reden.

Frage: Wie haben Sie Ihre Ansprechpartner gefunden?

Antwort: Ich hatte schon vorher Kontakte. Das geht auch gar nicht anders. Man muß Leute kennen, Fahrer haben, abgeholt werden, weil es viel zu gefährlich wäre, sich einfach ins Taxi zu setzen oder über die Straße zu gehen. Ich hatte in dieser Woche täglich drei bis vier Termine. Alle Gespräche waren sehr intensiv. Viele Gesprächspartner haben mir von Folterungen erzählt. Ich habe schockierende Leidensgeschichten gehört und Frauen kennengelernt, die sich alleine irgendwie durchschlagen müssen. Es hat mich überrascht, wie vielfältig die politische Szene in Afghanistan ist. Das bekommt man bei uns gar nicht mit. Ich habe mit linken Parteien gesprochen, mit zivilgesellschaftlichen Gruppen, mit Frauenrechtlerinnen und mit Leuten, die gegen den Krieg arbeiten.

Frage: Welchen Einfluß haben denn diese Organisationen?

Antwort: Viele Menschen sind hoffnungslos, weil es ihnen schwerfällt, zwischen dem Militär, den Taliban und den Warlords einen Handlungsraum für politische Veränderungen zu finden. Wenn sie demonstrieren, riskieren sie ihr Leben, weil die Polizei es gar nicht anders kennt, als auf Demonstranten zu schießen. Viele Aktivisten erhalten Morddrohungen und leben halb illegal. Aber wichtig ist erst einmal, daß es sie überhaupt gibt, daß die Menschen anfangen, sich zu organisieren und sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Ein wichtiges Projekt ist das Dokumentieren von Kriegsverbrechen. Es werden Massengräber dokumentiert, die Verantwortlichen notiert, Fotos gesammelt usw., auch von Verbrechen der NATO-geführten ISAF-Truppen, weil sonst Lügengeschichten erzählt werden.

Frage: Westliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erhalten zig Millionen Fördergelder. Wieviel davon kommt bei den afghanischen Basisgruppen an?

Antwort: Fast nichts. Manche von ihnen wollen dieses NGO-Busineß bewußt nicht, weil es nur neue Abhängigkeiten schafft. Die Projekte werden ja so konzipiert, daß sie den Geberländern politisch gefallen. Die Basisorganisationen, die ich gesprochen habe, grenzen sich aber zum Teil klar zu den Vorstellungen des Westens vom Staatsaufbau ab. Sie fordern die Verurteilung aller Kriegsverbrecher der letzten 30 Jahre, und damit meinen sie auch die ausländischen Militärs. Sie grenzen sich auch von der Karsai-Regierung ab, in der viele Kriegsverbrecher sitzen. Dafür bekommen sie natürlich kein Geld.

Frage: Wie haben Sie die Stimmung gegenüber den alliierten Truppen erlebt?

Antwort: Selbst diejenigen, die vor ein paar Jahren noch gehofft hatten, die Militärs könnten Verbesserungen schaffen, sind inzwischen sehr enttäuscht. Sie erwarten nichts Positives mehr, weil die Nato Kriegsverbrechen begeht und die Regierung voller Warlords ist.

Frage: Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Antwort: Die Studierenden, die gerade dabei sind, eine Basisbewegung zu schaffen, die es so in Afghanistan noch nie gegeben hat. Viele von ihnen haben sich spontan nach einer Bombardierung in der Provinz Farah zusammengefunden, wo Anfang Mai über 140 Zivilisten durch US-Militär getötet wurden. Sie wollen so lange protestieren, bis diese blinden Bombardements aufhören. Von Wahlen erhoffen sie sich keine Veränderungen. Sie wollen keine Parteien und keine Führer, weil es schon genug schlechte Führer gibt. In Afghanistan entwickeln sich neue Formen der Organisierung. Wir haben die Möglichkeiten, mit ihnen E-Mails auszutauschen und sie zu fragen, wie wir sie unterstützen können. Und für sie ist es wichtig, mitzubekommen, daß es in Deutschland antimilitaristische Kampagnen gibt.


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Quelle:
junge Welt vom 30.05.2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2009