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ASIEN/584: Der Aufstieg Ostasiens (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Der Aufstieg Ostasiens

Von Parag Khanna


Anstatt den Globus zu dominieren, stehen die USA nun zusammen mit anderen globalen Großmächten, wie die Europäische Union und China, auf einem geopolitischen Marktplatz im Wettbewerb. Dies ist die Geopolitik im 21. Jahrhundert: Die neuen "Großen Drei".


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Die Großen Drei sind die ultimativen "Freinde" ("frenemies"). Die Geopolitik des 21. Jahrhunderts wird sehr stark an Orwells 1984 erinnern, wobei es anstatt von drei Weltmächten (Ozeanien, Eurasien und Eastasien) drei hemisphärische Pan-Regionen geben wird - von Amerika, Europa und China dominierte Zonen. Sowohl offenkundig als auch unbemerkt, werden China und Europa in Amerikas Hinterhof mitmischen, Amerika und China werden in Europas südlicher Peripherie um afrikanische Ressourcen konkurrieren und Amerika und Europa versuchen, vom schnellen Wirtschaftswachstum der Länder in Chinas wachsendem Einflussbereich zu profitieren. Globalisierung ist die Waffe der Stunde. Das Hauptschlachtfeld ist die - wie ich sie nenne - "zweite Welt".

Zu den Großen Drei gehört nicht Russland, eine von Gazprom.gov regierte, immer mehr entvölkerte weite Fläche; nicht der inkohärente, in interne Kriege verwickelte Islam und auch nicht Indien, das in seiner Entwicklung und seinen strategischen Bestrebungen Jahrzehnte hinter China zurückbleibt. Die Großen Drei bestimmen die Regeln - ihre eigenen Regeln -, ohne dass einer von ihnen dominieren würde. Den restlichen Ländern bleibt die Wahl, an wessen Seite sie sich in dieser postamerikanischen Welt positionieren.


Europas und Chinas Einfluss wächst auf Amerikas Kosten

In Europas Hauptstadt Brüssel spielen die Technokraten, Strategen und Gesetzgeber mehr und mehr eine ausgleichende Rolle zwischen Amerika und China. Die Europäer spielen auf beiden Seiten mit. Beim Kampf gegen radikale Islamisten setzen die Europäer Geheimdienste und die Polizei, jedoch keine Armee ein; bei der Integration von widerspenstigen Muslimen sind es sozialpolitische Maßnahmen; zur Einbettung der ehemaligen Sowjetunion und zur graduellen Unterwerfung Russlands wäre es ihre Wirtschaftskraft. Auch in der Türkei wächst jährlich das europäische Investitionsvolumen, wodurch das Land enger an die EU angebunden wird, selbst dann, wenn es nie Mitglied derselben werden sollte. Und jedes Jahr wird eine neue Öl- und Gasförderleitung aus Libyen, Algerien oder Aserbaidschan nach Europa eröffnet.

Welche andere Großmacht wächst um durchschnittlich ein Mitglied pro Jahr mit einer Reihe neuer Anwärter, die auf ihre Aufnahme warten oder darum bitten? Die EU verfügt über den größten Markt der Welt, europäische Technologie wird immer mehr zum weltweiten Standard und die europäischen Länder leisten die meiste Entwicklungshilfe. Und während Amerika und China sich bekämpfen, werden die Gelder der Welt in europäischen Banken sicher angelegt sein. Ölexporteure im Persischen Golf legen ihren Währungsbestand in Euro an. London übernimmt (wieder) seine Rolle als globale Finanzhauptstadt für Börsennotierungen, daher überrascht es nicht, dass Chinas neuer staatlicher Investmentfonds seine wichtigsten westlichen Sitze dort und nicht in New York errichten will.

Europas Einfluss wächst auf Kosten Amerikas, Europa investiert sein Geld und politisches Kapital, um periphere Länder in seinen Dunstkreis einzubinden. Viele arme Regionen der Welt haben erkannt, dass sie den europäischen und nicht den amerikanischen Traum leben wollen; Afrika will eine echte Afrikanische Union, eine wie die EU; Aktivisten im Nahen Osten fordern eine parlamentarische Demokratie nach europäischem Modell kein präsidiales Ein-Mann-Regime nach amerikanischem. Viele der ausländischen Studenten, welche die USA nach dem 11. September 2001 gemieden haben, sind Jetzt in London und Berlin: Es studieren doppelt so viele Chinesen in Europa wie in den USA.

Die Ostasiatische Gemeinschaft ist ein Beispiel dafür, dass sich auch China viel zu sehr darauf konzentriert, seinen Platz im "Königreich der Mitte" wieder herzustellen, als dass es von Unruhen im Nahen Osten, welche die USA so sehr beschäftigen, abgelenkt werden könnte. Auch in Amerikas eigener Hemisphäre, von Kanada über Kuba bis Chávez' Venezuela, verlieren die USA massive Ressourcen- und Investmentgeschäfte an China. In Afrika sichert es sich nicht nur Energievorräte, sondern tätigt auch bedeutende strategische Investitionen im Finanzsektor. Darüber hinaus exportiert China auch Waffen und füllt jedes entstehende Machtvakuum. Jedes von Amerika in der Vergangenheit als "Schurkenstaat" bezeichnete Land verbindet eine diplomatische, wirtschaftliche oder strategische Lebensader mit China, wobei der Iran das prominenteste Beispiel dafür ist.

Nicht nur die Europäer, auch die Länder Asiens grenzen sich von den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten Amerikas ab. Sie planen ihren eigenen regionalen Währungsfonds unter japanischer Schirmherrschaft, während China die Zölle gesenkt und Kredite an seine südostasiatischen Nachbarn erhöht hat. Das Handelsvolumen im Indien-Japan-Australien-Dreieck, dessen Zentrum China bildet, hat das Handelsvolumen der Pazifikregion überschritten. Gleichzeitig will kein Land, von Thailand über Indonesien bis Korea, dass politische Spannungen das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen. In den zentralasiatischen Ländern der ehemaligen Sowjet-Union - den sogenannten Stans - ist China das neue Schwergewicht. Zusammen mit China und Russland vereint die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit diese zentralasiatischen Kraftpakete und könnte somit in Zukunft evtl. die NATO des Ostens werden.


Die Pendelstaaten

Es wird eine Gruppe von Staaten geben, die sich weder im Erste-Welt-Kern der globalen Wirtschaft, noch in ihrer Dritte-Welt-Peripherie befinden - die sogenannten Pendelstaaten. Sie liegen entlang der Großen Drei oder zwischen ihnen und bestimmen, welche der Großmächte die Oberhand für die nächste Generation haben wird. Von Venezuela bis Vietnam, von Marokko bis Malaysia bedeutet die neue Realität globaler Angelegenheiten, dass es drei Wege gibt, Verbündete zu finden und Einfluss auf andere Länder auszuüben: Amerikas Koalition (wie die "Koalition der Willigen"), Europas Konsens und Chinas beratende Vorgehensweise. Der geopolitische Markplatz wird entscheiden, welcher von ihnen das 21. Jahrhundert führen wird.

Die wichtigsten Länder der zweiten Welt in Osteuropa, Zentralasien, Südamerika, im Nahen Osten und in Südostasien sind mehr als nur Schwellenmärkte. Mit China zusammen verfügen sie über den Großteil der globalen Devisenreserven und Rücklagen, und ihre Kaufkraft macht sie zu den wichtigsten neuen Verbrauchermärkten der Weltwirtschaft und so zu den treibenden Kräften des globalen Wachstums. Länder der zweiten Welt unterscheiden sich von denen der dritten Welt durch ihr Potenzial: die Wahrscheinlichkeit, dass sie Kapital aus einem wertvollen Produkt, einem charismatischen Führer oder einem großzügigen Förderer schlagen. Jedes einzelne Land der zweiten Welt zählt für sich, mit seiner wirtschaftlichen, strategischen oder diplomatischen Bedeutung, und seiner Entscheidung, sich an die Seite einer der Drei zu schlagen, beeinflusst stark die Entscheidung anderer Länder in der Region. Neben Russland und der Türkei sind dies vor allem die Stans - von Land umschlossene, ressourcenreiche und von Autokraten geführte Staaten. Seitdem diese Nationen durch den Zusammenbruch der Sowjetunion in die Unabhängigkeit entlassen wurden, hat China nach und nach die Rolle Russlands als neuer Schirmherr übernommen. Handel, Ölleitungen und Militärübungen machen China zum neuen Organisationspol der Region, während die USA darum kämpfen, ihre bescheidene Militärbasis in der Region zu behalten. Die Herausforderung, in den strategisch günstig gelegenen, energiereichen Stans voranzukommen, entspricht einer Auktion, bei der Werte scheinbar nicht zählen. Während beispielsweise China mehr kasachisches Öl kauft und Amerika sich um Verteidigungsverträge bemüht, verspricht Europa nachhaltige Investitionen und hütet sich davor, die von Präsident Nursultan Nasarbajew heiß ersehnte hohe Anerkennung auszusprechen.

Die neue vielfarbige Landkarte der Einflussbereiche ist nicht einfach zu lesen. Es gibt kein "sie sind für uns" oder "sie sind gegen uns". Mubarak, Musharraf, Mahathir und eine Heerschar anderer Führungspolitiker der zweiten Welt hatten bzw. haben einen neuen Maßstab für manipulativen Heldenmut: sie alle behaupten, Freunde der USA zu sein, während sie fleißig in alle Richtungen buhlen. Darüber hinaus wollen viele Länder der zweiten Welt ihre eigenen antiimperialistischen Zonen schaffen und so handelspolitische, technologische und diplomatische Achsen ziehen. Tatsächlich positionierte sich Russland in der Iranfrage, beim Bau des Bushehr Atomreaktors klammheimlich im chinesischen Lager und bot gleichzeitig auch Libyen Atomreaktoren sowie Venezuela und Indonesien Waffen an. Immer mehr greifen diese Länder der zweiten Welt auf (oft ölfinanzierte) Staatsfonds in Milliardenhöhe zurück, um ihren Einfluss geltend zu machen oder sogar Unternehmen und Märkte der ersten Welt einzuschüchtern.


Die nicht mehr von den USA dominierte Welt

Der Aufstieg Chinas im Osten und der EU im Westen haben die Welt grundlegend verändert. Während Europas und Chinas Stimmung sich mit jedem Schritt in neue Einflussbereiche hebt, schwächelt Amerikas Tatkraft. Die EU mag die Prinzipien der einst von Amerika dominierten Vereinten Nationen jetzt noch hochhalten, doch wie lange wird sie das tun, wenn ihre eigenen sozialen Standards diesen kleinsten gemeinsamen Nenner bei weitem übersteigen? Und warum sollten China und andere asiatische Länder "verantwortliche Interessenvertreter" ("responsible stakeholders") in einer von Amerika geführten internationalen Ordnung sein, wenn es für sie keinen Platz an dem Tisch gab, an dem diese Regeln entworfen wurden?

Im Netz der Globalisierung sitzen nun drei Spinnen. Was Amerika in diesem scheinbar wertefreien Wettbewerb einzigartig macht, ist seine Geografie. Es ist isoliert, während Europa und China an den Enden der Eurasischen Landmasse, das ständigen Zentrum der geopolitischen Gravität, sitzen. Als Amerika die NATO dominierte und ein pazifisches Verbündetensystem mit Japan, Südkorea, Australien und Thailand pflegte, regierte es noch die Welt von einem Ende aus. Heute ist seine pure Anwesenheit in Eurasien angreifbar. Es ist in den meisten Ländern des Nahen Ostens nicht willkommen und verlor auch einen großen Teil ostasiatischen Vertrauens. Amerika muss diese Realität schnell annehmen und sich ihr anpassen. Das Festhalten am amerikanischen Reich wird die Welt nur noch mehr Blut und Geld kosten. Es lohnt sich nicht. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Mühe zum Scheitern verurteilt ist.

Wäre die Welt nicht ein sichererer Ort, wenn Amerika wieder als ihr Organisationsoberhaupt und Führer anerkannt würde? Für diese Frage ist es viel zu spät. Weder China noch die EU werden die USA als den einzigen Führer der Welt ersetzen; sie werden vielmehr einen andauernden Kampf um den eigenen Einfluss austragen und sich gegenseitig ausbalancieren. Europa wird sein supranationales Integrationsmodell als Lösungsweg für Auseinandersetzungen im Nahen Osten und für die Organisation Afrikas voranbringen, während China versucht, einen Peking-Konsens durchzusetzen, der auf der Anerkennung der Souveränität und gegenseitigem wirtschaftlichen Nutzen basiert. Amerika muss sich als unwiderstehlich präsentieren, um in diesem Spiel am Ball zu bleiben.

Es ist nicht möglich, eine multikulturelle Welt voller transnationaler Herausforderungen vom Terrorismus bis zur Erderwärmung im Alleingang zu führen, sei es durch die USA oder durch die UNO. Die Globalisierung widersteht fast jeder Art von Zentralisierung. Stattdessen erleben wir bei den Verhandlungen über den Klimawandel allmählich - und sollten es auch auf anderen Gebieten wie der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen und dem Wiederaufbau von gescheiterten Staaten öfter erleben - die Tendenz zu einer verstärkten Arbeitsteilung unter den Großen Drei, bei der sie nicht nach ihrer Rhetorik, sondern danach beurteilt werden, wie viel Verantwortung sie übernehmen. Der willkürlich zusammengestellte Sicherheitsrat sowie andere multilaterale Gremien sind nicht der richtige Ort, um so eine Arbeitsteilung auszutüfteln, da sie festgefahren sind in Abstimmungen durch Stimmengewichtung und in der Kakophonie irrelevanter Stimmen. Die großen Probleme müssen von den Großen Drei untereinander geregelt werden.

(Aus dem Englischen von Julia Máté.)


Parag Khanna (* 1977) ist Direktor der Global Governance Initiative und Senior Research Fellow beim American Strategy Program der New America Foundation. Zuletzt im Berlin-Verlag erschienen: Der Kampf um die Zweite Welt.
paragkhanna@gmail.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 35-38
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2009