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ASIEN/683: China - Tochterwunsch, Paare in den Städten widersetzen sich Ein-Kind-Politik (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. November 2010

China: Tochterwunsch - Paare in den Städten widersetzen sich Ein-Kind-Politik

Von Mitch Moxley


Peking, 8. November (IPS) - Li Xiaoxue und ihr Mann Dai Chunlin sind bereits stolze Eltern eines Jungen. Der staatlichen Ein-Kind-Politik wollen sich die beiden Chinesen aber nicht beugen. Wie sie haben immer mehr wohlhabende Paare in Städten den Wunsch nach einer Tochter.

"Wenn mein Sohn später weit entfernt von uns arbeitet, kann unsere Tochter für uns sorgen", meinte die 34-jährige Li. Gemeinsam mit ihrem Ehemann besitzt sie eine Software-Firma in Peking, die jährlich etwa 75.000 US-Dollar Gewinn abwirft. Mit diesem finanziellen Polster können die beiden es sich leisten, der vor drei Jahrzehnten eingeführten Ein-Kind-Politik zu trotzen. Denn Paare, die sich weiteren Nachwuchs erlauben, müssen je nach Einkommen mit Geldbußen zwischen 45.000 und rund 100.000 Dollar rechnen.

"Einen Jungen aufzuziehen, ist auch teuer, vor allem in großen Städten wie Peking oder Schanghai", sagte Li. "Wir müssen ihm mindestens eine eigene Wohnung kaufen, sonst wird er kaum eine Freundin finden."

Auch andere Familien wünschen sich Töchter, nachdem Söhne traditionell höher im Kurs standen. Insbesondere in den Städten ist dieser Trend deutlich sichtbar. Eine Umfrage unter 3.500 jungen Paaren in Schanghai belegte im vergangenen Jahr, dass 15 Prozent gern ein Mädchen und zwölf Prozent einen Jungen bekommen möchten. Die übrigen wollten sich nicht festlegen.

Da Mädchen lange Zeit als minderwertig betrachtet wurden, hat sich in der demografischen Entwicklung ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern entwickelt. Li und andere junge Chinesen wollen an solchen Vorurteilen nicht länger festhalten. "Auch Mädchen können ein Familienunternehmen übernehmen", betonte sie.


Wirtschaftsboom verhilft Frauen zu höherem Status

Soziologen und Bevölkerungsforscher sehen mehrere Gründe für dieses veränderte Geschlechterbewusstsein. Während des Wirtschaftsbooms im vergangenen Jahrzehnt verbesserten sich vor allem in den Städten die Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Familien hofften früher darauf, dass ihre Söhne sie im Alter ernähren könnten. Nachdem die Einkommen gestiegen sind, spielt dieser Aspekt für viele nur noch eine untergeordnete Rolle.

Zurzeit gibt es in China jedoch einen Überschuss von 32 Millionen Jungen. Laut den neuesten verfügbaren Statistiken von 2005 kamen aber auf jeweils 100 neugeborene Mädchen 119 Jungen. In einigen Landesteilen betrug das Verhältnis sogar 100 zu 130. Vor allem in ländlichen Regionen werden häufig weibliche Föten abgetrieben oder Mädchen an Menschenhändler verkauft.

Wissenschaftler schließen jedoch nicht aus, dass China nun dem Beispiel Südkoreas folgt. Dort hat sich die Sicht auf die Geschlechter in den vergangenen 20 Jahren tiefgreifend geändert. 2006 wurden statistisch gesehen pro 100 Mädchen 107,4 Jungen geboren. Wie aus einer Weltbank-Studie von 2007 hervorgeht, hatte das Missverhältnis in den neunziger Jahren mit 100 zu 116,5 einen Höhepunkt erreicht. Als normal bewerten Demografen ein Verhältnis von 100 zu 105.

Korea hat seit den achtziger Jahren ähnliche Umbrüche erlebt wie China heute. Die Entwicklung der Wirtschaft eröffnete Frauen neue Arbeitsperspektiven, wodurch sich ihre Rolle in der Gesellschaft veränderte. Die Regierung hatte bereits in den siebziger Jahren versucht, Vorurteile gegen Mädchen abzubauen. Seit 1987 dürfen Ärzte werdenden Eltern keine Auskunft mehr über das Geschlecht ihres Kindes geben.

So weit wie Korea ist China jedoch noch lange nicht. Laut einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften ist die hohe Zahl neugeborener Jungen ein ernsteres Problem als die Überbevölkerung. "Geschlechtsspezifische Schwangerschaftsabbrüche sind vor allem in ländlichen Gegenden weiterhin stark verbreitet", heißt es in dem Bericht.


Viele Männer finden keine Frauen mehr

Aufgrund des chronischen Frauenmangels hätten heiratswillige Männer, die nicht viel verdienten, Probleme, eine Partnerin zu finden, erklärte der an der Studie beteiligte Forscher Wang Guangzhou der auf Englisch erscheinenden Zeitung 'Global Times'. Männer über 40, die auf dem Land lebten, drohten im Alter immer abhängiger von der Sozialfürsorge zu werden, sagte der Wissenschaftler Wang Yuesheng dem Blatt.

Der Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung an der Akademie für Sozialwissenschaften in Guangdong, Zheng Zhenzi, sieht in seinem Land zwar schon gute Fortschritte auf dem Weg zu einer Gleichberechtigung der Geschlechter. Immer mehr Frauen rückten in staatliche Verwaltungsämter vor und würden ins Parlament gewählt, sagte er. Auf dem Land sei von dem Wandel hingegen wenig zu spüren. Zheng rechnet daher damit, dass Bauernfamilien auch weiterhin Söhne bevorzugten. (Ende/IPS/ck/2010)


Links:
http://bic.cass.cn/english/infoShow/Arcitle_Show_Cass.asp?BigClassID=1&Title=CASS
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=53444


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2010