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ASIEN/712: Kirgistan 2010 - Von der Autokratie über die Anarchie zur Demokratie? (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2010

Kirgistan 2010
Von der Autokratie über die Anarchie zur Demokratie?

Von Birgit Brauer und Beate Eschment


In der ersten Hälfte des Jahres 2010 ist die kleine zentralasiatische Hochgebirgsrepublik Kirgistan gleich zwei Mal von gewalttätigen politischen Ereignissen erschüttert worden, die sogar in unseren Medien gemeldet wurden: Anfang April wurde der im Jahr zuvor in einer Volkswahl wiedergewählte Präsident aus dem Amt vertrieben, Mitte Juni kam es im Süden des Landes zu äußerst gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bürgern kirgisischer und usbekischer Nationalität. Seitdem hat Ende Juni ein Verfassungsreferendum und am 10. Oktober die Wahl eines neuen Parlamentes friedlich stattgefunden. Eine Analyse der Forschungsstelle Osteuropa zeigt, dass dem krisengeschüttelten Land damit aber noch lange keine Garantie für Stabilität gegeben ist.


Die Probleme Kirgistans zeigen zum einen die Schwierigkeiten der politischen und wirtschaftlichen Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und sind zum anderen auch von internationaler Bedeutung. Die USA betreiben seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 am Flughafen der kirgisischen Hauptstadt Bischkek eine (innenpolitisch umstrittene) Militärbasis zur Versorgung ihrer Einheiten in Afghanistan.

Die 1991 unabhängig gewordene ehemalige Sowjetrepublik Kirgistan (auch Kirgisistan, Kirgisische Republik oder Kirgisien) galt westlichen Beobachtern wegen ihrer parlamentarischdemokratischen Verfassung und reformorientierten Politik in den ersten Jahren ihrer Eigenstaatlichkeit als "Insel der Demokratie", zumindest im Vergleich zu den anderen vier zentralasiatischen Staaten - Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Dies wurde vor allem dem ersten Präsidenten der jungen Republik, Askar Akajew, einem Wissenschaftler und politischen Newcomer, der in der Sowjetzeit keine politischen Führungsämter inne gehabt hatte, zugeschrieben. Es entstanden viele Parteien, eine recht freie Presselandschaft und eine bunte NGO-Szene, also das, was man im Westen unter Zivilgesellschaft versteht.

Die Erfolge von Akajews Regierungsarbeit waren aber - auch aufgrund unendlicher Machtkämpfe - eher mäßig. Das rohstoffarme, wenig industrialisierte Kirgistan war schon zu Sowjetzeiten die zweitärmste Unionsrepublik gewesen. Trotz gewaltiger ausländischer Hilfszahlungen erholten sich das Land und seine verarmte Bevölkerung nur sehr langsam von dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion, auch weil sich eine ausgeprägte Korruption auf allen Ebenen entwickelte. Dazu kam die sich verstärkende geografische, ökonomische und kulturelle Spaltung. Der Norden des Landes war und ist stärker industrialisiert und russifiziert und erwirtschaftet den größten Teil des Brutto-Inlandsproduktes, der landwirtschaftlich geprägte, ärmere Süden gilt als traditionell und konservativ.

Überdies gehören die nur wenig mehr als fünf Millionen Einwohner des Landes 80 verschiedenen Nationalitäten an. Neben den Kirgisen (69,6%) sind vor allem die große usbekische (14,5%) sowie die russische (8,4%) Minderheit zu nennen, wobei die Usbeken vorwiegend im Süden des Landes, die Russen zumeist im Norden ansässig sind. Die Führung unternahm wenig, um diese Konfliktpotentiale zu entschärfen. Der aus dem Norden stammende, russifizierte Akajew besetzte beispielsweise die meisten höherrangigen Staatsämter mit Personen aus seiner Heimat und rief damit, nicht zu Unrecht, Benachteiligungsgefühle im Süden hervor.


Präsidenten als Autokraten

Die gewaltigen Probleme führten zu wachsender Unzufriedenheit und Spannungen. Akajew reagierte darauf mit undemokratischen Mitteln: Zensur, Druck und dem Ausbau seiner Machtposition durch Verfassungsänderungen. Er konnte dies allerdings nur tun, weil seine Kritiker uneins waren und ihn die Bevölkerung trotz aller Unzufriedenheit nach alter sowjetischer Manier immer wieder wählte. Erst im Frühjahr 2005 war offenbar eine kritische Grenze überschritten.

Die dreiste Fälschung der Parlamentswahlen und Akajews Versuch, seinen Kindern einen Sitz im Parlament zu verschaffen, wurden zum Auslöser des unblutigen Sturzes des ungeliebten Präsidenten. Einige tausend Demonstranten stürmten seinen Amtsitz, das Weiße Haus, in der Hauptstadt Bischkek. Akajew flüchtete nach Russland. Damit war Kirgistan nach der Ukraine und Georgien die dritte ehemalige Sowjetrepublik, deren Bevölkerung durch eine sogenannte bunte Revolution ihr autoritäres Staatsoberhaupt aus dem Amt gejagt hatte. Doch sollte sich bald zeigen, dass diese Revolution keine war. Nur Gesichter wechselten, das System blieb unverändert.

Bei der Volkswahl des neuen, aus dem Süden stammenden Präsidenten Kurmanbek Bakijew im Sommer 2005 herrschte Aufbruchstimmung. Die Hoffnungen der Bevölkerung auf ein demokratisches und wohlhabendes Kirgistan wurden jedoch bitter enttäuscht. Bakijew knüpfte dort an, wo sein Vorgänger zum Aufhören gezwungen worden war und trieb Familienwirtschaft, Korruption und die Ausplünderung des Staates auf die Spitze - ohne dass die zerstrittene Opposition ihm wirklich Widerstand entgegen setzte.

Bakijew wurde dennoch im Sommer 2009 im Amt bestätigt. Doch war die Geduld der Bevölkerung dieses Mal schneller am Ende. Drastische Strompreiserhöhungen Anfang des Jahres waren Anlass zu Demonstrationen, die im April 2010 eskalierten. Bakijew ließ auf die seinen Amtssitz bedrängenden Demonstranten schießen. Es gab 86 Tote. Der Präsident flüchtete in seine Heimatregion im Süden und versuchte dort Anhänger zu mobilisieren, um mit ihrer Hilfe ins Amt zurückzukehren. Letztendlich konnte er durch internationalen Druck zum Rücktritt und zum Verlassen des Landes bewegt werden. Die Situation in Kirgistan blieb jedoch instabil, nicht nur Anhänger und Gegner des ehemaligen Präsidenten gingen immer wieder auf die Straße, sondern große Teile der Bevölkerung erkannten die Macht des Staates und die Gesetze nicht mehr an, sondern demonstrierten gegen alles und jeden und nahmen sich, was sie zu brauchen glaubten, zum Beispiel Bau- und Ackerland.


Eskalation und Neubeginn?

Am 11. Juni kam es im Süden des Landes, hauptsächlich in und um die zweitgrößte Stadt Kirgistans, Osch, zu blutigen Auseinandersetzungen - Vergewaltigungen, Morden, Brandstiftungen - zwischen den dort lebenden Kirgisen und Usbeken, die vier Tage anhielten. Die Sicherheitskräfte, die sich fast ausschließlich aus ethnischen Kirgisen zusammensetzen, griffen nicht ein und sollen laut Augenzeugenberichten zum Teil sogar gegen Usbeken vorgegangen sein. Die überwiegende Mehrheit der über 400 Todesopfer, wie auch der mehr als 2000 Verletzten, waren Usbeken. Es ist nach wie vor nicht geklärt, wer oder was die pogromartigen Ereignisse ausgelöst hat. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig.

Die Übergangsregierung, die sich im April unter der international erfahrenen und hoch angesehenen ehemaligen Außenministerin Rosa Otunbajewa, etabliert hatte, erwies sich gegenüber dieser Gewaltexplosion als hilflos. Das war symptomatisch, handelte es sich doch um eine Versammlung von gegeneinander arbeitenden Oppositionspolitikern, die nicht die Macht, aber offenbar auch nicht das vorrangige Interesse hatte, das Land wieder in ruhige Bahnen zu lenken. Aktiv und zügig handelte die Übergangsregierung lediglich bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Sie wurde im April und Mai in Rekordzeit erarbeitet und trotz der Unruhen Ende Juni wie geplant durch ein Referendum von der Bevölkerung mit großer Mehrheit angenommen.

Gleichzeitig wurde die amtierende Präsidentin im Amt bestätigt. Damit wurde das Land in Reaktion auf die Erfahrungen der letzten Jahre in eine parlamentarische Republik verwandelt. Nun soll nicht mehr allein der Präsident die Politik bestimmen können, sondern das Parlament und die aus seinen Reihen gebildete Regierung erhalten neue Kompetenzen.


Wenig Hoffnung auf Stabilität und Demokratie

Sechs Monate nach dem Sturz Bakijews wurde nach den Bestimmungen der neuen Verfassung am 10. Oktober ein neues Parlament gewählt. Die knapp drei Millionen Wahlberechtigten mussten ihr Kreuz auf einem 70 cm langen Wahlzettel machen, denn um die 120 Mandate bewarben sich 29 Parteien. Fünf von ihnen schafften den Sprung in die neue Volksvertretung, wobei mit Ata-Schurt eine Partei, die die Rückkehr des vertriebenen Präsidenten befürwortet, mit fast neun Prozent die meisten Stimmen bekam.

Beobachter gehen nicht ohne Grund davon aus, dass die Voraussetzungen für das Funktionieren eines parlamentarischen Systems in Kirgistan nicht gegeben sind. Schon die erste parlamentarische Verfassung Anfang der 1990er Jahre hatte zu einem ständigen, das Land lähmenden Kampf zwischen Präsident, Regierung und Parlament geführt. Es gibt wenig Anlass zu der Vermutung, dass das jetzt anders wird. Die bekanntesten Politiker des Landes sind untereinander zerstritten und haben noch nie Kompromissfähigkeit gezeigt.

Die Bevölkerung orientiert ihre Wahlentscheidungen an Personen und ihrer familiären oder regionalen Herkunft, nicht an Programmen. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben sie offenbar darin bestärkt, dass sie ihre Unzufriedenheit wirkungsvoll nicht per Stimmabgabe, sondern auf der Straße zum Ausdruck bringen kann. zentralasienanalysen Die staatlichen Institutionen sind so schwach, dass das Land zu den "failing states", den Staaten, deren Funktionieren und Weiterexistenz akut gefährdet sind, gezählt werden muss. Die Prognose für ein stabiles und demokratisches Kirgistan ist also eher schlecht.


Weitere Informationen:

Die Zentralasien-Analysen bieten regelmäßig kompetente Einschätzungen aktueller politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklungen in den fünf zentralasiatischen Ländern Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Die Analysen von internationalen Fachwissenschaftlern und Experten werden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde herausgegeben und vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit gefördert. Abonnement der monatlichen unentgeltlichen pdf-Datei an zentralasien-analysen@dgo-online.org.


Birgit Brauer promovierte 2008 im Fach Political Economy an der University of Birmingham, GB. Seit vielen Jahren ist sie Zentralasienkorrespondentin des Economist in Almaty, Kasachstan und schreibt regelmäßig auch für andere Publikationen, einschließlich der Zentralasien-Analysen der Forschungsstelle Osteuropa. Derzeit ist sie externe Projektexpertin der Forschungsstelle Osteuropa für das von der Volkswagen-Stiftung finanzierte Projekt "Energiesektor und politische Regimestabilität im Kaspischen Raum".


Beate Eschment ist an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen wissenschaftliche Redakteurin der Zentralasien-Analysen (www.laender-analysen.de/zentralasien). Sie promovierte 1992 in Hannover in Osteuropäischer Geschichte. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Systemtransformation und Nationalitätenfragen in Kasachstan und Kirgistan.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2010, Seite 10 - 13
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2011