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ASIEN/939: China - Das Mosaik von Yunnan (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 146/Dezember 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das Mosaik von Yunnan

Warum in Chinas ethnisch heterogenster Provinz Frieden herrscht

von Jianghong Li, Lu Zhaohe und Luo Chun


Kurz gefasst: Anders als Tibet und die Provinz Xinjiang kann Chinas ethnisch heterogenste Provinz, Yunann, auf mehrere Jahrzehnte friedlichen Zusammenlebens zurückblicken. Die Analyse der letzten 148 Jahre wechselvoller Provinzgeschichte zeigt, welche Faktoren dem Frieden zwischen den ethnischen Gruppen förderlich sind: 1. eine konsistente pluralistische Regierungspolitik, 2. politische Maßnahmen, mit denen negativen Folgen eines massenhaften Zuzugs der Mehrheitsbevölkerung in Minderheitenregionen entgegengewirkt wird, und 3. ein intensiver Austausch zwischen den Minderheitengruppen und diesen Gruppen mit der Mehrheitsbevölkerung durch räumliche Heterogenität, gemischte Ehe und gemischte Schulen.


Konflikte zwischen unterschiedlichen Ethnien und rassistische Gewalt erfahren weltweit Aufmerksamkeit, gerade wenn sie zu dauerhaften Spannungen oder zu Genoziden führen. Unruhen in Tibet 2008 und tödliche Gewalt in Ürümqi in der Provinz Xinjiang 2009 haben in China Kritik und Schuldzuweisungen ausgelöst: Han-Chinesen wie auch Minderheitengruppen und chinesische Wissenschaftler haben kritisiert, dass die chinesische Regierung seit langem bestimmte ethnische Gruppen bevorzugt. Jenseits der Schuldzuweisungen stellen sich grundlegende Fragen: Ist in einem multiethnischen Umfeld ein friedliches Zusammenleben möglich, und welche Bedingungen begünstigen ein solches Miteinander? Was ist dem Frieden zwischen den Ethnien förderlich? Das Beispiel der Provinz Yunnan, der Region Chinas mit der größten ethnischen Vielfalt, kann erste Antworten geben.

In den 1950er bis 1970er Jahren erkannte die chinesische Regierung offiziell 55 nationale Minderheiten an. Diese Kategorisierung fußte auf deren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, der Sprache sowie der geografischen Konzentration. Der Volkszählung von 2010 zufolge gab es in der Volksrepublik 55 nationale Minderheiten, deren 114 Millionen Angehörige (8,4 Prozent der Gesamtbevölkerung) über fünf Autonome Gebiete, 30 Autonome Bezirke (Präfekturen) und 72 Autonome Kreise verteilt sind.

Yunnan ist die einzige Provinz, in der alle 55 nationalen Minderheiten vertreten sind. Dort gehören 14,15 Millionen Einwohner einer Minderheit an, was ungefähr 33 Prozent der Gesamtbevölkerung der Provinz entspricht (46,31 Millionen Einwohner). Was die Gesamtgröße der Minderheitenbevölkerung betrifft, liegt Yunnan in der Volksrepublik auf Platz zwei, hinter der Provinz Guangxi. Die Provinz Yunnan liegt im Südwesten Chinas; im Westen grenzt sie an Burma, im Süden an Laos und Vietnam (siehe Karte).

Der überwiegende Anteil der nationalen Minderheiten ist über die Provinz verstreut; ethnische Enklaven sind rar. Nur die muslimischen Hui neigen zu einer räumlichen Konzentration ihrer Wohngebiete. Ungefähr 70 Prozent der Minderheiten leben in hügeligen Gebieten (1.000 bis 3.500 Meter über dem Meeresspiegel) oder Gebirgsregionen (höher als 3.500 Meter über dem Meeresspiegel). Die nationalen Minderheiten hängen dem Ahnenkult an, sie glauben an Geister, Tiere und Totems; alle Formen des Buddhismus (kleineres und größeres Fahrzeug sowie Lamaismus) sind vertreten, ebenso wie Christentum, Islam und Daoismus.

Der Großteil der nationalen Minderheiten lebt in 8 Autonomen Bezirken (Präfekturen) und 3 Autonomen Gebieten, die insgesamt 29 Autonome Kreise umfassen. Die autonomen Einheiten (autonome Bezirke, Gebiete, Kreise) sind Verwaltungseinheiten innerhalb einer Provinz. Sie werden von Vertretern der dort lebenden nationalen Minderheiten regiert. Ein wichtiges Detail der autonomen Gegenden: Es gibt kaum ethnische Enklaven.

Archäologische Funde deuten darauf hin, dass einige Minderheiten seit Anbeginn der Menschheit in Yunnan leben, also seit ungefähr 1,7 Millionen Jahren. Andere waren Nachfahren von Migranten der Qiang, die im Jahr 220 v. Chr. aus dem Nordwesten und Süden Chinas aufbrachen. Wieder andere waren stationierte Truppen (Mongolen, Hui und Mang), die von den Han, die China regierten, dorthin entsandt waren. Die Han-Chinesen siedelten sich erstmals im Jahre 286 an. Im Jahr 221 v. Chr. vereinte Kaiser Qin Shi Huang China und unterstellte Yunnan der chinesischen Gerichtsbarkeit. Unter der Ming-Dynastie (1368-1644) verfügte die Regierung eine umfangreiche Umsiedelung von Han-Chinesen nach Yunnan, um die Entwicklung dieser Region zu fördern. So kam die Übermacht der Han-Chinesen in Yunnan zustande.

In den meisten Perioden der Qing-Dynastie (1644-1912) wurden in Yunnan die Minderheiten von der Mehrheit der Han beherrscht und unterdrückt. Innerhalb der Minderheiten wurden wiederum kleinere Gruppierungen von großen unterdrückt.

In der Spätphase der Qing-Dynastie (1700-1880) wanderten immer mehr und größere Wellen von Han-Chinesen nach Yunnan ein, angelockt durch staatliche Anreize. Die Han-Siedler besetzten illegal Land und nutzbringende Minen von ethnischen Minderheiten; es kam zu gewalttätigen Konflikten zwischen den Han-Migranten und der lokalen Bevölkerung, vor allem mit den muslimischen Hui. Die Gewalt gipfelte 1856 in dem grauenhaften Massaker an den Hui in Kunming. Die Gewalt weitete sich auf andere Teile Yunnans aus, Tausende Hui wurden getötet. Die Qing-Regierung unterstützte das von den Han-Chinesen angezettelte Massaker. Der anhaltende Widerstand der Hui führte schließlich zu der Panthay-Rebellion (1856-1873) und zur Errichtung des Staates Pingnan, einem unabhängigen Königreich der Hui-Chinesen in Dali, der größten kreisfreien Stadt im Westen Yunnans.

Das Königreich Pingnan existierte 16 Jahre, bis es 1872 von der Quing-Regierung zerschlagen wurde. Dass es sich relativ lang halten konnte, verdankt es vor allem seinem pluralistischen Charakter. Die Hui waren Muslime, aber kulturell waren sie chinesisch geprägt; ethnisch waren sie eine Minderheitengruppe unter vielen. Außerdem schloss das Königreich Minderheiten nicht aus, sondern integrierte ein breites Spektrum ethnischer Gruppen in ihren Verwaltungsapparat: Bai, Dai, Yi, Hani, Lisu und Manchu, sogar Han-Chinesen.

In derselben Periode gab es ein friedliches Miteinander in anderen Gegenden Yunanns: zum einen zwischen dem Staat der Qing und lokalen Anführern (Thai sprechenden Gruppierungen), zum anderen zwischen den migrierten Han und den ansässigen Völkern in der südwestlichen Grenzregion Yunnans, die an Burma stößt und wo es möglicherweise keinen großen Zustrom von Han-Siedlern gegeben hatte.

Der Staat der Qing war gezwungen, eine pragmatischere und gemäßigtere Politik gegenüber den unterschiedlichen indigenen Gruppierungen zu führen. Durch die Kombination kaiserlicher und überkommender Einrichtungen wollte sie ihre Herrschaft über die Grenzregionen aufrechterhalten. Die Qing-Regierung setzte einheimische Beamte oder Anhänger ein, um die Grenzen zu verteidigen, den Frieden zu bewahren und Steuern einzutreiben; das war günstiger, als Truppen zu stationieren und eine eigene Verwaltungsstruktur aufzubauen. Individuell mischten sich Han-Migranten mit unterschiedlichen indigenen Bevölkerungen - sie wohnten beieinander, heirateten Partner anderer Gruppen, handelten miteinander und besuchten gemeinsam die Schule. Da die Qing-Regierung fürchtete, die grenzüberschreitenden Han-Chinesen könnten die lokalen Verhältnisse destabilisieren, schaffte sie Zinswucher und den Verkauf von Ländereien ab, um die lokal ansässigen Eliten nicht zu verstimmen.

1949 kam die Kommunistische Partei Chinas an die Macht. Die Vorstellungen von der "Gleichheit der Nationen", der "nationalen Einheit" und von "Wohlstand und Entwicklung" wurden Leitprinzipien der Parteipolitik gegenüber nationalen Minderheiten und ein wichtiges Merkmal, durch das sich das chinesische sozialistische System von Chinas feudalistischer Vergangenheit und dem Kapitalismus des Westens abgrenzt. Aus Sicht der Regierung würde der Aufstand einer nationalen Minderheit einen Dominoeffekt unter den übrigen Nationalitäten auslösen - eine potenzielle Bedrohung des nationalen Zusammenhalts und der staatlichen Einheit. Die 55 nationalen Minderheiten entsprechen zwar weniger als 10 Prozent von Chinas Bevölkerung, leben aber auf 60 Prozent der chinesischen Landesfläche. 20 bis 30 Minderheiten leben zudem in Regionen entlang der chinesischen Landesgrenze, die sich über 21.000 Kilometer erstreckt. Diese geografische Verteilung ist strategisch wichtig. Schließlich befinden sich Chinas umfangreiche natürliche Ressourcen hauptsächlich in Regionen mit nationalen Minderheiten: Zu den Ressourcen gehören etwa Wälder, Grasebenen, Mineralien und Edelmetalle sowie Wasservorkommen.

Die Minderheitenpolitik der chinesischen Regierung umfasst als wichtige Elemente: autonome politische Strukturen, Fortbildung von Führungspersönlichkeiten der nationalen Minderheiten, die Bewahrung und Entwicklung von Minderheiten-Sprachen, die Achtung der Sitten und Gebräuche der Minderheiten, Unterstützung bei der Entwicklung von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft und das Bündnis mit geistlichen Führern der Minderheitenreligionen. Diese politischen Richtlinien wurden erstmals in der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volks 1949 vereinbart und 1982 durch die Verfassung sowie 1984 durch das Regionale Autonomiegesetz für Nationalitäten gefestigt.

Konkret bedeutet dies, dass nationale Minderheiten finanziell insgesamt begünstigt werden: Zweisprachige Erziehung wird gefördert, für Studenten, die aus Minderheiten stammen, gelten niedrigere Hürden beim Hochschulzugang und Lehrer, die in abgelegenen, von nationalen Minderheiten besiedelten Gebieten unterrichten, werden finanziell bessergestellt. Die Regierung hat zwölf Institute nationaler Minoritäten in allen Landesteilen Chinas und eine Universität für nationale Minderheiten in Peking gegründet, um jenen Angehörigen nationaler Minderheiten Rechnung zu tragen, die eine einheimische Sprache oder auch andere Fächer in ihrer eigenen Sprache studieren wollen.

Anders als Han-Chinesen, die in urbanen und ökonomisch entwickelten Gebieten auf dem Land leben und sich an die Ein-Kind-Politik halten müssen, ist es nationalen Minderheiten, die in urbaner Randlage und im ländlichen Binnenland leben, gestattet, zwei Kinder zu haben. Von den Minderheiten an den Grenzen dürfen sieben Gruppierungen, deren Bevölkerungszahl unter 100.000 liegt, drei Kinder im Abstand von drei bis fünf Jahren haben. Es gibt zwar keine Geburtenbeschränkung für die Nationalitäten, die unmittelbar an der Landesgrenze leben, doch wird auch hier Familienplanung nach wie vor gefördert.

Seit die Kommunistische Partei Chinas 1949 an die Macht kam, haben sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Ethnien in Yunnan insgesamt vergleichsweise harmonisch gestaltet. Zudem gab es hinsichtlich Alphabetisierung, Gesundheit und Armut beträchtliche Verbesserungen für nationale Minderheiten. Das Bevölkerungswachstum ist ein weiterer Indikator für den Entwicklungsfortschritt: Zwischen 1958 und 2010 ist die Bevölkerung der Minderheiten von 5,63 Millionen auf 15,3 Millionen gestiegen. Dies entspricht einem Wachstum von 172,4 Prozent und ist etwas höher als das der Han-Chinesen in Yunnan (166,3 Prozent).

Während der Kulturrevolution (1966-1976) erlitt die Praxis der chinesischen Minderheitenpolitik Rückschläge aufgrund der radikalisierten Politik. Als Folge ging die Regierung über zur Politik der Zwangs-Assimilation. Obwohl Religion als solche nicht angegriffen wurde, galten einzelne Glaubenselemente als Bestandteil der "vier Relikte" (altes Denken, alte Kultur, alte Gebräuche, alte Gewohnheiten), die es zu vernichten galt. Eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Roten Garden und den Hui ereignete sich im Dorf Shadian im Süden von Yunnan, wo die Moscheen geschlossen und Angehörige der Hui aufgrund ihrer Religion gedemütigt wurden. Der Konflikt wurde verwickelter und gewann an Schärfe, als sich die ultralinke Regierung einmischte und die "aufständischen" Hui niederschlug, was zu dem Massaker von Shadian im Jahr 1975 führte. Der Streit konnte seither beigelegt werden: Das Dorf und die Moscheen wurden wieder aufgebaut. Nach dem Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 erhielten die Opfer der Hui eine finanzielle Entschädigung. Obwohl die pluralistische Minderheitenpolitik während der Kulturrevolution auf dem Papier in Kraft blieb, wurde erst nach deren Ende 1976 diese Politik hinsichtlich der religiösen und kulturellen Vielfalt umgesetzt.


Was zum friedlichen Zusammenleben beiträgt

Die Betrachtung der weiter zurückliegenden Vergangenheit und der Zeitgeschichte in der ethnisch am meisten durchmischten Provinz Chinas verdeutlicht, dass insbesondere drei Faktoren wichtig sind für ein harmonisches multiethnisches Zusammenleben. Am wichtigsten ist eine konsequente Politik des Pluralismus, die religiöse und kulturelle Vielfalt respektiert und sich um Gleichheit zwischen allen Gruppierungen bemüht, egal ob das aus Pragmatismus, Opportunismus oder aus humanitären Gründen geschieht. Zweitens ist es wichtig, dass die Regierung darauf bedacht ist, dass wirtschaftliche Entwicklungsprogramme nicht etwa massenhafte Migrationsbewegungen in die Gebiete von nationalen Minderheiten auslösen und dadurch die Stabilität vor Ort oder in der Region gefährden. Es ist wichtiger, dass konkrete Maßnahmen durchgesetzt werden, um derartige Folgen zu minimieren. Drittens hat möglicherweise die Vermischung von unterschiedlichen nationalen Minoritäten untereinander sowie von diesen mit der Mehrheit der Han-Chinesen im Bereich des Wohnens, durch Eheschließungen oder gemischte Schulen dazu beigetragen, dass es in der Vergangenheit in der Provinz Yunnan Phasen gegeben hat, in denen die unterschiedlichen Ethnien "friedlich" zusammengelebt haben.


Jianghong Li ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projektgruppe der Präsidentin. Sie forscht über Sozialepidemiologie, Kinderentwicklung, Arbeitsmarktforschung in Bezug auf Familien- und Kinderwohlbefinden sowie zu sozialer Ungleichheit.
jianghong.li@wzb.eu

Lu Zhaohe und Luo Chun sind Professoren für Sozialdemografie am Institute for Development Research der Universität Yunnan in der Provinzhauptstadt Kunming.


Literatur

Atwill, David G.: "Blinkered Visions: Islamic Identity, and Hui Ethnicity, and the Panthay Rebellion in Southwest China, 1856-1873". In: The Journal of Asian Studies, 2003; Vol. 62, No. 4, pp. 1079-1108.

Fend, Anwei/Sunuodula, Mamtimyn: "Analysing Language Education Policy for China's Minority Groups in Its Entirety". In: International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, 2009, Vol. 12, No. 6, pp. 685-704.

Giersch, C. Pat: "'A Motley Throng': Social Change on Southwest. China's Early Modern Frontier, 1700-1800". In: The Journal of Asian Studies, 2001, Vol. 60, No. 1, pp. 67-94.

Li, Jianghong/Chun, Luo/de Klerk, Nicholas: "Trends in Infant/Child Mortality and Life Expectancy in Indigenous Populations in Yunnan Province, China". In: Australian and New Zealand Journal of Public Health, 2008, No. 32, No. 3, pp. 216-223.

Minority Affairs Editorial Department: Working Handbook of Minority Nationalities (Original: Minzu Gongzuo Shouce). Kunming: Yunnan People's Publishing House 1985.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 146, Dezember 2014, Seite 51-54
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2015

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