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EUROPA/719: Der Weg zur Demokratisierung der Türkei ... (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 1/2009
Dialog-Kreis

Der Weg zur Demokratisierung der Türkei
geht weder über Militarismus noch Islamismus

Von Memo Sahin


In einer Kolumne in der Frankfurter Rundschau vom 4. Februar schreibt der einflussreiche ehemalige Botschafter Israels in Deutschland Avi Primor: Die Türkei "diskriminiert und unterdrückt ihre kurdischen und armenischen Minderheiten und greift auf der Suche nach PKK-Kämpfern den benachbarten Irak beliebig an. Den Holocaust an den Armeniern im Ersten Weltkrieg leugnet die Türkei fanatisch. Und seit dreißig Jahren besetzt sie den Norden Zyperns - trotz aller Mahnungen der UN und der internationalen Gemeinschaft."

Dann macht jedoch Primor eine erstaunliche Wendung: "Versuche seitens der letzten Bewunderer des alten Osmanischen Reiches, wieder Einfluss zu gewinnen und den Modernismus und Laizismus zu behindern, gab es in der Geschichte der modernen Türkei mehrfach. Wer sie immer wieder in die Schranken gewiesen hat, war die Armee. Das gilt nun aber nicht mehr. Unter dem Druck der Europäischen Union, die nur mit einer echten türkischen Demokratie den EU-Beitritt zu verhandeln bereit war, wurde der Einfluss der Armee in staatliche Angelegenheiten allmählich beschnitten. Generäle, die bis vor kurzem unantastbar waren, sitzen heute in der Türkei in Haft. Und die Armee wagt nicht, angesichts der begeisterten Unterstützung Erdogans durch die Massen, sich dem zu widersetzen. Und so, mit abnehmendem Militarismus, aber zunehmendem Islamismus, entfernt sich die Türkei immer mehr von Europa."

Die von Avi Primor hochgeschätzte türkische Armee hat 1960, 1971, 1980 geputscht. Auch danach hat das Militär durch Ultimaten und Panzer-Demonstrationen gewählte Regierungen zum Rücktritt gezwungen.

Die Samen der islamistischen Welle in der Türkei wurden von der von Avi Primor als Garant der Laizität und Modernität bejubelten türkischen Armee gesät. Die putschistischen Generäle führten den sunnitischen Islam als Pflichtfach in den Schulen ein. In den kurdisch-alevitischen Dörfern wurden Moscheen aufgebaut, obwohl Aleviten keine Moschee besuchen und dies als Beleidigung verstehen. Die Predigerschulen, Imam-Hatips, wurden durch sie überall in der Türkei errichtet. Die über 80.000 Moscheen wurden mit den Steuergeldern gebaut und die Gehälter der über 100.000 Imame und Prediger werden aus der Staatskasse gezahlt. Um die kurdische Bewegung und die türkische Linke im Schach zu halten, haben sie nicht gezögert, die verschiedenen islamischen Organisationen und Orden zu unterstützen.

Neben den Banden aus Politik, Armee, Mafia und Intelligenzia, wie Gladio und Ergenekon, haben die kemalistischen Generäle im Kampf gegen die kurdische Bewegung und die türkischen demokratischen Kräfte die türkische Hisbollah gegründet und sie mit Waffen und Finanzen ausgestattet. Im Auftrage und mit Unterstützung des türkischen Staates wurden seit den 1990er Jahren Tausende von kurdischen Zivilisten, an erster Stelle Menschenrechtler, Politiker, Journalisten und Geschäftsleute am helllichten Tage auf offenen Straßen mit gezielten Kopfschüssen von den Killern der Hisbollah und Jitem (Geheimorganisation der Gendarmerie) umgebracht.

Wo Millionen von Aleviten keine Gebetshäuser errichten dürfen, wo Kinder von Juden, Aleviten, Christen, Yeziden und Atheisten an dem als Pflichtfach eingeführten sunnitisch-islamischen Religionsunterricht teilnehmen müssen, wo den seit Jahrhunderten bestehenden Kirchen in Istanbul geistlichen Nachwuchs verboten wird und Christen in Trabzon, in Istanbul und Malatya durch Aufträge des "Tiefenstaates" ermordet werden, hat das Vorgehen des türkischen Staates und des Militärs weder etwas mit Säkularität und Laizität noch mit der Gleichbehandlung der Religionen zu tun.

Die Auftraggeber des Mordes an dem jüdischen Industriellen Üzeyir Garih sind unter den Generälen im Generalstab der türkischen Armee zu suchen. Wenn einige von ihnen, um die Herr Primor trauert, heute wegen der Führung der Verbrecherbande Ergenekon in Haft sitzen, so ist dies ein Ergebnis des Kampfes der türkisch-kurdischen demokratischen Kräfte.

Wenn heute der Krieg gegen das kurdische Volk auch über die Landesgrenzen hinaus fortgeführt wird, wenn die Presse- und Meinungsfreiheit fortbesteht, wenn kritische Stimmen über die Rolle der türkischen Armee mundtot gemacht werden, wenn eine freiheitliche Demokratie immer noch nicht besteht und islamistische Tendenzen zunehmen, so ist dies der türkischen Generalität zu verdanken.

Der Weg zur Demokratie und Gleichstellung der Kurden sowie zur Anerkennung der ethnischen und religiösen Minderheiten geht weder über Militarismus noch Islamismus!


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 2/2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2009