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EUROPA/738: Interview mit Rolf Gössner zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei (ILMR)


Internationale Liga für Menschenrechte (Berlin) - 2. Juni 2009

EU und Deutschland müssen Verantwortung übernehmen

Liga: Für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei müssen sich alle beteiligten Seiten bewegen
Interview mit ROLF GÖSSNER in kurdischer Tageszeitung

Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, fordert die Europäische Union (EU) dazu auf, sich im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei endlich aktiv für die Lösung der kurdischen Frage einzusetzen; dabei trage vor allem auch die Bundesrepublik besondere Verantwortung: Mit ihrem hohen Anteil türkischer und kurdischer Bewohner sei sie gefordert, endlich politische Initiativen zu ergreifen und den offenen und kritischen Dialog mit der kurdischen Seite auf EU-Ebene und hierzulande zu fördern - "und zwar ohne Stigmatisierung, Kriminalisierung, Ausgrenzung und Berührungsängste, wie wir sie leider immer noch erleben".

Rolf Gössner beantwortet in einem Interview der kurdischen Tageszeigung YENI ÖZGÜR POLITIKA vom Wochenende Fragen nach den Voraussetzungen einer Friedenslösung in der Türkei. Er unterstreicht, dass es hierfür eines mehrheitsfähigen politischen Willens bedürfe und dass sich alle beteiligten Seiten - der türkische Staat und die türkische Zivilgesellschaft sowie die kurdische Seite und die PKK - bewegen müssten, um einen ernsthaften Dialog in Gang zu setzen. Zu den Voraussetzungen gehören nach seiner Auffassung ein "Ende aller militärischen Operationen, ein Ende der Kriminalisierung von Kurden und ihrer Organisationen sowie die Auflösung des Dorfschützersystems". Alle an dem Konflikt Beteiligten müssten erkennen, dass dieses Problem letztlich nicht militärisch zu lösen sei und dass militärische Operationen alle Bemühungen konterkarierten, die kurdische Frage im Verhandlungswege ernsthaft und mit friedlichen Mitteln zu lösen.

Die Internationale Liga für Menschenrechte hält die kurdische Frage, überhaupt die Minderheitenfrage sowie die Menschenrechtsfrage für die Schlüsselfragen eines EU-Beitritts der Türkei. Dabei gehe es, so Gössner, nicht zuletzt um eine gesamteuropäische Aufgabe. An dem Dialog, für den es gegenwärtig wieder Hoffnung gebe, müssten auch Repräsentanten der betroffenen Minderheiten beteiligt werden, wenn man eine ernsthafte demokratische Lösung finden wolle.

Die Internationale Liga für Menschenrechte sieht in einem tragfähigen Amnestie-Angebot für die direkt und indirekt Beteiligten an den kriegerischen Auseinandersetzungen eine wesentliche Bedingung für eine Friedenslösung in der Türkei - ebenso in Wiedereingliederungshilfen für (ehemalige) Kämpfer sowie Mitglieder der PKK. Darüber hinaus müsse die Entlassung und Rehabilitierung politischer Gefangener auf der Agenda eines jeden Dialogs stehen sowie die Aufklärung aller extralegalen Akte des "Verschwindenlassens" und Tötens von Menschen in der Türkei. Um eine offensive Auseinandersetzung mit dem türkisch-kurdischen Konflikt und seinen Folgen zu erzielen sowie die Aufarbeitung der von beiden Seiten begangenen Verbrechen sei an die Einrichtung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission nach dem Vorbild Südafrikas zu denken.


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EU und Deutschland müssen Verantwortung übernehmen

Interview mit Dr. Rolf Gössner zur Lösung der kurdischen Frage
in der Kurdischen Tageszeitung Yeni Özgür Politika

Interview von Meral Çiçek und Haber Merkezi


Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, fordert die Europäische Union (EU) dazu auf, sich im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei endlich aktiv für die Lösung der kurdischen Frage einzusetzen; dabei trage vor allem auch Deutschland besondere Verantwortung. Rolf Gössner beantwortet unsere Fragen nach den Voraussetzungen einer Friedenslösung in der Türkei. Er unterstreicht, dass es hierfür eines mehrheitsfähigen politischen Willens bedürfe und dass sich alle beteiligten Seiten bewegen müssten, um einen ernsthaften Dialog in Gang zu setzen. Zu den Voraussetzungen gehören nach seiner Auffassung ein "Ende aller militärischen Operationen, ein Ende der Kriminalisierung von Kurden und ihrer Organisationen sowie die Auflösung des Dorfschützersystems".

Frage: Sehr geehrter Herr Gössner, was sind Ihrer Meinung nach Voraussetzungen für einen Dialog auf politischer Ebene? Welche Schritte müssten der türkische Staat und die kurdische Bewegung gehen?

Rolf Gössner: Für einen ernsthaften politischen Dialog mit dem Ziel, die kurdische Frage dauerhaft zu lösen, müssen sich alle beteiligten Seiten bewegen. Besondere Verantwortung tragen der türkische Staat und die türkische Gesellschaft, die diesen Konflikt so lange ignoriert und mit Gewalt unterdrückt haben. Jetzt müssen die politisch Verantwortlichen überhaupt anerkennen, dass es in der Türkei ein solches Problem gibt, das so lange ungelöst bleibt, solange den Kurden kulturelle, soziale und politische Rechte vorenthalten werden, solange sie also systematisch diskriminiert, kriminalisiert und ausgegrenzt werden. Dann muss der politische Wille zu einer gerechten Friedenslösung der kurdischen Frage mehrheitsfähig sein und umgesetzt werden. Zu den Voraussetzungen gehören: ein Ende aller militärischer Operationen, ein Ende der Kriminalisierung von Kurden und ihrer Organisationen sowie die Auflösung und Entwaffnung des Dorfschützersystems.

Im Zuge des überfälligen Dialog- und Verhandlungsprozesses werden sich auch die noch kämpfenden Teile der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK umorientieren und letztendlich auflösen müssen. Das heißt: Auch diese Seite muss erkennen, dass dieses Problem letztlich nicht militärisch zu lösen sein wird. Um einen gangbaren Weg zu beschreiten, bedarf es - außer der Niederlegung der Waffen unter UN-Kontrolle - auch einer gemeinsamen Strategie aller wesentlichen kurdischen Strömungen. Darüber hinaus eines tragfähigen Amnestie-Angebots für die direkt und indirekt Beteiligten an den kriegerischen Auseinandersetzungen sowie Wiedereingliederungshilfen für (ehemalige) PKK-Kämpfer; darüber hinaus die Entlassung und Rehabilitierung politischer Gefangener, die wegen ihrer politischen Betätigung, ihrer Gesinnung bzw. Meinungsäußerungen inhaftiert worden sind.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Laufe des jahrzehntelangen Konflikts begangen wurden, müssen in rechtsstaatlichen Verfahren geahndet werden - und zwar ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit der (mutmaßlichen) Täter. Zu denken wäre aber auch an die Einrichtung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission nach dem Vorbild Südafrikas, um eine offensive Auseinandersetzung mit dem türkisch-kurdischen Konflikt und seinen Folgen zu erreichen sowie die Aufarbeitung der von beiden Seiten begangenen Verbrechen. Dazu gehört auch die Aufklärung aller extralegalen Akte des "Verschwindenlassens" und Tötens von Menschen in der Türkei.

Frage: Wie ist es zu bewerten, dass die türkische Armee trotz einseitiger Waffenruhe der PKK weitreichende Militäroperationen durchführt?

Rolf Gössner: Solche Militäroperationen sind Gift für alle aktuellen Versuche, den Dialog ernsthaft zu führen und in künftigen Verhandlungen greifbare Erfolge zu erzielen. Nach wie vor haben die türkischen Streitkräfte einen inakzeptablen politischen Einfluss auf die Politik. Die türkische Regierung und das Militär setzen immer wieder auf militärische "Lösungen", die keine sind, sondern die Lage weiter eskalieren lassen. Völkerrechtswidrige Bombardements konterkarieren alle Bemühungen, die kurdische Frage im Verhandlungswege mit friedlichen Mitteln zu lösen.

Frage: Momentan wird in der Türkei von einer fragilen positiven Atmosphäre gesprochen. Wie kann diese Atmosphäre zugunsten eines Dialogs gestärkt werden?

Rolf Gössner: Dies muss auf allen möglichen gesellschaftlichen und politischen, auch wirtschaftlichen und kulturellen Ebenen passieren - zum einen selbstverständlich von Seiten des türkischen Staates, aber auch in der türkischen Zivilgesellschaft, die sich mit ihren Institutionen und Persönlichkeiten viel stärker für eine Beilegung des Konflikts engagieren müsste; zum zweiten von Seiten internationaler Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen, die den Dialog schon lange fordern und zu befördern versuchen; zum dritten muss der Impuls von europäischer Seite erheblich verstärkt werden, insbesondere im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen - und nicht zuletzt auch von Seiten der Bundesrepublik Deutschland, wo viele Kurden leben, die der Repression in der Türkei entflohen sind. Gerade die Bundesrepublik mit ihrem hohen Anteil türkischer und kurdischer Bewohner ist gefordert, endlich politische Initiativen zu ergreifen und den offenen und kritischen Dialog mit der kurdischen Seite auch hierzulande zu fördern - und zwar ohne Stigmatisierung, Kriminalisierung, Ausgrenzung und Berührungsängste, wie wir sie leider immer noch erleben.

Frage: Denken Sie, dass die EU in dieser Phase eine positive Rolle übernehmen kann?

Rolf Gössner: Die kurdische Frage, überhaupt die Minderheitenfrage sowie die Menschenrechtsfrage sind und bleiben die Schlüsselfragen eines EU-Beitritts der Türkei. Dabei geht es nicht zuletzt um eine gesamteuropäische Aufgabe. Deshalb ist der Einfluss der EU im Laufe der Beitrittsverhandlungen ein so wichtiger Faktor für eine friedliche und politisch gerechte Lösung und damit auch für die Menschenrechtsentwicklung in der Türkei - so sehen es auch die wichtigsten türkischen Menschenrechtsorganisationen -, auch wenn dieser Wandel höchst widersprüchlich verläuft und möglicherweise ein Generationenprojekt ist. Die EU ist jedenfalls aufgefordert, die Kurden- und Minderheitenfrage endlich mit Nachdruck auf die Agenda der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu setzen, um ein Ergebnis zu erzielen, das der kurdischen Bevölkerung und anderen Minderheiten endlich sämtliche Menschenrechte und politisch-kulturelle Gleichberechtigung garantiert. An den Verhandlungen müssen dann aber auch Repräsentanten der betroffenen Minderheiten beteiligt werden, wenn eine ernsthafte demokratische Lösung gefunden werden soll. Es geht im Übrigen schon lange nicht mehr um einen eigenen kurdischen Staat, also um Separation, sondern um ein innertürkisches Arrangement und damit um gleichberechtigte Partizipation.

MERAL ÇIÇEK / HABER MERKEZI, © Yeni Özgür Politika
www.yeniozgurpolitika.org


Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Vizepräsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte", Berlin (www.ilmr.de).
Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen. Mitherausgeber des "Grundrechte-Reports" (www.grundrechte-report.de). Autor zahlreicher Sachbücher zu Bürger- und Menschenrechtsthemen, zuletzt: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der "Heimatfront", Hamburg 2007.
Internet: www.rolf-goessner.de

Kontakt:
Meral Cicek
YENI ÖZGÜR POLITIKA
Hans-Böckler-Str. 16, D-63263 Neu Isenburg
meralcicek@yeniozgurpolitika.org
www.yeniozgurpolitika.org


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Quelle:
InternationaIe Liga für Menschenrechte
mit freundlicher Genehmigung von Meral Çiçek und Dr. Rolf Gössner
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
Tel.: 030 - 396 21 22, Fax: 030 - 396 21 47
E-Mail: vorstand@ilmr.de
Internet: www.ilmr.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2009