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EUROPA/744: Wahlbeobachtung - Kommunalwahlen in der Türkei 2009 (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 47 - Frühling 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Kommunalwahlen in der Türkei 2009
Bericht einer Wahlbeobachtung

Von Martin Dolzer


Unsere Wahlbeobachtungsdelegation hielt sich vom 26. März bis zum 1. April in den kurdischen Provinzen der Türkei auf. Wir besuchten die Städte Diyarbakir und Batman und die Provinz Bitlis. Während der Wahlen hielten wir uns in der Provinz Bitlis, in Bitlis Stadt, in Tatvan und in Norsin/Güroymak auf.


Bei der Kommunalwahl 2009 sackte die Regierungspartei AKP im Vergleich zur Parlamentswahl vor zwei Jahren um acht Prozent ab und erhielt nur noch 38,4 % der Stimmen. Die pro-kurdische, sozialistische Partei DTP (Demokratische Gesellschaftspartei) erreichte trotz massiver Einschüchterungsversuche und Wahlbetrug in mehreren Provinzen der Region Kurdistan, 99 Bürgermeister sowie Stadt- und Gemeindeposten (gegenüber 58 bei den letzten Kommunalwahlen) zu stellen.


Wahlergebnisse

Türkeiweit erhielt die Partei 5,72 % der Stimmen und wurde somit die viertstärkste und einzig bedeutende linke Kraft. Besonders der Gewinn der Wahlen in Diyarbakir und der zweiten Metropole der Region, Van, sowie in den - stark vom Krieg betroffenen - Städten Sirnak und Hakkari (mit 87 %) ist dabei von großer Bedeutung. Auch die hinzugewonnenen Stadtverwaltungen in Tatvan und Norsin sowie in Siirt und einzelnen Gemeinden der Provinz Bingöl bedeuten für die Bevölkerung die Möglichkeit, eine der Assimilationspolitik des türkischen Staates entgegenwirkende, unabhängige, basisorientierte Politik zu gestalten. Für die Menschen bietet das zudem die Chance, sich in der Auseinandersetzung um Grund- und Freiheitsrechte sowie um kulturelle Selbstbestimmung weitergehend zu entfalten. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Verstöße gegen die Menschenrechte wie Morde unbekannter Täter, Verschwindenlassen und weitere Formen der Repression innerhalb des letzten Jahres insgesamt zugenommen haben, ist das wichtig.


Menschenrechte und politische Kontrolle

Dem Menschenrechtsverein IHD wurden 2008 allein 1546 Fälle von Folter die höchste Anzahl seit über 10 Jahren angezeigt. Gegenüber den 678 Fällen im Vorjahr ist diese Entwicklung mehr als bedenklich. In Städten wie Diyarbakir, der Metropole der Region, lebt die Bevölkerung mittlerweile selbstbewusst und ohne ständige Angst um die Unversehrtheit des eigenen Lebens. In kleineren Städten, in strategisch wichtigen Regionen drangsalieren Militär, Polizei und Geheimdienst die Bevölkerung durch psychologische Kriegsführung in Form von Bedrohungen und Folter bis hin zu extralegalen Hinrichtungen. Für politisch oder menschenrechtlich Tätige ist das auch in den o.g. Metropolen der Fall. Die Unterdrückung wird mittlerweile unauffälliger und weniger martialisch umgesetzt, die Repressionsorgane sind häufig von deutschen Polizeikräften geschult.

Besonders die AKP versuchte bereits im Vorfeld der Wahlen durch Bestechung, Einschüchterungsversuche sowie die zusätzliche Verlegung von Polizei und Militärkräften in umkämpfte Bezirke, die Wahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Während den Wahlen kam es zu gravierenden Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug. Regionale und internationale Wahlbeobachter berichten von der Postierung von Schützenpanzern und Polizeifahrzeugen direkt vor den Wahllokalen in den Provinzen Sirnak, Bitlis, Bingöl und Hakkari. Schwerbewaffnete Sondereinsätzkräfte des Militärs sowie der Polizei in Uniform und Zivil postierten sich vor und in Wahllokalen. An einigen Urnen wurden Wahlzettel der DTP vernichtet.

Die Delegationen berichten zudem von teils schwerwiegenden Behinderungen ihrer Arbeit. So nahmen Sonderkommandos der Polizei in Agri, nördlich des Vansees eine von der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Die Linke) entsandte Delegation für mehrere Stunden fest. Dabei wurde Bildmaterial vernichtet, das beweist, dass die Polizei Basarstände in Brand setzte.


Gewalttätig vollstreckter Wahlbetrug

Laut offiziellem Ergebnis hatte die AKP die Wahl in Agri mit einem Vorsprung von 2000 Stimmen gewonnen. Es wurde jedoch aufgedeckt, dass die Wahlkommission 3000 Stimmen der DTP ohne ersichtlichen Grund für ungültig erklärt hatte. Die beantragte Wahlwiederholung oder Neuauszählung der Stimmen wurde in erster Instanz von der Wahlkommission zurückgewiesen. Auf Proteste der Bevölkerung, die über Tage anhielten, reagierte die Polizei mit brutaler Gewalt. Dutzende Personen wurden verletzt, etwa 100 verhaftet. Viele von ihnen sind nach Berichten ihrer AnwältInnen in der Haft Folter und Misshandlungen ausgesetzt.

Auch im Stadtzentrum von Mardin wurde gegen nachgewiesenen Wahlbetrug Einspruch eingelegt, über den bisher nicht entschieden wurde. Im Zentrum von Bingöl wurden Stimmen der DTP teilweise anderen Parteien zugeschrieben. 1800 Stimmen aus einem anderem Ort wurden hier für die Bürgermeisterwahl im Zentrum benutzt. Einige Tage nach der Wahl wurden zwei Menschen bei einer Demonstration für PKK-Führer A. Öcalan nahe Urfa von der Polizei getötet. Die weitgehend gleichgeschaltete deutsche Presse schweigt seit Jahren über derartige Vorfälle.


Auswege aus dem türkisch-kurdischen Konflikt

Die Politik der DTP basiert auf einem dezentralisierten, an den Interessen der Menschen in den sehr unterschiedlich entwickelten Regionen orientierten Organisationsmodell und einer Kommunalpolitik, die an wesentlichen Problemfeldern, wie z.b. der Strom- und Wasserversorgung, der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens, dem Ausbau der regionalen Infrastruktur und Ökonomie sowie der Förderung der Selbstorganisation und genossenschaftlicher Betriebe ansetzt.

Die DTP arbeitet in ständiger Dynamik daran, feudalistische Strukturen aufzubrechen und die Gleichberechtigung der Frauen voranzutreiben. Zur Lösung des seit 2005 seitens der Türkischen Regierung erneut militärisch eskalierten Türkisch-Kurdischen Konflikts schlägt die DTP einen beidseitigen Waffenstillstand zwischen Militär und PKK vor. Sie sieht in einem konfliktheilenden Weg, wie er z.B. in Südafrika und mehreren Südamerikanischen Staaten beschritten wurde, einen Ausweg. Im Verlauf dieses Prozesses soll die rassistische Unterdrückung der Kurden durch Staat und Militär überwunden und die Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte, z.b. durch die Arbeit von Wahrheitskommissionen, aufgearbeitet werden.

Ca. 17.000 Menschen wurden im Verlauf des Konflikts staatlicherseits von Unbekannten Tätern ermordet, mehrere Zehntausende gefoltert, den KurdInnen kontinuierlich soziale, ökonomische und Grundrechte verweigert.


Martin Dolzer ist Projektmitarbeiter des Hamburger Bundestagsabgeordneten Prof. Dr. Norman Paech (Die Linke).


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 47 - Frühling 2009, Seite 54-55
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2009