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EUROPA/756: Türkei - Religionspolitik ist macht- und tagespolitisch bestimmt (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 7/2009

Künftig etwas islamischer?
Die Religionspolitik der Türkei ist macht- und tagespolitisch bestimmt

Von Otmar Oehring


Von einer einheitlichen Religionspolitik der Türkei lässt sich nicht sinnvoll sprechen. Spätestens aber in der Schlussphase der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union werden sich alle politischen Akteure einschließlich der Armee eindeutig äußern müssen.


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Es ist nicht einfach, die Religionspolitik der Türkei zu beschreiben, schlicht, weil es die Religionspolitik der Türkei nicht gibt. Das hängt damit zusammen, dass es in der Türkei nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe politisch relevanter Akteure gibt, die eine Religionspolitik haben: Den Staat als solchen, die jeweilige Regierung, die Parteien, die die Regierung stellen und - im Fall Türkei auf keinen Fall zu vernachlässigen - die Armee.

Die Türkei wird leichtfertig immer als säkularer Staat beschrieben, tatsächlich ist sie das aber nur ausweislich der einschlägigen Verfassungsnormen. Gemäß Artikel 2 der türkischen Verfassung vom 18. Oktober 1982 ist die "Republik Türkei (...) ein (...) laizistischer Rechtsstaat". Das Verfassungsprinzip "laiklik" - im allgemeinen mit "Laizismus" übersetzt - hat 1937 Eingang in die türkische Verfassung von 1924 gefunden. Was in der Republik Türkei eigentlich unter "Laizismus" zu verstehen ist, ergibt sich aus der Präambel der Verfassung von 1982, wonach aufgrund der Erfordernisse "des Prinzips Laizismus (...) heilige religiöse Gefühle (...) auf keine Weise mit den Angelegenheiten der Politik und des Staates vermischt werden".


Das türkische Verfassungsprinzip "Laizismus" ist ausgehend vom französischen Vorbild der "laicité", der Trennung von Kirche und Staat durch die Französische Revolution entwickelt worden. Allerdings ist das Laizismusprinzip der türkischen Verfassung weiter gefasst als sein französisches Vorbild. "Zusammen mit dem Nationalismusprinzip" (milliyetcilik) soll es "die Funktion" übernehmen, "sich ideologisch gegen eine Religion - den Islam - durchzusetzen, die im Verdacht steht, mit der republikanisch-säkularen Struktur des modernen türkischen Staates nicht in Einklang zu stehen und die Rückkehr zu[r] Einheit von Staat und Religion zu fordern". Das türkische Verfassungsgericht definiert "Laizismus" als "eine zivilisierte Lebensform, die die Grundlage für ein Freiheits- und Demokratieverständnis, für die Unabhängigkeit, die nationale Souveränität und das humanistische Ideal bildet, die sich mit der Überwindung des mittelalterlichen Dogmatismus zugunsten des Primats der Vernunft und einer aufgeklärten Wissenschaft entwickelt haben". Weiter stellt das Verfassungsgericht fest, dass "in der laizistischen Ordnung (...) die Religion von der Politisierung befreit, als Führungsinstrument verdrängt und ihr der richtige und ehrenvolle Platz im Gewissen der Bürger zugewiesen" wird. Soweit die Verfassungstheorie, die schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Verfassung von 1982 mit der Wirklichkeit in der Türkei kaum etwas zu tun hatte.


Religion beziehungsweise die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Religion hat seit der Republikgründung in der Türkei nicht nur eine wichtige, sondern eine zentrale Rolle in der politischen Auseinandersetzung gespielt. Schon die Reformen der Frühzeit der Türkischen Republik machen dies deutlich. Ziel der Väter der Türkischen Republik um den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war es, aus einem islamischen Staat eine zeitgenössische Zivilisation zu machen, die ihre Grundlagen nicht in einer bestimmten Religion haben sollte.

Zentral waren dabei die Abkehr vom Islam als der Grundlage für das Rechts- und das Erziehungswesen und die Neugestaltung dieser Bereiche unter Bezugnahme auf Beispiele aus Europa. Ungeachtet dessen nennt die erste republikanische Verfassung von 1924 noch den Islam als Staatsreligion der Türkei und die Inkraftsetzung von Scheriatbestimmungen als Hauptaufgabe der Großen Nationalversammlung.

Die Verfassung von 1982 kennt keine Staatsreligion mehr und beschreibt die Gesetzgebung als Hauptaufgabe der Abgeordneten. Allerdings war das Scheriatministerium bereits 1924 durch die Direktionen für religiöse Angelegenheiten und fromme Stiftungen ersetzt worden. Ebenso wurden das vom Islam beeinflusste Recht bereits 1924 durch säkulares Recht ersetzt und die Scheriatgerichte abgeschafft.

Das Laizismusprinzip selbst fand erst 1937 Eingang in die Türkische Verfassung. Seine institutionelle Absicherung erfährt es gemäß Artikel 136 der Verfassung von 1982 durch das Präsidium für Religionsangelegenheiten, das seine Aufgaben "im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie gerichtet auf die nationale Solidarität und Integration" erfüllt. Damit hat der Staat seine ursprüngliche Position aufgegeben. Denn statt die Religion lediglich zu kontrollieren, hat er den Islam in der Türkei in eigene Regie übernommen und verwaltet ihn. Damit ist das Prinzip des der Religion gegenüber neutralen Staates durchbrochen worden. Die Türkei ist damit ansatzweise zu einer "islamischen" oder besser "sunnitischen Republik" geworden, wobei weitere Konsequenzen lediglich durch die Überordnung der Verfassungsnorm "Laizismus" verhindert werden.


Plant die AKP den Umbau der Türkei zu einem islamischen Staat?

Seit dem Amtsantritt der ersten von der islamisch geprägten AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) geführten Regierung im Jahr 2002 behaupten ihre Gegner, namentlich das alte Establishment um die CHP (Republikanische Volkspartei) und die Armee, die sich selbst als Wahrer des laizistischen Erbes Atatürks verstehen, die aus ihrer Sicht nicht nur islamisch geprägte, sondern islamistische AKP versuche dem Staat ihren eigenen Stempel aufzudrücken und ihn zu einem islamischen Staat umzubauen. Dabei bediene sie sich der "takkiye", das heißt sie mache nicht der Wahrheit entsprechende Aussagen, die aber erlaubt sind, um ein islamisches Ziel zu erreichen.


Richtig ist, dass die AKP, wie alle Regierungsparteien vor ihr, ihre Möglichkeiten genutzt hat, wichtige Schaltstellen im Staatsapparat mit eigenen Leuten zu besetzten. Unterstellt man nun, diese Gefolgsleute der AKP seien alle Islamisten, muss man natürlich mit dem Schlimmsten rechnen. Zudem muss die AKP-Regierung, anders als dies im Falle der zahlreichen Koalitionsregierungen der sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts der Fall war, keine Rücksicht auf einen Koalitionspartner nehmen. Bülent Ecevit etwa, Schöngeist und Prediger des "demokratischen Sozialismus", musste als Ministerpräsident seinem Vize Necmettin Erbakan, definitiv ein Islamist, der 1997 - mittlerweile zum Ministerpräsident avanciert - von den Militärs aus dem Amt gezwungen wurde, massive Zugeständnisse machen.

Gerade diese um des Machterhalts willen notwendige Rücksichtnahme war es aber, die damals zu Entwicklungen geführt hat, die man aus heutiger Sicht wohl voreilig damit erklären würde, dass die AKP eben eine islamistische Partei sei. Ein Blick auf die Entwicklung der Imam- und Predigerschulen in den letzten Jahrzehnten, die immer wieder als Brutstätte des türkischen Islamismus und vieler Kader der AKP beschrieben werden, mag dies veranschaulichen.

Mit den Reformen der frühen Jahre der Türkischen Republik wurde sukzessive auch der Religionsunterricht aus allen Schulstufen verbannt und erst in den frühen achtziger Jahren wieder von der Militärjunta als Pflichtfach eingeführt. Damit benötigte der Staat lange Zeit keine Religionslehrer mehr. Für die Ausbildung von Religionsdienern (Imamen und Predigern) wurden ab 1949 zehnmonatige Ausbildungskurse angeboten, deren Teilnehmer die Mittelschule absolviert und ihren Militärdienst abgeleistet haben mussten.

Nach den ersten demokratischen Wahlen 1950 kam die Demokratische Partei unter Ministerpräsident Adnan Menderes an die Macht. Sie begann sofort mit der Umsetzung eines Wahlversprechens, dem Aufbau von Imam- und Predigerschulen (Imam Hatip Okullari), für die zwei aufeinander aufbauende Ausbildungszyklen von insgesamt sieben Jahren vorgesehen waren, die sich an die zunächst vierjährige, später fünfjährige Grundschule anschlossen. Existierten im Schuljahr 1951/52 Imam- und Predigerschulen in sieben Provinzen, gab es sie im Schuljahr 1970/71 bereits in 72 Provinzen. Ab 1963/64 folgten die ersten Imam- und Predigerschulen mit angeschlossenem kostenlosen Internat.

Eine politisch bedeutsame Entscheidung ergibt sich aus einem Runderlass vom 22. Mai 1972, demzufolge der zweite vierjährige Ausbildungszyklus der Imam- und Predigerschulen zur Berufsschule umgewidmet wurde. 1973 wurden diese Berufsschulen zu Imam- und Predigergymnasien, deren Abschlüsse den Zugang zu den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten eröffneten. Die Koalition der linken Republikanischen Volkspartei und der islamistischen Nationalen Heilspartei beschloß 1974 die Wiedereröffnung der Imam- und Predigermittelschulen und erhöhte die Zahl der Imam- und Predigergymnasien auf 101. Ab 1976 mußten diese Schulen dann aufgrund eines Urteils der Verwaltungsgerichtshofes auch Mädchen aufnehmen.


In den Jahren 1975 bis 1978 - die islamistische Nationale Heilspartei war an mehreren Koalitionsregierungen beteiligt - wurden insgesamt 230 neue Imam- und Predigerschulen eröffnet. Diese Entwicklung wurde durch den Militärputsch vom 12. September 1980 zunächst unterbrochen. Die Militärs, die dem Spuk der Islamisten ein Ende bereiten wollten, glaubten nicht nur durch die Einführung staatlicher Korankurse den illegalen Korankursen das Wasser abgraben zu können - ein totaler Irrtum, wie man heute weiß. Durch eine Änderung im Gesetz über die Schulbildung (Temel Em Kanunu) eröffneten die Militärs den Absolventen der Imam- und Predigergymnasien zudem den - später wieder eingeschränkten - unbeschränkten Zugang zu allen wissenschaftlichen Hochschulen, wogegen die linken und liberalkonservativen Parteien immer gekämpft hatten. Das dritte Kabinett des liberalkonservativen Mesut Yilmaz (30. Juni 1997 bis 11. Januar 1999) versuchte durch eine grundlegende Schulreform, mit der eine achtjährige allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, dem Schulzweig "Imam- und Predigerschulen" endgültig den Garaus zu machen, da durch die Schulrefom die Imam- und Predigermittelschulen de facto aufgelöst wurden.

Waren vor der Reform an den mittlerweile 601 Imam- und Predigerschulen (verschiedener Schulstufen) mit 512000 Schülern (193000 auf Gymnasien, 319000 auf Mittelschulen) 19000 Lehrer tätig, nahm infolge der Schulreform die Zahl der Imam- und Predigerschulen (Gymnasien) bis zum Schuljahr 2002/2003 auf 450, die Zahl der Schüler auf 65000 ab.


Religionspolitik ist Parteipolitik und Tagespolitik

Das Beispiel der Imam- und Predigerschulen zeigt deutlich, dass es in der Türkei in den letzten vierzig Jahren keine eindeutige Religionspolitik gegeben hat, eine solche sich auch nicht entwickeln konnte. Religionspolitik ist Parteipolitik und vor allem Tagespolitik. Und die wird nicht zuletzt auch vom Willen zum Machterhalt bestimmt. Wenn die Türkei in den letzten vierzig Jahren tatsächlich islamischer geworden sein sollte, dann ist dies weniger den islamisch geprägten beziehungsweise Islamistischen Parteien anzulasten, als den liberalkonservativen und (ehemals) linken Parteien, die um des Machterhalts willen in Koalitionsregierungen den islamisch geprägten beziehungsweise islamistischen Koalitionspartnern entsprechende Zugeständnisse gemacht haben.

Selbst die Armee, von der man erwarten sollte, dass sie eine eindeutige und beständige Religionspolitik verfolgen würde, hat ihre Religionspolitik immer wieder den Rahmenbedingungen der sich rasant entwickelnden und vor allem wandelnden türkischen Gesellschaft angepasst. Die Armee mag sich weiterhin als Speerspitze im Kampf gegen die islamische Reaktion verstehen. Tatsächlich hat sie durch Fehleinschätzungen politischer Umstände und Entwicklungen nicht selten Entscheidungen getroffen und umgesetzt, die genau das Gegenteil dessen befördert haben, was sie eigentlich beabsichtigte.

Als Beispiel dafür kann man das Thema Religionsunterricht genauso anführen wie die Entwicklung der Imam- und Predigerschulen. Der Gedanke, durch die Wiedereinführung von Religionsunterricht als Pflichtfach und der Neueinführung von staatlich kontrollierten Korankursen illegaler religiöser Unterweisung jenseits staatlicher Kontrolle das Wasser abzugraben, mag einleuchtend erscheinen. Tatsächlich lassen sich Angebote illegaler religiöser Unterweisung jenseits staatlicher Kontrolle nur dann unterbinden oder wenigstens beschränken, wenn man die hierfür erforderlichen polizeilichen Maßnahmen ergreift oder doch zumindest dafür sorgt. Das ist aber nur in den Jahren der Militärherrschaft nach dem Putsch von 1980 geschehen.


Auch im Hinblick auf das mindestens genauso bedenkliche, weitgehend freie Agieren islamischer Orden (Nak¸sibendis, Mevlevis und viele andere) und neuer islamischer Bewegungen (Nurcus, Süleymancis, Fethullah Gülens Jünger) hat das Militär seinen Einfluss nicht wirklich genutzt, dafür zu sorgen, dass bestehende Verbote auch tatsächlich umgesetzt werden. Diese Orden und Bewegungen agieren, gleichwohl mit einem durch die Verfassung garantierten Verbot belegt, weitgehend frei, erfreuen sich bester Kontakte in die Politik und den Sicherheitsapparat und mehren ihren Einfluss durch rege Geschäftstätigkeit.

Deutlich wird die religionspolitische Position der Armee jedes Jahr anlässlich der unehrenhaften Entlassung einer seit Jahren zunehmenden Zahl islamistischer Umtriebe verdächtiger Offiziersanwärter aus der Armee. Deutlich wird die religionspolitische Position der Armee auch anlässlich regelmäßiger mündlicher Äußerungen der Generalstabschefs der Armee und der Teilstreitkräfte zum Thema "Reaktion", womit islamistische Umtriebe, aber auch die AKP und die von ihr geführte Regierung gemeint sind. Deutlich wurde die religionspolitische Position der Armee schließlich 2008 im Zusammenhang mit dem erfolglosen Versuch der Verhinderung der Wahl des damaligen AKP-Außenministers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten der Türkei, eine Auseinandersetzung, aus der die Armee geschwächt hervorgegangen ist.


Zum Thema Religionspolitik müssen sich alle politischen Akteure in der Türkei - auch die Armee - spätestens dann eindeutig äußern, wenn in der Schlussphase der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union die Kompatiblität der Türkei mit den Kopenhagener politischen Kriterien zu prüfen sein wird. Bislang hat sich Brüssel noch nicht daran gewagt die Büchse der Pandora zu öffnen und von der Türkei ein klares Bekenntnis zu einer Religionspolitik einzufordern, die mit dem Verständnis von Religionsfreiheit konform ist, wie es Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention innewohnt.

Im Ergebnis würde ein solches Vorgehen wohl sowohl die politischen Akteure in der Türkei wie auch in der Europäischen Union überfordern. Da dem so ist, wird sich die Religionspolitik in der Türkei noch auf absehbare Zeit vor allem am Willen politischer Akteure zum Machterhalt und damit an der Tagespolitik orientieren. Dass die Türkei damit noch ein Stück islamischer werden könnte, ist nicht auszuschließen.


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Dr. Otmar Oehring (geb. 1955) ist seit 2001 Leiter der Fachstelle Menschenrechte von Missio in Aachen; seit 1983 war er Referent und später Referatsleiter in der Auslandsabteilung des Internationalen Katholischen Missionswerkes. Oehring, der lange Jahre in der Türkei lebte, ist unter anderem auch Mitglied des Beratungsgremiums des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 7, Juli 2009, S. 368-371
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2009